Radikalisierung

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Farhad Khosrokhavar

Radikalisierung


Farhad Khosrokhavar, geboren in Teheran, französisch-iranischer Soziologe, ist Studienleiter an der EHESS (École des Hautes Études en Sciences Sociales) und Forscher am Centre d’analyse et d’intervention sociologique (CADIS, EHESS-CNRS).

Seine Forschung konzentriert sich auf die Soziologie des modernen Iran, die sozialen und anthropologischen Probleme des Islam in Frankreich sowie die Philosophie der Sozialwissenschaften.

Farhad Khosrokhavar

Radikalisierung

Aus dem Französischen übersetzt

von Stefan Lorenzer

CEP Europäische Verlagsanstalt

Titel der Originalausgabe: Farhad Khosrokhavar, Radicalisation

© Éditions de la Maison de sciences de l’homme, 2014

Zusätzliche Texte:

Einleitung 2015 „Wer radikalisiert sich?“: © sciences humaines, November 2015

Weiblicher Dschihadismus im heutigen Europa: © Farhad Khosrokhavar, 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ebook-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2016

Aus dem Französischen übersetzt von Stefan Lorenzer

Umschlagfoto © Stefan Brändle

Lektorat: Elke Habicht

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher „Europa“, 1945

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung

(auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger

oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe

(auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.

ISBN 978-3-86393-530-6

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Vorwort von Claus Leggewie

Einleitung: Wer radikalisiert sich?

Bedeutung und Tragweite des Begriffs der Radikalisierung

Ein Minderheitenphänomen

Der Begriff der Radikalisierung in den Sozialwissenschaften

Geschichte der Radikalisierung

Die „Assassinen“ – Anfänge der Radikalisierung

Der anarchistische Terror im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert

Die linksextreme Gewalt der 1970er und 1980er Jahre: Rote Brigaden, Rote Armee Fraktion und Action directe

Die Entwicklungsphasen von al-Qaida und das Wiedererstarken des Dschihadismus mit den arabischen Revolutionen

Islamistische Radikalisierung in der muslimischen Welt

Schiitische und sunnitische Radikalisierung: Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Radikalisierte Frauen – eine extreme Minderheit

Die dschihadistische Intelligenz und ihre Globalisierung

Das Netz

Wer finanziert die Radikalisierung?

Orte der Radikalisierung

Die zweideutige Rolle der Frustration im Prozess der Radikalisierung

Das europäische Modell der Radikalisierung

White Trash

Der radikale Islamist

Der viktimisierte Jugendliche

Der Wille, in der Mittelschicht aufzugehen, und seine Folgen für die Ausgeschlossenen

Die Kriminalität, der Hass und seine Sakralisierung

Der sektiererische Weg

Die heilige Gewalt und der Status des negativen Helden

Von den alten zu den neuen Radikalisierten

Der Typus des introvertierten Dschihadisten

Die Selbstradikalisierung des Einzelnen

Vom Präradikalisierten zum Hyperradikalisierten

Radikalisierungstypen

Die Rolle des Fundamentalismus im Prozess der Radikalisierung

Der Salafismus: Eine neue Ausprägung des Sektierertums im Islam

Radikalisierung im Gefängnis

Frustration im Gefängnis

Die muslimischen Gefängnisgeistlichen und ihre schwierige Mittlerrolle

Die Radikalisierung in der Haft und ihre Akteure

Ein neuer Radikalismus auf dem Vormarsch

Radikalisierung versus Deradikalisierung

Weiblicher Dschihadismus

Schlusswort

Literatur

Claus Leggewie

Vorwort zu Radikalisierung von Farhad Khosrokhavar

Die Kulturwissenschaften sind entstanden und haben ihre besten Momente in jenen Zeiten, in denen die Welt aus den Fugen zu geraten scheint und sich Phänomene zeigen, die schwer in jenen „sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ (Alfred Schütz) passen, den man „normalerweise“ für garantiert hält. Eine solche Irritation produziert seit Jahrzehnten der Terror, der zuletzt von islamistischen Gruppen ausgeht. Woher kommt die mörderische Entschlossenheit, wahllos Wehrlose abzuschlachten? Wie kann es sein, dass jemand sein eigenes Leben dafür opfert? Wie ist es möglich, dass sich säkular-agnostische Menschen zu einer Spielart von Religion bekehren, die den barbarischen Dschihad zum Markenkern erhoben hat? Warum lassen sich Konvertiten als Selbstmord-­attentäter verheizen, und warum sind unter ihnen junge Frauen, die sich einem brutalen Patriarchat unterwerfen müssen? Warum verlassen junge Leute die westliche Konsumkultur, warum schlagen muslimische Einwanderer diese so radikal aus?

Über solche Fragen wird auf Podien und in Talkshows spekuliert, akademische Kreise werfen ihre Ableitungsmaschine an, um irritierende Anomien sozialpsychologisch und sozialstrukturell auf nachvollziehbare Ursachen zurückzuführen. Da das oft zu unzulässigen Generalisierungen oder hilflosen Gemeinplätzen führt, ist die genaue Beschreibung eines Einzelfalls gegeben. Denn in Hunderten von Fällen haben gleiche oder ähnliche Voraussetzungen alles andere als Terrorismus produziert. Beweggründe und Wirkungen des von Dschihadisten ausgelösten Schreckens kann man auch (und manchmal besonders gut) verstehen, wenn man seinen subjektiven, also je individuellen und inkommensurablen Bedingungen nachgeht. Das ist keine kulturwissenschaftliche Fingerübung, sondern die methodische Beobachtung von Gegnern, ja erklärten Feinden, die mit ihren Mordtaten ganze Gesellschaften aus dem Gleichgewicht bringen wollen.

Farhad Khosrokhavar unternimmt diesen Versuch. Der 1948 im Iran geborene und seit Ende der 1960er Jahre in Frankreich tätige Soziologe ist Studiendirektor des von Alain Touraine initiierten Centre d’Analyse et d’Intervention Sociologiques an der renommierten Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris und hat schon diverse Studien über die (unter anderem dschihadistische) Radikalisierung junger Leute erarbeitet. Zugute kommen ihm dabei zum einen seine philosophische Ausbildung als an Husserl und Heidegger geschulter Phänomenologe und zum anderen Erfahrungen, die er bei einem Intermezzo im Iran der Islamischen Revolution gemacht hat. Aus seinen Feldbeobachtungen und Fallstudien in Frankreich ergibt sich eine Wirkungskette, die im depravierten Leben in den Vorstädten startet und über die jugendliche Kleinkriminalität (Schwarzfahren, Drogenhandel, Stehlen) und das Gefängnis in den Kriegstourismus und nach der Rückkehr zum Dschihad im Westen führt. Wie gesagt: bei einigen, und nicht notwendigerweise. Wut und Frustration sind in der Banlieue weit verbreitet, aber die bis zum Dschihad führende Radikalisierung ist ein “ultraminoritäres Phänomen”.

 

Fehlt hier etwas? Nicht unbedingt muss Religion, genauer: eine radikal einseitige Auslegung des Islam als Treiber individueller und kollektiver Radikalisierung hinzukommen – der Weg in den Terror kann, muss aber nicht über die Moschee führen. Bei immer mehr „ausländischen Kämpfern“ und Attentätern stellt man nur ganz oberflächliche Berührungen mit der Religion fest; der Islam beeindruckt eher eine nicht unbeträchtliche Zahl überangepasster Konvertiten.

Was für die meisten Täter hingegen zutrifft, ist eine soziale Isolation und Frustration, deren Ursprungsort oft eine dysfunktionale Familie ist. Eine ultramilitante Aggressivität ist für viele Kämpfer der Weg, endlich Bedeutung zu erlangen, ihrem Leben einen Sinn zu geben, sich in der Welt bemerkbar zu machen. Auf diese Weise, zeigt Farhad Khosrokhavar, imagnieren sie einen sozialen Aufstieg, den ihnen die alteingesessene, aber auch die eingewanderte Mittelschicht verweigert. Bei allen Unterschieden sind sie damit den Anhängern des Front National ähnlich, die sich ebenso abgehängt und fremd fühlen.

Revanchegelüste und Ressentiments spielen dabei eine enorme Rolle, und genau hier tritt die funktionale Rolle des religiösen Universums auf den Plan, das die weltumspannende islamische Umma verheißt. Mit einem Mal sind alle Unklarheiten und Unreinheiten des modernen Lebens und der eigenen Vergangenheit beseitigt, mit einem Mal bietet sich eine trennscharf strukturierte Welt, die Gut und Böse scheidet. Obwohl die Mudschahedin unsagbar Unrechtes vorhaben und ausführen, fühlen sie sich als Gerechte, die den Terror der anderen rächen, ob das arabische Diktatoren wie Assad sind oder die amerikanischen Invasoren im Irak.

Khosrokhavar hat gut daran getan, diese aktuelle Radikalisierungstendenz historisch einzuordnen. Da sind in der Geschichte der islamischen Welt die Assassinen, eine religiöse Sekte, die zwischen dem Ende des 11. Jahrhunderts und der Mitte des 13. Jahrhunderts in Persien und in Syrien Mordattentate auf politische Gegner verübte. Sie wurden „Opferbereite“ genannt, weil sie bei diesen Aktionen oft den Tod fanden. Der Autor streift die anarchistischen Propa­gandisten der Tat im 19. und 20. Jahrhundert und analysiert dann eine delinquente Subkultur in den reichen Ländern (Westeuropa, USA, Japan), die in den 1960er und 1970er Jahren auf (weniger depravierte und Abenteuer suchende) Jugendliche Eindruck machte. Damals war ein Auslöser der opferreiche Krieg in Südostasien gegen Befreiungsbewegungen, deren Bekämpfung entschiedene Gegengewalt gerechtfertigt erscheinen ließ. Damit sollen ungleiche Phänomene nicht gleichgesetzt werden, aber es soll unterstrichen werden, dass Radikalisierung und ihre Begleiterscheinungen (Gehirnwäsche, Paranoia) nicht auf religiöse Fanatiker beschränkt bleiben. Allerdings können sie aus säkularen Zielsetzungen solche machen, die mit quasi-religiöser Inbrunst und Einäugigkeit verfolgt werden.

Wer dafür anfällige Personenkreise von Radikalisierung abhalten und Kämpfer, die dem Wahnsinn auf den Schlachtfelder Syriens und des Irak entronnen sind oder hier zu Lande zu Attentaten fähig wären, deradikalisieren möchte, sollte Farhad Khosrokhavars Studie aufmerksam lesen. Bei aller Einzigartigkeit der Einzelfälle produziert die Soziologie ein Inventar von Radikalisierungsvarianten, die man ergründen kann. Khosrokhavar untersucht reale und virtuelle Entstehungsorte, Finanzierungsquellen und die Rolle des Salafismus. Dabei zeigt sich, dass zwischen dem französischen und deutschen Milieu der Radikalisierung neben vielen Gemeinsamkeiten auch bedeutsame Unterschiede bestehen, deren Herausarbeitung diese instruktive und gut lesbare Studie ermöglicht. Da ist zum einen der, wie Khosrokhavar darlegt, zunehmend kontraproduktive Laizismus der französischen Republik im Vergleich zu einem in Deutschland praktizierten Multikulturalismus, zum anderen die Prävalenz eines kolonialen Antagonismus, der weit ins 19. Jahrhundert zurückdatiert und im Algerienkrieg eine immer noch nicht aufgearbeitete Hypothek hat.

Deutschland, Frankreich und der Rest der Welt müssen sich gemeinsam gegen eine immense Gefahr zur Wehr setzen, die nicht mehr von irgendwelchen Tora-Bora-Kommandozen-­tralen weit weg angeordnet wird, sondern mitten unter uns grassiert. Sie auszuschalten und zu überwinden, wird Jahre und Jahrzehnte dauern. Beginnen sollte man damit, dass man auch Phänomene, die sich einem sinnhaften Aufbau der sozialen Welt so drastisch zu widersetzen scheinen, zu verstehen und zu durchdringen sucht.

Wer radikalisiert sich?

Wer radikalisiert sich? Warum? In welchen Prozessen? In Frankreich lassen sich zwei Gruppen mit ganz unterschiedlichen Antrieben ausmachen. Die eine kommt aus den Vorstadtgettos und hat oft schon eine kriminelle Vergangenheit, die andere kommt aus den Mittelschichten und richtet den Blick nach Syrien.

Die Anschläge, die am Freitag, den 13. November 2015 Paris erschüttert haben, werfen weniger als ein Jahr nach dem Massaker in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo erneut die Frage nach dem Dschihadismus und seiner Ideologie auf – aber auch und vor allem nach dem Dschihadisten, der zur Tat schreitet und kaltblütig seine Verbrechen verübt. Was geht in seinem Kopf vor? Woher rührt seine Entschlossenheit? Und wie soll man die Besessenheit begreifen, mit der er tötet und sogar den eigenen Tod als Vollendung seines Schicksals im Märtyrertum vorausplant?

In Frankreich ist der Terrorismus im Namen Allahs ein Phänomen, das eine kleine Minderheit unter den Muslimen betrifft, tatsächlich nur einen winzigen Bruchteil. Seine Auswirkungen jedoch stehen in keinem Verhältnis zur Zahl der Getöteten. Er verstört die Gesellschaft und zeitigt eine tiefe Krise, von der die Grundfesten sozialer Ordnung erschüttert werden.

Die Vorstadtgettos, ein Rekrutierungspool

Von den Attentaten auf die Pariser Regionalbahn RER B bis zum Massaker in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo lassen sich inzwischen mehrere Generationen radikaler Islamisten in Frankreich unterscheiden (siehe unten).

Gemeinsam ist ihnen, dass es sich um „hausgemachte Terroristen“ handelt, die in Frankreich zur Schule gegangen und ausgebildet worden sind. Zudem haben sie ein ganz ähnliches Profil: Alle blicken bereits auf eine kriminelle Vergangenheit zurück. Sie haben Raubüberfälle begangen oder mit Drogen gehandelt und mehr oder weniger lange Haftstrafen verbüßt. Nur Khaled Kelkal, der in die Bombenanschläge von 1995 verwickelt war, scheint in einer relativ „normalen“ Familie aufgewachsen zu sein; die Übrigen hatten eine schwierige Kindheit, häufig mit Heimaufenthalten. Ihre psychischen Probleme haben sie schon früh zu anfälligen Charakteren gemacht (das war auch der Fall bei Zacarias Moussaoui, der in den Vereinigten Staaten in Zusammenhang mit den Attentaten vom 11. September 2001 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde). Überdies teilen sie denselben religiösen Werdegang. Sie waren sämtlich deislamisiert, bevor sie zu wiedergeborenen Muslimen oder unter dem Einfluss eines Gurus, ihrer Freunde oder ihrer Lektüren im Internet konvertierten und Dschihadisten wurden. Schließlich haben alle eine Initiationsreise in ein Land des Nahen und Mittleren Ostens oder in Kriegsgebiete unternommen (Irak, Syrien, Afghanistan, Pakistan …). Man kann also von fünf Phasen sprechen: Leben in der Banlieue, Straffälligkeit, Gefängnis, kriegerische Reise und radikale Islamisierung.

Das Leben in den Vorstadtgettos und das Gefühl des Ausgeschlossenseins

Die jungen Menschen aus der Banlieue, die sich dem radikalen Islam anschließen, haben eine grundlegende Gemeinsamkeit: den Hass auf die Gesellschaft. Sie leiden unter einem tiefen Gefühl sozialer Ungerechtigkeit. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass sie ihren Ausschluss als eine unverrückbare Gegebenheit erleben, als Stigmatisierung, die ihnen auf die Stirn geschrieben steht und ihrem Akzent so unwiderruflich anhaftet wie ihrer vom Argot der Vorstadtgettos und den angloarabischen Ausdrücken geprägten Sprache. Ihr körperliches Auftreten wird von anderen Bürgern oft als bedrohlich wahrgenommen. Sie haben mit der Gesellschaft gebrochen und verabscheuen Uniformen, selbst die von Feuerwehrmännern, als Ausgeburt einer unterdrückerischen Ordnung. Ihre Identität ist zutiefst geprägt vom Antagonismus zwischen „Integrierten“ – ob sie nun „Gallier“ sind oder Franzosen nordafrikanischer Herkunft, denen der Aufstieg in die Mittelschichten gelungen ist – und Ausgeschlossenen. Stigmatisiert in den Augen der anderen, leiden sie unter dem intensiven Gefühl der eigenen Herabsetzung, das sich in einer Aggressivität ausdrückt, die beim geringsten Anlass aufflammen kann. Diese wendet sich nicht nur gegen Fremde, sondern häufig auch gegen Familienmitglieder, insbesondere den jüngeren Bruder oder auch die jüngere Schwester, falls sie es wagt, mit einem Jungen auszugehen (sie gehen zwar ihrerseits mit den Schwestern anderer aus, messen aber in ihrem Verhältnis zu Frauen mit zweierlei Maß). Das Vorstadtgetto wird zum inneren Gefängnis und die Selbstverachtung verkehrt sich in den Hass auf andere.

Vom Unbehagen zur Delinquenz

Durch sehr harte Arbeit gelingt es einem Teil dieser Jugendlichen, die Exklusion zu überwinden und in die Mittelschichten aufzusteigen. Oft brechen sie dann alle Beziehungen zu ihrem Viertel und den alten Freunden ab. Andere versuchen auf kriminellem Wege schnell zu Geld zu kommen und das erträumte Leben der Mittelschichten zu führen. Was ihnen am meisten zu schaffen macht, ist das Gefühl der Viktimisierung, also Opfer zu sein. Tatsächlich neigen sie zu der Überzeugung, Kriminalität sei der einzige Weg, auf dem sie in einer Gesellschaft, in der sie überall vor verschlossenen Türen stehen, Zugang finden können zu den Annehmlichkeiten eines Lebens, wie es die Mittelschichten führen. Ihr Hass und das Gefühl der Ungerechtigkeit finden ein Ventil in der Kriminalität und werden für eine Weile besänftigt durch den Zugang zu materiellen Annehmlichkeiten und die Verschwendung illegal beschaffter Güter. Aber einer sehr kleinen Minderheit reicht ein solches abweichendes Verhalten allein nicht aus. Häufig sind dies Jugendliche, die sich in ihrer Haut nicht wohlfühlen. Ihre Selbstverachtung sitzt tief, die Stigmata, die mit dem Leben in den Trabantenstädten, der Kriminalität und einem aus den Fugen geratenen Leben einhergehen, sind ihnen zur zweiten Natur geworden. Was sie brauchen, ist eine Selbstbestätigung, durch die sie nicht nur ihre Würde wiedergewinnen, sondern zugleich ihre Überlegenheit über andere unter Beweis stellen können.

Im Dschihadismus nimmt ihr Hass eine neue Form an. Ihre ohnmächtige Wut verwandelt sich in heiligen Zorn. Sie wird sakralisiert. Das erlaubt es ihnen, ihre Misere durch das Bekenntnis zu einer Weltanschauung zu überwinden, die sie selbst zu Rittern des Glaubens macht und die anderen zu Ungläubigen, die ihr Existenzrecht verwirkt haben. Der radikale Islamismus bewirkt eine Umkehrung der Vorzeichen, eine existenzielle Häutung: Das Ich wird rein, die anderen unrein, Selbstverachtung verwandelt sich in Verachtung der anderen. Endlich ist man jemand und kann das Gefühl der Bedeutungs- und Bestimmungslosigkeit in einer Gesellschaft, in der man sich nur durch Gelegenheitsjobs oder Kriminalität über Wasser halten kann, hinter sich lassen. Eine Identität, die sich im Bruch mit den Anderen konstituiert, sinnt jetzt auf Vergeltung für das erlittene Unrecht. Und es ist die ganze Gesellschaft, die schuldig gesprochen wird. Sie ist, im dschihadistischen Jargon gesprochen, abtrünnig, gottlos, ungläubig. Diese Gesellschaft gilt es zu bekämpfen, selbst wenn man für die heilige Sache in den Tod gehen muss.

Das Gefängnis: Den Hass auf den anderen ausbrüten

Im Werdegang der jungen Dschihadisten aus den Vorstadtgettos spielt das Gefängnis eine maßgebliche Rolle – nicht so sehr, weil man sich dort radikalisiert, sondern weil dort der Hass auf den Anderen wie nirgends sonst heranreifen kann. Die täglichen Beziehungen sind von Reibereien mit dem Wachpersonal und der Haftanstalt als Institution geprägt. Sobald er gegen die im Gefängnis geltenden Regeln verstößt, erinnern die Sanktionen den Gefangenen an die Existenz eines Systems, dem er jede Legitimität abspricht. Darum finden die meisten Jugendlichen im Gefängnis nur noch mehr Gründe, die Gesellschaft zu hassen.

 

Im Gefängnis macht der junge Straftäter zudem die Erfahrung der Geringschätzung des Islam in ihrer institutionalisierten und depersonalisierten Form. Die Institution Gefängnis nimmt nicht immer groß Rücksicht auf Muslime: der Mangel an Imamen, kollektive Freitagsgebete, die, wenn überhaupt, dann unter Bedingungen stattfinden, die vom Argwohn gegenüber den Teilnehmern zeugen, Verbot von Gebetsteppichen im Hof … Der wachsende Einfluss der Salafisten auf inhaftierte Muslime vertieft den Bruch. Salafisten sind keine Dschihadisten, aber sie predigen eine sektiererische Version des Islams, die zur Desozialisierung der jungen Anhänger beiträgt, indem sie einen unüberwindbaren Graben nicht nur zwischen Gläubigen und Ungläubigen aufreißt, sondern auch zwischen guten Muslimen, die ihren Glauben gewissenhaft ausüben, und schlechten Muslimen, die es mit den religiösen Vorschriften und Verboten nicht so genau nehmen.

Wer islamistische Neigungen hat, wird durch die Haft, die Härten des Gefängnisalltags und die unausgefüllte Zeit, mit der man nichts Rechtes anzufangen weiß, noch anfälliger für die Sirenengesänge, die zur heiligen Gewalt aufrufen. Verwirrten Gemütern verheißt der radikale Islamismus eine Umkehrung der Rollen. Der junge Mann ist verurteilt worden, man hat ihn ins Gefängnis geschickt – aber künftig wird er es sein, der diese Gesellschaft ohne Erbarmen verurteilt, künftig wird er die Rolle des Richters übernehmen und als Ritter des Glaubens wider die Ungläubigen kämpfen. Der Gefangene gewinnt infolgedessen neues Vertrauen in sich selbst als jemand, der berufen ist, das göttliche Urteil zu vollstrecken.