Jugendsprache

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Jugendsprache
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Eva Neuland

Jugendsprache

A. Francke Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8385-4924-8

Inhalt

  Vorwort zur Neuauflage

  Vorwort

 I Zur Einführung1 Jugend und Jugendsprache im Spiegel öffentlicher Meinungen1.1 Jugendrevolten als Indikatoren gesellschaftspolitischer Konflikte1.2 Jugendsprache als Symptom für „Sprachverfall“?1.3 Jugendlicher Sprach- und Lebensstil als Projektionsobjekt2 Jugendsprache in öffentlichen Diskursen und medialen Konstruktionen2.1 Verständigungsprobleme zwischen den Generationen?2.2 Jugendsprache als Konsumgut2.3 Brennpunkte der aktuellen Sprachkritik2.4 „Jugendlichkeit“ als Prestigefaktor und das Schwinden der Generationendifferenz3 Jugendsprache: Fiktion und Wirklichkeit

 II Jugendsprachforschung: Grundlagen und Entwicklungen1 Beginn der linguistischen Jugendsprachforschung in Deutschland1.1 Frühe Erkenntnisinteressen und Fragestellungen1.2 Anfängliche methodische und theoretische Forschungsprobleme2 Vorläufer der modernen Jugendsprachforschung2.1 Philologische Tradition der Sondersprachforschung2.2 Psychologische Tradition der Sprachentwicklungsforschung2.3 Sprachpflegerische Traditionen in der Nachkriegszeit3 Richtungen der linguistischen Jugendsprachforschung3.1 Frühe Pragmatik der Jugendsprache3.2 Frühe Lexikographie der Jugendsprache3.3 Ethnographie von Jugendsprache3.4 Sprechstilanalysen3.5 Kulturanalytische Jugendsprachforschung3.6 Kontrastive Jugendsprachforschung3.7 Medienanalytische Forschung3.8 Interaktionsforschung4 Schwerpunkte der Jugendsprachforschung4.1 Jugendsprache als historisches Phänomen4.2 Jugendsprache als Entwicklungsphänomen in der Sprachbiographie4.3 Jugendsprache als Gruppenphänomen4.4 Jugendsprache als Medienphänomen4.5 Jugendsprache als internationales Phänomen4.6 Jugendsprache als Sprachkontaktphänomen4.7 Jugendsprache als Phänomen des Sprachbewusstseins5 Zwischenbilanz zum aktuellen Forschungsstand5.1 Erweiterung des Gegenstandsfelds5.2 Vielfalt der Methoden5.3 Typizität in der Heterogenität?

 III Theoretische Konzepte der Jugendsprachforschung1 Jugend und Jugendsprache1.1 Eindimensionale Modelle1.2 Mehrdimensionale Modelle2 Jugendsprache und Standardsprache2.1 Linguistische Varietäten: eine sprachsystembezogene Sicht2.2 Jugendsprache im multidimensionalen Varietätenraum2.3 Subkulturelle Stile: eine soziolinguistische Sicht3 Jugendsprache und Sprachwandel3.1 Prozesse von Stilbildung und Stilverbreitung3.2 Prozesse der Substandardisierung3.3 Medien als Promotoren sprachlichen Wandels

 IV Deutsche Jugendsprachen: Geschichte und Gegenwart1 Frühe Formen von Jugendsprachen in der Sprachgeschichte1.1 Historische deutsche Studentensprache1.2 Frühe Beiträge zur Schülersprache1.3 Forschungsdesiderate2 Jugendsprachen in der jüngeren Sprachgeschichte nach 19452.1 Jugendliche in der Nachkriegszeit: Halbstarke und „Halbstarken-Chinesisch“2.2 Jugendliche in den 60er Jahren: Teenager und „Teenager-Jargon“2.3 Antiautoritäre Studentenbewegung und „APO-Sprache“2.4 Studentischer Sprachgebrauch in den 80er Jahren: Sponti-Bewegung und „Betroffenheits-Jargon“2.5 Entwicklung alternativer Szenesprachen2.6 Jugendsprache in der DDR3 Jugendsprache und deutsche Gegenwartssprache3.1 Jugendliche Sprach- und Lebensstile in der heutigen Erlebnisgesellschaft3.2 Typizität in der Heterogenität gegenwärtiger Jugendsprachen3.3 Innere Mehrsprachigkeit von Jugendsprachen3.4 Äußere Mehrsprachigkeit von Jugendsprachen3.5 Zwischenfazit

 V Jugendsprachen in Schule und Unterricht1 Schülersprache, Schulsprache und Unterrichtssprache1.1 Kommunikation in Jugendgruppen als sozialisatorische Interaktion1.2 Kommunikation in Schule und Unterricht als Mittel der Sozialisation in die Schülerrolle1.3 Haupt- und Nebenkommunikation im Unterricht und Identitätsbalancen2 Sprachleistungen von Jugendlichen innerhalb und außerhalb der Schule2.1 Jugendtypische Formen sprachlicher Höflichkeit2.2 Registervielfalt2.3 Sprachbewusstsein3 Jugendsprachen als Unterrichtsthema: was man an ihnen und was man über sie lernen kann3.1 Muttersprachlicher Deutschunterricht3.2 Deutsch als Fremdsprache-Unterricht

  Literaturverzeichnis

  Abbildungsverzeichnis

  Personenregister

  Sachregister

Vorwort zur Neuauflage

Die Hochkonjunktur des Themas „Jugendsprache“ dauert auch fast zehn Jahre nach dem Erscheinen der Erstauflage dieses Bandes noch ungebrochen fort. Die Aufgeregtheit in der öffentlichen Diskussion hat allerdings nachgelassen; und damit wurde auch der Blick freigemacht für die vielen zwischenzeitlich neu hinzugewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Diese wurden vor allem im Rahmen der drei weiteren internationalen Fachkonferenzen präsentiert, die 2011 in Freiburg, 2014 in Karlsruhe und 2016 in Graz stattfanden. Die jeweiligen Publikationen (herausgegeben von KotthoffKotthoff, Helga/Mertzlufft 2014, Spiegel/Gysin 2016, ZieglerZiegler, Evelyn i. E.) demonstrieren eindrucksvoll die inhaltlichen und methodischen Weiterentwicklungen der internationalen Jugendsprachforschung. Schließlich erfreut sich das Thema „Jugendsprache“ aber auch in Schule und Sprachunterricht im In- und Ausland weiterhin großer Beliebtheit, vor allem bei den Jugendlichen selbst.

Die Neuauflage dieser Einführung kann diesen Aspektreichtum nur ansatzweise aufgreifen, indem wichtige neue Fragestellungen, Gegenstandsfelder und ausgewählte Ergebnisse einbezogen und mit einer Vielzahl von Textbeispielen veranschaulicht werden.

Eva Neuland Wuppertal, im August 2017

Vorwort

Jugendsprache hat Hochkonjunktur: als Schlagwort in der Öffentlichkeit, als Forschungsgegenstand in der Sprachwissenschaft, als konkrete Spracherfahrung von Eltern, Lehrkräften und nicht zuletzt von Jugendlichen selbst.

Jugendsprache ist ein Ausdruck mit vielen Lesarten:

 In der Öffentlichkeit ist die Rede von der Sprache der Jugend, von Kiez- und Szenedeutsch. Die Jugendsprache gilt immer noch und immer wieder als Stein des Anstoßes, der VerständigungsproblemeVerständigungsprobleme zwischen den Generationen und negative Einflüsse auf die Allgemeinsprache auslöse. Zugleich wirkt Jugendsprache aber auch als ein Faszinosum und als Attraktion auf dem Markt der Jugend- und Szenewörterbücher.

 In den Sprach- und Kulturwissenschaften werden solche öffentlichen Lesarten von Jugendsprache als mediale Konstruktionenmediale Konstruktion kritisiert. Die linguistische Jugendsprachforschung charakterisiert die unterschiedlichen Sprachgebrauchsweisen von Jugendlichen als VariationsspektrumVariationsspektrum und Ensemble subkultureller Sprachstile.

 In Familie, Schule und Jugendarbeit herrscht Informations- und Aufklärungsbedarf im Hinblick auf den Umgang mit Jugendsprache bei Kindern und Jugendlichen im Spektrum zwischen Akzeptanz, Duldung und Abwehr.

 Und die Jugendlichen selbst? Sie scheinen von der Existenz einer eigenen Jugendsprache fest überzeugt, nutzen sie identifikatorisch in ihren GruppenGruppe und SzenenSzene, vergnügen sich am Spiel mit Sprache und an der Abwandlung von Gewohntem und setzen die Wirkung eines solchen Sprachgebrauchs oft bewusst ein.

 Schließlich erfreut sich das Thema Jugendsprache einer großen Beliebtheit im schulischen Sprachunterricht – und in der universitären Lehre. Nicht nur Lehramtsstudierende wollen etwas über die Jugendsprache und an der Jugendsprache lernen und Einsichten in Gebrauchsweisen der deutschen Sprache gewinnen.

 

Die vorliegende Einführung will mit dem vielschichtigen Phänomen der Jugendsprache vertraut machen. Zunächst werden öffentliche Diskurse und mediale Konstruktionenmediale Konstruktion von Jugendsprache aus kulturanalytischerkulturanalytisch Sichtweise erörtert. Anschließend werden Grundlagen und Entwicklungen der Jugendsprachforschung in Deutschland aufgezeigt. Im Zentrum stehen deutsche Jugendsprachen in ihren gesellschaftlich-historischen Erscheinungs- und Funktionsweisen in Geschichte und Gegenwart. Neben frühen Formen von Studenten- und Schülersprachen werden Entwicklungsetappen von Jugendsprachen in der jüngeren deutschen Sprachgeschichte nach 1945 bis zur Gegenwart verfolgt. Auf der Grundlage der in aktuellen theoretischen Konzepten der linguistischen Jugendsprachforschung vertretenen Heterogenitätsthese wird dabei nach jugendtypischen Merkmalen des Sprachgebrauchs, also nach Typizität in der HeterogenitätHeterogenität gefragt. Ein Ausblick auf Jugendsprachen in Schule und Unterricht schließt die Darstellung ab.

Die Einführung soll Studierende der Sprach- und Kulturwissenschaften zu wissenschaftlicher Eigenarbeit und empirischen Erkundungen anregen und angeleitetes forschendes Lernen ermöglichen. Dabei kann die hier notwendige Beschränkung auf deutsche Jugendsprachen und die Konzentration auf die deutschsprachige Jugendsprachforschung durch kontrastivekontrastiv Analysen von Jugendsprachen in anderen Ländern und Kulturen und durch den einschlägigen internationalen Forschungstand erweitert werden. Die weiterführenden Literaturhinweise können zur vertiefenden Lektüre für spezifische Fragestellungen genutzt werden. Schließlich möchte die Einführung dazu beitragen, der Perspektivenverengung des Themas Jugendsprachen in der Medienöffentlichkeit entgegen zu wirken und den linguistischen wie interdisziplinären Perspektivenreichtum aufzuzeigen.

Abschließend sei vielen an dieser Stelle für das Zustandekommen dieser Einführung gedankt: den Studierenden für ihr nicht nachlassendes Interesse und ihre Erwartungen, Freunden und Kollegen im In- und Ausland für wertvolle Hinweise und Chancen zum fachlichen Austausch, den Jugendlichen, Eltern und Lehrkräften für das entgegengebrachte Vertrauen in unseren Gesprächen, meiner Familie für Geduld und Ermutigung. Nicht zuletzt danke ich meinen Mitarbeitern für ihre Unterstützung, ganz besonders Kerstin Runschke für die Hilfe bei der Manuskripterstellung.

Eva Neuland September 2008

I Zur Einführung
1 Jugend und Jugendsprache im Spiegel öffentlicher Meinungen

Jugendsprache als Praxis eines besonderen Sprachgebrauchs Jugendlicher ist sehr viel älter als der linguistische Forschungsgegenstand Jugendsprache. Die Entwicklung einer linguistischen Jugendsprachforschung, die in Deutschland erst auf eine knapp 30-jährige Geschichte zurückblicken kann, verdankt sich nicht allein wissenschaftsinternen Motiven; vielmehr wurde ein solches Forschungs- und Erkenntnisinteresse in besonderer Weise durch den gesellschaftlichen Bedingungsrahmen begünstigt. Jugendliche Verhaltensweisen und damit auch das Sprachverhalten Jugendlicher wurden in einem bestimmten historischen Moment zu einem gesellschaftlichen Problem, das in der öffentlichen Diskussion zwar ausgiebig thematisiert wurde, dessen „Lösung“ jedoch wissenschaftliche Analysen erforderlich machten. Jugendsprache wurde so zum Thema öffentlicher Diskussion, noch bevor sie Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung war.

Dies sei im Folgenden an Beispielen einiger Entwicklungsstationen der letzten 40 Jahre veranschaulicht.

1.1 JugendrevoltenJugendrevolte als Indikatoren gesellschaftspolitischer KonflikteKonflikt

Gegen Ende der 70er Jahre machten Jugendliche in Deutschland, in der Schweiz wie auch in anderen westeuropäischen Ländern ihren Unmut über sie unmittelbar betreffende gesellschaftspolitische Zustände in sog. „JugendrevoltenJugendrevolte“ laut, mit denen sie sich autonome Handlungsräume erkämpfen wollten. Insbesondere wurden die Schließung „autonomer Jugendzentren“1Müller-Münch, Ingrid sowie die Räumung besetzter Häuser zum Auslöser von Protesten der Jugendlichen. Mit spektakulären Aktionen brachen Jugendliche aus dem von der politischen Öffentlichkeit unterstellten gesellschaftlichen Konsens aus. Als besonderes Ereignis bleibt ein Hearing des ZDF2Jugendrevolte mit Politikern und jugendlichen Hausbesetzern in Erinnerung. Als diese sich nicht mehr an die vorgegebenen Regeln des Mediendiskurses hielten, wurde die Live-Sendung abgebrochen.

Die jugendlichen Hausbesetzer einte nicht unbedingt ein explizites politisches Programm, wie es in der vorhergehenden Schüler- und Studentengeneration der APO der Fall war3; sie einte vor allem ihr Anspruch auf Autonomie und Selbstbestimmung. Dieser Anspruch manifestierte sich auch in ihrem Sprachgebrauch. In der politischen und medialen Öffentlichkeit wurde alsbald von einem „Jugendproblem“ gesprochen und die damalige GenerationGeneration der Jugendlichen als „Null Bock-GenerationNull Bock-Generation“ etikettiert.4Haller, MichaelOltmanns, ReimarBrückner, PeterKraushaar, Wolfgang

Abb. I.1.1:

Titelblatt HallerHaller, Michael 1981

Das Jugendproblem wurde zum Auslösefaktor für eine ganze Welle populärwissenschaftlicher Betrachtungen, aber auch wissenschaftlicher Analysen und groß angelegter empirischer Untersuchungen. So entstanden vor allem die sog. Shell-StudienShell-Studie, die seit Beginn der 80er Jahre auf der Grundlage von repräsentativen Befragungen und Einzelfallstudien Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen von Jugendlichen dokumentieren.5 Vereinzelt wurden aber bereits kritische Stimmen laut, die sich gegen das Aushorchen der „gläsernen“ Jugendlichen wandten und, wie der Jugendforscher Hartmut GrieseGriese, Hartmut, politisch geltend machten, dass Jugendprobleme verschleierte bzw. verschobene Gesellschaftsprobleme sind und von daher auch auf der Ebene des sozialen und kulturellen WandelsWandelkultureller diskutiert werden müssen.6Griese, Hartmut In der Öffentlichkeit herrschte hingegen weithin eine Problemverschiebung auf den Fokus des GenerationskonfliktsGenerationskonflikt und eine Perspektivenverengung auf die Kritik an den Umgangsformen und sprachlichen Ausdrucksweisen von Jugendlichen vor.

1.2 Jugendsprache als Symptom für „SprachverfallSprachverfall“?

Mit den JugendrevoltenJugendrevolte sind aber auch die sprachlichen Äußerungsformen Jugendlicher zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung geworden. In ganz unterschiedlich motivierten Zusammenhängen wurde in der damaligen Zeit „die Jugendsprache“ von Vertretern aus Politik und Wirtschaft, aber auch von Eltern- und Lehrerschaft als „FäkalspracheFäkalsprache“ oder auch „ComicspracheComicsprache“ abgewertet und als Exempel für Normverweigerung, für SprachverfallSprachverfall bis hin zur SprachlosigkeitSprachlosigkeit kritisiert. Während der Vorwurf der Verwendung „unanständiger“ Ausdrücke von Jugendlichen sich bis in die Sprachgeschichte zurückverfolgen lässt, ist die Kritisierung als eine „Comicsprache“ terminologisch neu und lenkt den missbilligenden Blick auf die Verwendung von Laut- und Kurzwörtern.1 Doch ist das dahinter stehende Argument, dass Jugendliche keine Grammatik mehr beherrschen und kein SprachgefühlSprachgefühl mehr haben würden, zumindest aus der Tradition der SprachpflegeSprachpflege und SprachkritikSprachkritik der Nachkriegszeit bekannt.

Der Topos der SprachlosigkeitSprachlosigkeit und speziell der Gesprächsunfähigkeit ist im politischen Kontext der Zeit besonders aufschlussreich. Die Dokumentation des Schriftstellers Peter RoosRoos, Peter „Kaputte Gespräche“ hat solche Äußerungen von Vertretern der politischen Öffentlichkeit und fast aller Parteien festgehalten.

Abb. I.1.2:

Titelblatt RoosRoos, Peter 1982

So klagte die Literaturwissenschaftlerin und damalige CDU-Abgeordnete Gertrud Höhler in einer Wochenzeitung über ein Gespräch mit Gymnasiasten:

Diese Jugend, wenn sie uns ihre Formeln fürs Weltgeschehen auftischt, redet gar nicht mehr mit uns. Sie schirmt sich durch Sprachsignale ab, die ihre Gruppensolidarität stabilisieren.2Roos, Peter

Und ein ähnlicher Tenor spricht aus dem folgenden Zitat des damaligen SPD-Abgeordneten Peter Glotz:

Es gibt ja eine breiter werdende Diskussion über den Narzissmus der jungen Generation, also einen ganz bestimmten psychologischen Zug, das In-sich- selbst-Zurückziehen und die Nachteile, die daraus für das Persönlichkeitsbild entstehen, eben die Kommunikationslosigkeit, dieses stumme In-sich-Zurückziehen-und-dort-die-Gefühle-Selbermachen, sozusagen ohne Außenwelt.3Roos, Peter

Verallgemeinernd kann festgehalten werden: Wann immer vom drohenden „SprachverfallSprachverfall“ oder gar vom „Verlust der Schriftkultur“ die Rede ist, wurde und wird die Sprache der Jugendlichen als abschreckendes Beispiel genannt:

 Vertreter aus Industrie und Wirtschaft beklagen nachlassende Grammatik- und vor allem Rechtschreibkenntnisse bei jugendlichen Berufsanfängern.

 Lehrer wie Hochschullehrer kritisieren Ausdrucksschwächen und mangelndes SprachgefühlSprachgefühl bei Schülern und Studierenden.

 Politiker und Journalisten haben bei einer ganzen Generation „DialogverweigerungDialogverweigerung“, ja, „DialogunfähigkeitDialogunfähigkeit“ diagnostiziert.

 In Leserbriefen machen Zeitungsleser ihrer Empörung über den „Vulgärjargon“„Vulgärjargon“ und das „Comicdeutsch“ Jugendlicher Luft.

Solche Negativurteile über die Sprache Jugendlicher sind in der deutschen Sprachgeschichte nicht neu. Neu jedoch ist ihre massenmediale Verbreitung in der Öffentlichkeit. Presseberichterstattung und publizistische SprachkritikSprachkritik tragen oft maßgeblich zu solcher Meinungsbildung bei.

Dies demonstriert exemplarisch jener bereits oft zitierte Titel der Wochenschrift DER SPIEGEL „Deutsch: Ächz, Würg. Eine Industrienation verlernt ihre Sprache“ vom Juli 1984:

Abb. I.1.3:

Titelblatt DER SPIEGEL 1984

Zum Beleg der These vom SprachverfallSprachverfall werden in bunter Mischung Zitate und Beispiele präsentiert: kommunikationstechnologische Entwicklungen, zunehmender Gebrauch der neuen elektronischen aber auch extensive Nutzung der audiovisuellen Medien, das Vorherrschen von Piktogrammen und Formularvordrucken im alltäglichen Leben. Bemerkenswerterweise werden aber auch die Reformkonzepte des Deutschunterrichts und der BildungspolitikBildungspolitik der 70er Jahre in einem Atemzug für die vermeintlichen Verluste an Schriftsprachkultur verantwortlich gemacht.

Die öffentliche Verbreitung solcher subjektiven Meinungsäußerungen, die durch keinerlei wissenschaftliche Belege gestützt werden, erweist sich als mehrfach problematisch4Neuland, Eva:

 Einerseits trägt sie zu einer vorschnellen und einseitigen bis hin zu sachlich falschen Meinungsbildung in der Öffentlichkeit bei mit dem Effekt, dass Veränderungen im Sprachgebrauch oft als Fehler, Mängel oder Defizite angesehen werden, während sie vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt aus als übliche Prozesse von SprachwandelSprachwandel beschrieben werden. Die Linguistik bezeichnet solche Laienurteile über „SprachverfallSprachverfall“ als einen „Mythos“5Klein, Wolfgang und als „Mär vom Yeti“6Sieber, Peter/Sitta, HorstSitta, Horst.

 Andererseits ist aber eine solche Berichterstattung problematisch im Hinblick auf die Folgerungen, die daraus gezogen werden. Diese zeigen sich vor allem im Bereich der BildungspolitikBildungspolitik, wenn etwa gefordert wird, dass im Deutschunterricht wieder mehr traditioneller Grammatikunterricht erteilt und klassische Literatur auswendig gelernt werden soll.

Diese Prozesse veranschaulicht das folgende Beispiel eines Pressekommentars der Tageszeitung: Die Welt aus dem Jahr 1986 über eine wissenschaftliche Konferenz, auf der eine Meinungsumfrage zu Thema: Veränderungen im heutigen Deutsch vorgestellt wurde.7Stickel, Gerhard/Volz, Norbert Meinungen über den Sprachgebrauch werden dabei vorschnell als Tatsachenfeststellungen ausgegeben und die Schuld am vermeintlichen „SprachverfallSprachverfall“ den Reformen des Deutschunterrichts zugeschrieben.

 

Der Kommentar: Sprachverfall

[…] Mehr als achtzig Prozent der Befragten sehen das Deutsche auf der Straße des Verfalls. Die Verschlampung der Sprachregeln, das Fachchinesisch der Experten, die Null-Bock- und Sprechblasensprache der Jugendlichen und die Überflutung mit Fremdwörtern werden meistens beklagt – und es ist kein Wunder, daß diese Erscheinungen den Älteren am meisten auffallen: sie haben in ihrer Jugend noch einen gründlichen, an der Hochsprache der Klassiker geschulten Deutschunterricht erhal- ten. […] Was man die gehobene, formvollendete Ausdrucksweise nennt, was in unse- ren Nachbarländern im Westen wie übrigens im Osten mit Recht Kultursprache heißt, das verhöhnen Linguisten und Didaktiker als „elaborierten Code“. Statt Grammatik und Goethe setzten sie den Kindern Bierdeckel und Plakate als Themen des Deutsch- unterrichts vor. Man muß sich nicht darüber wundern, daß dadurch Sprachwissen und Sprachbeherrschung für eine ganze Generation vergeudet und zerstört wurden. […]

(In: Die Welt, 15.03.1986: Sprachverfall, Kommentar von D. Guratzsch)

Eine andere Sicht auf die These von der Jugendsprache als Symptom für SprachverfallSprachverfall sowie für DialogunfähigkeitDialogunfähigkeit erschließt sich allerdings, wenn einige der damals tatsächlich stattgefundenen Gespräche zwischen Politikern und Jugendlichen mit den Mitteln der GesprächsanalyseGesprächsanalyse genauer untersucht werden. Die o.g. Publikation des Schriftstellers Peter RoosRoos, Peter von 1982 unter dem bezeichnenden Titel „Kaputte Gespräche“ dokumentiert ein solches Gespräch des damaligen Bundeskanzlers Schmidt mit einer Gruppe von Lehrlingen im Bundeskanzleramt. Roos hat dieses Gespräch nicht nur auszugsweise dokumentiert, sondern zugleich auch aus zeitgenössischer Sicht und stellvertretend für die Jugendlichen kommentiert. Dabei weist er auf, dass die Gründe für das Misslingen von Gesprächen nicht einseitig und verkürzt den Jugendlichen angelastet werden können, die sich mit ihren ZwischenrufenZwischenrufe aus der Sicht der Politiker und der von ihnen bestimmten Gesprächsführung nicht mehr an die Regeln halten.

Gesprächsanalytisch lässt sich zeigen, dass im Verlauf des politisch inszenierten Dialogs den Jugendlichen immer mehr die Rolle von Zwischenrufern zugewiesen wird. Die in den 80er Jahren vorgebrachte These von der vermeintlichen „DialogunfähigkeitDialogunfähigkeit“ von Jugendlichen kann zum großen Teil als eine vordergründige politische Taktik entlarvt werden, missliebige Meinungen und veränderte Sprachgewohnheiten Jugendlicher zu diskreditieren. Dass eine solche „Dialogunfähigkeit“ von Jugendlichen nicht generell gegeben ist, sondern vielmehr punktuell hergestellt wurde, dies zeigen andere „Dialoge“ mit der Jugend von Politikern, denen es besser gelungen ist, mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen.8