Warum ich tue, was ich tue

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EVELIN KROSCHEL-LOBODDA

WARUM ICH TUE, WAS ICH TUE

EHP – Edition Humanistische Psychologie

Hg. Anna und Milan Sreckovic

Die Autorin

Dr. Evelin Kroschel-Lobodda (1949–2014); Studium der Psychologie und Philosophie an der LMU München; Promotion (Was passiert in einer Psychotherapie?) bei Heinz Mandl; über 25 Jahre Lehrbeauftragte an der LMU München; Lehrauftrag an der Hochschule Fribourg (Schweiz); eigene psychotherapeutische Praxis, von 1995 bis 2009 psychologische Unternehmensberatung in Wirtschaft und Gesellschaft; Chefredaktion der Fachzeitschrift GESTALTTHERAPIE. Arbeitsschwerpunkte: Entwicklung einer universalen Motivationstheorie auf der Basis von polaren menschlichen Grundbedürfnissen, Wirkungen von Frustration und Kränkung im Beziehungsfeld; zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. Die Weisheit des Erfolgs.

EVELIN KROSCHEL-LOBODDA

WARUM ICH TUE, WAS ICH TUE

Eine universale Motivationstheorie

Mit einem Grußwort von Norbert Szyperski

und

einem Geleitwort von Gerd Lobodda

Vorwort von Manuela Manderfeld und Sabine Sohn

Herausgegeben von

Gerd Lobodda, Manuela Manderfeld und Sabine Sohn

EHP

– 2017 –

© 2017 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Gevelsberg

www.ehp-verlag.de

Diese Ausgabe wurde von den HerausgeberInnen in enger Zusammenarbeit mit dem Ehemann der verstorbenen Autorin erarbeitet. Der Verlag bedankt sich ausdrücklich bei Sabine Sohn und Manuela Manderfeld sowie bei Gerd Lobodda für die Möglichkeit, den Text posthum in angemessener Weise herausbringen zu können.

Redaktion: Monika Cyran und Andreas Kohlhage

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich

Umschlagentwurf: Uwe Giese

– unter Verwendung einer Replik des Diskos von Phaistos –

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

print-ISBN 978-3-89797-097-7

epub-ISBN 978-3-89797-616-0

pdf-ISBN 978-3-89797-617-7

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Grußwort (Norbert Szyperski)

Geleitwort (Gerd Lobodda)

Vorwort (Manuela Manderfeld und Sabine Sohn)

Einleitung

1. Die Suche nach dem Grund hinter dem Grund

2. Gefühlswelten

Die Sprache von Körper und Psyche

Gefühle stehen immer im Dienste der Bedürfnisse

Die vier Grundaussagen der Gefühle

1. Gefühle melden einen Mangel bzw. Verlust an Befriedigung von Grundbedürfnissen

2. Gefühle melden eine Bedrohung des derzeitigen Befriedigungszustandes

3. Gefühle melden eine Bedürfnis-Befriedigung

4. Gefühle melden eine Übersättigung von Grundbedürfnissen

Aggression - eine emotionale Funktion im Dienste der Bedürfnisse

3. Der Kreis der Bedürfnisse und Motive

Die Verwandlung vom Bedürfnis zum Motiv

Pseudohunger durch Verlockung oder Bedrohung

Der blinde Fleck in den Bedürfnis- und Motivationstheorien

Das Prinzip der Polarität

Die Polarität von Geben und Nehmen

Bedürfniskreis und Motivrad

Die Polaritäten der psychisch-seelischen Bedürfnisse und Motive

Das zentrale Bedürfnis nach Ganzheit/Einheit

Wirksamkeit/Macht versus Gelassenheit/Hingabe

Sicherheit/Beständigkeit versus Neuheit/Veränderung

Bindung/Gemeinschaft versus Freiheit/Individualität

Gerechtigkeit/Ideale versus Freude/Genuss

Besitz/Erkenntnis versus Selbstwert/Anerkennung

Fixierungen

Die psychosomatische Macht der Bedürfnisse

4. Zur universalen Dimension des Bedürfniskreises

Individuum und Kollektiv: Auf Gedeih und Verderben verbunden

Der Bedürfniskreis in Organisationen und Unternehmen

Ein Vergleich der Kulturen

Werte – die bevorzugten Grundbedürfnisse

Kollektive Werte-Fixierungen

Die kalte Welt der Besitz/Erkenntnis-Fixierung

Das fixierte Bankensystem

Postulierte Werte contra Wirklichkeit

5. Ein Blick Jahrtausende zurück

Das Gilgamesch-Epos

Die Josephsgeschichte im Alten Testament

6. Vertiefte Betrachtungen der polaren Bedürfnisfelder

Sicherheit/Beständigkeit

Neuheit/Veränderung

Bindung/Gemeinschaft

Individualität/Freiheit

Selbstwert/Anerkennung

Besitz/Erkenntnis

Ideale/ Gerechtigkeit

Die ewige Konstante im sich verändernden Ideale-/Gerechtigkeitsbedürfnis: Die Vergeltung

Freude/Genuss

Der innerste Kreis

Wirksamkeit/Macht

Hingabe/Gelassenheit

Ganzheit/Einheit

7. Frustration und Kränkung

Die Macht der Bedürfnisse

Die Rachedynamik bei Frustration und Kränkung

Die vier seelischen Automatismen

Blockade

Schmerz

Scham

Aggression

1. Rache gegen den Kränker 157

2. Verschobene Rache an Unbeteiligten 159

3. Aggression gegen sich selbst

 

Dispositionen der Aggressionsrichtung

Ausstieg aus der Rachespirale

8. In der Balance - die Integration der Polaritäten

Integrität

Alexander von Humboldt

Pippi Langstrumpf

9. Der Kampf um den freien Willen

Von Göttern, Dämonen und anderen unsichtbaren Kräften

Unerledigte Bedürfnisse unserer Ahnen

Eine Lebensbedrohung

Anfälle von Lebensmüdigkeit

Das Veto-Recht des Bewusstseins

Transgenerationale Forschungen und Theorien

Zur Transformation des Seelenbegriffs

Vorstellungen von der unsterblichen Seele

10. Gedankenwelten

Jenseits der Raum-Zeit-Dimension

Unsterbliche Selbst-Repräsentanzen?

Grußwort

Wer viele der zahlreichen Beiträge in der Fachliteratur zu den einschlägigen Themenfeldern lesen durfte oder musste, wird überrascht sein, so interessante und neuartige Aspekte zu finden, wie die Autorin sie entwickeln konnte. Und dies auf der Basis tiefgehender Untersuchungen, vor allem aber auch aufgrund ihres langjährigen beruflichen praktischen Wirkens. Erkenntnisse aus erster Hand, möchte man konstatieren. So jedenfalls ist mir ihr kreatives Schaffen in all den vielen Jahren, in denen ich ihre Aktivitäten mit verfolgen durfte, erkennbar geworden: neue wichtige modifizierte Ansätze gerade auch im interdisziplinären Kontext insbesondere mit neurowissenschaftlichen Perspektiven.

Ihre Aussagen über die Wechselwirkungen von Bedürfnissen, Motiven und Handeln im Spannungsfeld steter Gegensätze schaffen in der Tat spannende Einsichten und neuartige Perspektiven für die realen Spielräume menschlichen Willens. Und das alles ist von der Autorin so anschaulich und für ein so grundlegendes Werk wirklich spannend geschrieben, ja man könnte sagen, in Worten erläuternd komponiert, dass man es einem breiten Leserkreis nur empfehlen kann.

Sie konzentriert sich dabei besonders auf die psychischen und geistigen Existenzräume. Zusätzlich und ebenfalls integrierend müssen wir aber auch die physischen, biologischen und nicht zuletzt auch seelischen Existenzräume in unserer gesamten Lebensweise in eine stabilisierende Balance bekommen. Alle fünf interagierenden Existenzräume haben ihre eigenen Instanzen, mit spezifischen In- und Outputs für unser gesamtes Verhalten. Und keiner davon darf zum alleinigen Dominator werden, da dies jeweils zu extremen Verzerrungen unseres individuellen Profils, ja sogar zu fundamentalistischen Verhaltensmustern führen kann.

Die Autorin begnügt sich aber nicht mit den notwendigen und grundlegenden Erkenntnissen in Ihrem Themenfeld, sondern findet immer wieder kluge anwendungsbezogene Überleitungen, die für jede praktische Unterstützung nutzbar sind. Der aufgeschlossene Leser erfährt die besondere Chance, aus ihren Ableitungen und Anleitungen seine eigenen praktischen Lehren zu ziehen. Der gründlich und fachlich aufbereitete Text der Autorin macht das Lebenswerk von Evelin Kroschel-Lobodda von Seite zu Seite spannender.

Sie hätte es als Persönlichkeit und als Fachfrau sehr verdient, dass ihre fachlichen und literarischen Leistungen gerade auch von jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Dies vor allem auch im Sinne einer realistischen und Erfolg versprechenden Betreuung von Individuen auf allen handelnden Ebenen unserer Gesellschaft und von betroffenen Gruppen innerhalb und außerhalb unserer Organisationen. Unsere Zeit der digitalen Evolution ruft geradezu nach personalisierten und multidisziplinären Untersuchungen und Anleitungen. In diesem gesamten Kontext sollte die vorliegende Schrift besondere Achtung und eine spezielle Würdigung finden.

Prof. Dr. Dr. h.c. Norbert Szyperski (†), www.sylter-runde.de

Sylt, im November 2015

Geleitwort

Für meine Frau, Dr. Evelin Kroschel-Lobodda, hatte die Suche nach Erkenntnis zeitlebens erste Priorität: vom ersten VHS-Kurs als Dozentin, über das Psychologie- und Philosophiestudium, bis zur Promotion und der bereits parallellaufenden therapeutischen Praxis. Es folgten Jahre in der Wirtschaft, mit der Aufgabe der psychologischen Unternehmens- und Wirtschaftsberatung für Konzerne, mittelständische Unternehmen, Behörden, Gewerkschaften und Betriebsräte.

Diese Suche zog sich als roter Faden kontinuierlich durch ihre Arbeit und war bereits bei ihrer ersten Veröffentlichung »Was passiert in der Psychotherapie?« erkennbar. Auch alle anderen Publikationen, wie ihr Buch Die Weisheit des Erfolgs und diverse Beiträge z. B. für die Zeitschrift GESTALTTHERAPIE oder auch ihre gezielten bzw. systematischen Auftragsarbeiten in der Wirtschaft folgten diesem Prinzip. Sie blieb sich dabei immer treu und lehnte dementsprechend auch Aufträge ab.

Sie setzte sich unter anderem mit den Arbeiten des Psychologen Abraham Maslow auseinander und wollte seine Motivationstheorie, die Bedürfnispyramide, vervollständigen und auf eine qualitativ neue Ebene bringen. Mit ihrem Polarisierungsmodell, der Definition vom Bedürfnis zum Motiv, dem Motivrad, ergänzt durch die Theorie der aus Kränkungen entstehenden Rachedynamik, wird sich mit der Resonanz auf das nun vorliegende Buch zeigen, ob ihr Anspruch in Erfüllung gegangen ist.

Zunächst arbeitete sie praktisch und sammelte Erfahrungen in der Wirtschaft etc., danach begann ihre sehr konzentrierte Forschungsarbeit. Auf der Grundlage ihres systematisch gespeicherten Erfahrungswissens, begann sie mit der Aufarbeitung der diesbezüglich relevanten Weltliteratur: von den Upanishaden, über Homer, Shakespeare, Goethe, Nietzsche, Schopenhauer, Sigmund Freud, C. G. Jung, Thomas Mann bis zum neusten Stand der Gehirnforschung. Neben den universalen Bedürfnissen und den sich daraus ableitendenden Motiven drängte sich auch das Thema ›Der freie Wille‹ in ihren Fokus.

Da ihr die Dimensionen und das Konfliktpotenzial ihrer Arbeit sehr bewusst waren, hatte ihr Anspruch auf Tiefe oberste Priorität, was sie mit zunehmender Erschöpfung bezahlte. Der Vollendung ihrer Arbeit, ihres Lebenswerkes, folgte eine mehrmonatige Krankheit, sie verabschiedete sich leise von dieser Welt und schlief friedlich, fast sorglos, neben mir ein.

Ich habe meine Frau auf ihrem Erkenntnisweg begleitet und teile ihre An- und Einsichten. Neben meiner großen persönlichen Wertschätzung und einer selbstverständlichen moralischen Verpflichtung zur Herausgabe, hat ihr Werk einen besonderen aufklärenden, in diese Zeit passenden Stellenwert.

Dies gilt insbesondere für das zukünftige gesellschaftliche und ökonomische Beziehungsfeld in einer von Egoismen, polarisierenden Interessen und empathieloser Rücksichtslosigkeit geprägten Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der die heranwachsende Generation weiß, dass sie gebraucht wird, dass das »große Fressen« aber bereits ohne sie stattgefunden hat. Angesichts der übermächtigen, sich dynamisierenden Problemfelder braucht diese Generation Verständnis und Unterstützung bei dem Versuch, eine konstruktive Wende herbeizuführen.

Von daher verlangen die Verhältnisse nach Integration der unterschiedlichen Interessen, der freien Entfaltung des menschlichen Potenzials, nach authentischen Persönlichkeiten, universaler Menschenwürde, gegenseitigem Respekt und dem Er- und Anerkennen von Bedürfnissen und Motiven, zuvorderst bei Führungskräften und politisch Verantwortlichen.

Wir stehen am Beginn einer neuen Epoche. Das Alte stirbt, und das Neue ist noch nicht geboren. Statt verantwortungslos zu polarisieren, sollte die Fähigkeit zum Miteinander gewollt, gelernt und praktiziert werden – von der Mikro- bis zur Makroebene. Nicht die Gier, sondern die Balance zwischen Vernunft und Emotion sollte der Grundstock für ein modernes und zukunftsträchtiges Beziehungsfeld sein, mit ausgeglichenen Menschen, Institutionen, Unternehmen und Systemen.

Das Buch könnte die wertvolle Grundlage für eine bessere Ordnung bilden und zu einer kulturellen Erneuerung im engeren ästhetischen wie im weiteren anthropologischen Sinne führen.

Gerd Lobodda

Vorwort

Seit der ersten Begegnung mit Evelin begeisterte uns die Art, wie sie arbeitete, Erkenntnisse gewann und hinter die Kulissen menschlichen Handelns schaute. Besonders faszinierte uns ihr verständnisvoller und wohlwollender Blick auf die menschlichen Dramen und Verstrickungen, ohne zu moralisieren.

Evelins Buch liest sich wie eine Reise durch die Geschichte der Menschheit. Sie macht deutlich, was uns Menschen kulturübergreifend verbindet, was uns motiviert und bewegt. Das Wissen darum, dass bestimmte Bedürfnisse und Gefühle allen Menschen inhärent sind, ermöglicht eine neue Sichtweise auf das, was uns zunächst fremd erscheint. So werden Erkenntnisse möglich, die den eigenen Handlungsspielraum erweitern und zu konstruktiven Lösungen führen können.

Die Beschäftigung mit ihrem Buch war für uns beide ein tiefgreifender Prozess, in dem wir ihre Theorie hautnah spüren, erleben und nachvollziehen konnten. Wir befanden uns immer mal wieder festgefahren auf unterschiedlichen Polen. Ausgedehnte Waldspaziergänge mit sehr lebendigen Diskussionen brachten uns nicht nur körperlich, sondern auch geistig wieder in Bewegung. Und so erfuhren wir, wie bereichernd und belebend das flexible Wandeln zwischen den Polen sein kann.

Es war uns ein Herzensanliegen, Gerd darin zu unterstützen, Evelins Lebenswerk zu veröffentlichen. Und möglichst vielen Menschen die Gelegenheit zu geben, mit Hilfe ihrer Theorie eigene Antworten auf die Frage »Warum tue ich, was ich tue?« zu finden. Nehmen Sie sich Zeit und genießen Sie die Lektüre, denn Sie werden merken, es ist kein leichter Snack für zwischendurch, sondern ein mehrgängiges Menü mit vielen Überraschungen.

Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen!

Sabine Sohn und Manuela Manderfeld

Bonn, im Juni 2016

Einleitung

Kürzlich las ich im Vorwort des Philosophen Charles Taylor zu seinem Werk Quellen des Selbst: »Die Arbeit an diesem Buch ist mir schwer gefallen. Sie hat zu viele Jahre in Anspruch genommen, und einige Male habe ich meine Meinung darüber geändert, was darin stehen sollte. Einesteils lag das an dem altbekannten Grund, dass ich mir nicht im Klaren war über das, was ich sagen wollte. Andernteils lag es an der überaus ehrgeizigen Natur des Unterfangens, …«1 Ich war glücklich, in diesen Worten eine so genaue Beschreibung meiner eigenen Gefühle zu meinem vorliegenden Buch zu finden. Ich selbst hätte es nicht so gut ausdrücken können.

Es war ein langer Weg der Forschung und praktischen Arbeit, bis ich bei den jetzigen Ausführungen des Buches gelandet bin. Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit der Frage, warum und wozu Menschen das tun, was sie tun, und warum sie fühlen, was sie fühlen, und erleben, was sie erleben. Doch viele Jahre war mir nicht bewusst, dass in diesen Fragen, die ich als begrenztes Thema der Motivationspsychologie angesehen habe, das grundlegende Thema unseres Menschseins liegt. Denn in der Frage »Warum oder wozu tun wir das, was wir tun?« steckt nicht nur die Suche nach unseren individuellen Motiven. Sie ist auch grundlegend für die Frage, ob wir unser Handeln und unser Leben als sinnvoll erleben und inwieweit es von unserem freien Willen bestimmt ist.

Als ich Anfang der 1990er-Jahre an meinem Buch Die Weisheit des Erfolgs schrieb, wurden mir im Laufe des Schreibens – verbunden mit den Erfahrungen aus meiner Praxis – die Zusammenhänge und dynamischen Prozesse zwischen Bedürfnissen, Motiven und Kränkungen immer deutlicher bewusst. Damals erkannte ich jedoch die ungeheure Dimension der Zusammenhänge noch nicht – zu eingeengt war mein Blickwinkel auf die Fragen gerichtet, worin sich erfolgreiche Menschen von nicht-erfolgreichen unterscheiden, wie sich persönliche Autorität entwickelt und welche Rolle Kränkungen dabei spielen.

 

Diese Konzentration auf die Entwicklung von persönlicher Autorität war durch meine Erfahrungen in der psychologischen Praxis entstanden. Damals, Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre wurde es in Organisationen modern, darüber nachzudenken, wie man Mitarbeiter motivieren könnte durch spezielle Maßnahmen. Ich kam durch die Arbeit mit meinen KlientInnen jedoch immer mehr zu der Überzeugung, dass es viel wichtiger wäre, die Mitarbeiter nicht zu demotivieren.

Ein kleines Beispiel

»Ich freue mich sehr auf die neue Arbeit,« sagte meine Klientin eines Tages in einer

Therapie-Sitzung, »diese Stelle ist genau das, was ich mir schon lange wünsche – ich kann es kaum erwarten, mich in die Arbeit zu stürzen!«

»Mein neuer Chef ist nicht schlecht«, sagte die Klientin zwei Monate später, »und mit meinen Kollegen komme ich auch ganz gut klar. Was mich ärgert, ist diese ineffiziente Arbeitsorganisation – aber als ich einen Vorschlag zur Verbesserung gemacht habe, uuuhh, da sind die Eiszapfen von der Decke gefallen!«

»Man muss halt in die Arbeit, weil man seinen Lebensunterhalt verdienen muss – ich werde mir dort bestimmt kein Bein mehr ausreißen!«, sagte die Klientin weitere zwei Monate später.

Obwohl von der anfänglichen Freude und der hohen Arbeitsmotivation nicht viel übrig geblieben war, war sich die Klientin der abgelaufenen Dynamik nicht bewusst. Sie registrierte nur, dass ihr die Lust und Freude vergangen war, dass sie eher überdrüssig zur Arbeit ging und die Arbeit nur noch als notwendiges Übel ansah. Erst bei der tieferen Betrachtung dessen, was da nun genau geschehen war, kam sie zu der Erkenntnis (und ich mit ihr), dass sie sich mit ihren Vorschlägen, d. h. ihrer Kreativität und ihrem Engagement, missachtet fühlte, dass sie sich durch hämische Bemerkungen eines Kollegen herabgesetzt und beschämt fühlte, dass sie sich durch ihren Vorgesetzten nicht gesehen und nicht unterstützt fühlte; kurz: dass sie gekränkt war. Und dass ihre unbewusste Rache für die zugefügten Kränkungen darin bestand, nur noch ›Dienst nach Vorschrift‹ zu machen.

Durch die Analyse von Kränkungen (und ihrer Rachedynamik) rückten die psychischen Grundbedürfnisse in den Mittelpunkt meines Interesses: Was sind das für Bedürfnisse, deren Frustration als Kränkung empfunden wird?

Und was sind das für Bedürfnisse, deren Befriedigung sogar schwere Situationen mit Leichtigkeit ertragen lassen? Mir waren in diesem Zusammenhang nämlich Erzählungen meines Vaters eingefallen.

Ein Beispiel:

Mein Vater, Jahrgang 1923, litt sehr unter der Trennung von seinen Eltern und sechs Geschwistern, als er mit 13 Jahren den elterlichen Bauernhof verlassen musste, um eine weit entfernte Lehrstelle antreten zu können. Eigentlich gab es damals kaum die Möglichkeit für einen Bauernbuben aus der Oberpfalz, einen Beruf zu erlernen, und so war es ein großes Glück, dass meine Urgroßmutter diese Schlosser-Lehrstelle in einer Landmaschinen-Werkstatt für ihren Enkel ergattern konnte. Der Wermutstropfen: Es lag ein Tagesmarsch zwischen Elternhof und Meisterbetrieb, und das bedeutete, dass mein Vater bei diesem Meister wohnen musste und nur an Weihnachten heimgehen konnte.

Mein Vater erzählte uns Kindern oft, dass seine Lehrzeit so wunderbar gewesen sei und dass ihm das sogar das Heimweh gelindert habe. Irgendwann wurde mir die Diskrepanz zwischen seiner Bewertung und den erzählten Gegebenheiten bewusst, und ich fragte ihn: »Papa, wie kannst du sagen, dass deine Lehrzeit wunderbar war? Die Arbeitszeit war täglich von morgens sechs Uhr bis abends sieben Uhr. Samstag war normaler Arbeitstag und sonntags musstest du vormittags mit dem Meister in die Kirche. Es gab keinen Urlaub außer an Weihnachten, und selbst von diesen zwei Wochen gingen zwei Tage drauf für den Hin- und Rückmarsch.«

Mein Vater antwortete, dass das Wunderbare an der Lehrzeit die Person des Meisters gewesen sei: »Ich kann dir das nur an einem Beispiel erklären. Ziemlich am Anfang meiner Lehre nahm mich mein Meister mit zu einem Kunden, um dort eine Dreschmaschinen-Reparatur zu besprechen. Wir gingen in die Stube, er führte das Gespräch und wir verabschiedeten uns. Erst als wir wieder allein über den Hof gingen, sagte er zu mir: ›Pass auf, Bub, wenn du das nächste Mal in eine fremde Stube trittst, dann tust deine Mütze runter, das gehört sich so.‹ Er hatte gewartet, bis wir wieder allein waren, damit ich nicht vor dem Bauern beschämt wurde. Und so ist der Meister immer gewesen. Nie hat er mich vor anderen wegen eines Fehlers bloßgestellt. Wenn ich etwas nicht gekonnt habe, hat er es mir so lange ruhig erklärt, bis ich es konnte. Als einmal ein Bauer mich rüde anging, weil etwas nicht schnell genug ging, griff er sofort schützend ein und zwang den Bauern, mit ihm selbst zu reden. Und dieses Verhalten des Meisters führte dazu, dass alle Entbehrungen und die viele schwere Arbeit keine Rolle spielten.«

Das Beispiel meines Vaters hat meine Wahrnehmung geschärft – einmal in Bezug auf Kränkungen, die häufig genug unter ›normalem Verhalten‹ laufen und zum anderen in Bezug auf diejenigen Bedürfnisse, deren Befriedigung so elementar wirkt, dass schwere äußere Umstände weder krank machen noch demotivieren.

Die vertiefte theoretische Beschäftigung mit den Motiven und Bedürfnissen führte dann zu der Entdeckung, dass keine der vielen verschiedenen Bedürfnistheorien,2 die es in Philosophie und Psychologie gibt, die Erfahrung abdeckt, die sich aus meiner Arbeit mit Menschen herauskristallisierte nämlich: dass es zu jedem Grundbedürfnis ein gegensätzliches gibt und dass jedes dieser gegensätzlichen Grundbedürfnisse in den polaren Dimensionen von Nehmen und Geben besteht. Beide Gegebenheiten – das Gegensatzprinzip und die Geben-Dimension – sind in den bisherigen psychologischen Bedürfnis- und Motivationstheorien nicht enthalten. Alle Theorien geben den Bedürfnissen die egoistische Bedeutung des ›Haben-Wollen‹ und übersehen, dass sämtliche Grundbedürfnisse auch im ›Geben-Wollen‹ existieren. Und so entwickelte ich eine neue Bedürfnis- und Motivationstheorie, in der sowohl die Polarität der Bedürfnisse als auch die Dimension des Gebens berücksichtigt ist. Nach dem Entwurf eines Motivrads in der Erstauflage von 19963 arbeitete ich zwölf Jahre intensiv mit und an meinem Modell, so dass ich es in der Neuauflage von 20084 in einer ausgereiften Form vorstellen konnte.

Inzwischen arbeitete ich jedoch auch schon lange am vorliegenden Buchprojekt – das immer wieder für Jahre in der Schublade verschwand –, und die Dimension dieses Projekts wurde immer vielschichtiger.

Es entstand die Frage, ob die von mir postulierten Grundbedürfnisse und Motive tatsächlich – wie ich meine – menschheitsweit gültig sind, ob sie sich auch in allen Kulturen und in allen Zeitepochen finden lassen, oder ob mein Blick zu zeitgeistig und ethnozentriert ist. Wir sind bei der Betrachtung menschlichen Verhaltens und Handelns ja nicht so frei, wie wir zumeist vermuten. Unsere Wahrnehmung ist beeinträchtigt durch unser theoretisches Wissen, dem wir meist mehr gesicherten Wahrheitsgehalt unterstellen, als es tatsächlich verdient. Vor allem aber ist unsere Wahrnehmung auch eingeschränkt durch unsere unbewussten Vorstellungen von der Natur des Menschen und der Gesellschaft, die wiederum in höchstem Maße kulturell und zeitgeistig geprägt sind. Insofern ist mir klar, dass der theoretische Horizont des westlichen Denkens von einer spezifischen Erfahrung durchdrungen ist, bei der die Individualität des Menschen betont wird. Diese Sichtweise des Menschen hat eine lange Geschichte in der westlichen Philosophie und wurde während der Aufklärung vorherrschend. Das Menschenbild der Aufklärung impliziert, dass der Mensch von seinem zwischenmenschlichen Umfeld getrennt gesehen werden könnte. Doch das ist eine Sichtweise, die nicht für alle Kulturen und historische Epochen gilt. Dieses individuelle und klar umrissene Körperbild, das sich deutlich von den anderen Objekten im Universum abhebt und bei dem das Individuum als starke Festung mit einer kleinen Anzahl an Zugbrücken und Toren gesehen wird, die den kontrollierbaren Kontakt zur Außenwelt darstellen, steht im scharfen Gegensatz zum Menschenbild in nicht-westlichen Kulturen.

Wie der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar ausführt, ist beispielsweise ein Mensch aus hinduistischer Perspektive weniger ein Individuum als vielmehr ein Dividuum. Ein hinduistischer Mensch besteht aus Beziehungen: Alle Affekte, Bedürfnisse und Motive sind relational, und Leiden sind Störungen von Beziehungen, und zwar nicht nur der menschlichen, sondern auch derjenigen zur Natur und der kosmischen Ordnung. »Diese Betonung der transpersonalen Natur des Menschen durchdringt medizinische, astrologische, anthropologische und psychologische Theorien in Indien. Im indischen Körperbild werden die innige Verbundenheit mit der Natur und dem Kosmos und der unablässige Austausch mit der Umwelt betont. In der traditionellen Medizin – Ayurveda – gibt es keine Topographie des Körpers mit seinen Organen, sondern nur eine Ökonomie, das heißt Ströme, die hereinkommen oder hinausgehen, in einem asrya (Empfänger) verweilen oder durch irgendwelche srotas (Kanäle) fließen.«5

Auch das chinesische Menschenbild steht im Gegensatz zum westlichen. Auch hier wird der Mensch nicht als abgeschlossenes Individuum gesehen, sondern als ein aus Energieströmen bestehendes Beziehungsgeflecht. »Der Mensch vereint in sich die Geisteskräfte von Himmel und Erde, in ihm gleichen sich die Prinzipien des Lichten und Schattigen aus, in ihm treffen sich die Geister und Götter …«, heißt es im Buch der Sitte.6 ›Universismus‹ wird das uralte metaphysische System genannt, das allem chinesischen Denken zugrunde liegt. Danach haben alle Erscheinungen im Makrokosmos im physischen, psychischen und gesellschaftlichen Leben des Menschen ihre Entsprechung, und alles steht in inniger Wechselbeziehung zueinander. Seinen praktischen Ausdruck findet dieses Menschenbild in der traditionellen chinesischen Medizin, in den Ernährungsempfehlungen und in der Tradition der Körper- und Geisteskultivierung. Die Methoden dieser Tradition sind z. B. Tai Chi und Qigong, Meditation, Visualisation, Imagination und geomantische Methoden (Feng Shui), die alle das Chi (die Lebenskraft) positiv beeinflussen und damit Glück, Reichtum und langes Leben verwirklichen sollen.

Das indische ist sehr verschieden vom chinesischen Menschenbild. Trotzdem besteht zwischen beiden eine enge Verwandtschaft, wenn man sie mit dem westlichen Bild des Individuums vergleicht. Beide betonen die transzendente Natur des Menschen und ihre energetische Verflechtung mit der gesamten Umwelt, also nicht nur mit der menschlichen, sondern mit allen sichtbaren und unsichtbaren, materiellen und immateriellen Gegebenheiten.

So führte meine Frage, ob die von mir postulierten Grundbedürfnisse und Motive menschheitsweit gültig sind, ob sie sich auch in allen Kulturen und in allen Zeitepochen finden lassen, zu einer intensiven Beschäftigung mit Werken aus anderen Kulturen und Epochen. Ich habe in der Weltliteratur geforscht, angefangen bei den ältesten Texten der Welt, dem Gilgamesch-Epos, dem I Ging, dem Alten Testament, Homers Ilias und Odyssee, dem Tao te King, dem Mahabarata-Epos usw. bis in die neueste Literatur, welche Motive sich in diesen Mythen und Geschichten finden lassen.

Parallel zu meiner Lesetätigkeit machte ich in meiner Praxis immer häufiger die Erfahrung, dass sich viele Störungen, derentwegen Klienten in ein Coaching oder in eine Therapie kamen, nicht aus deren individueller Geschichte oder ihrer gegenwärtigen Situation erklären ließen. Erfahrungen, die zeigten, dass wir offenbar unbewusst auch von fremden Motiven gesteuert werden und unbewusste Einflüsse – jenseits der genetischen und sozialisierten Determination – unser Erleben und Handeln steuern. Dazu passende Bemerkungen wie z. B. »Ich weiß nicht, welcher Teufel mich da geritten hat, dass ich das getan habe« oder »Wie um Himmels Willen bin ich in diese Situation geraten?« führten dazu, dass sich immer mehr das Thema des freien Willens in meinen Wahrnehmungs-Vordergrund schob. Das hatte zur Folge, dass ich mich nun intensiv mit der neuesten Gehirnforschung und mit dem uralten Streitthema zwischen Deterministen und Verfechtern des freien Willens beschäftigte. Die Auseinandersetzung mit den neurobiologischen, philosophischen und psychologischen Erkenntnissen, mit der Literatur aus nicht-westlichen Kulturen und vor allem auch meine praktischen Erfahrungen aus Therapie und Coaching veränderten allmählich mein Menschenbild.