Das Unbehagen im Frieden

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Das Unbehagen im Frieden
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„Friede macht Reichtum, Reichtum macht Übermut, Übermut bringt Krieg, Krieg bringt Armut, Armut macht Demut, Demut macht wieder Frieden.“

Johann Geiler von Kaysersberg (1445–1510),

Straßburger Dom- und Volksprediger des späten Mittelalters

INHALT

Cover

Title

Einleitung

Evidenz 1: Gute Zeiten erhöhen den menschlichen Selbstwert und somit die Aggressionsbereitschaft

Evidenz 2: Menschen suchen im Risiko einen emotionalen Kick

Evidenz 3: Neurokognitive Gewöhnungsprozesse dämpfen die Wahrnehmung von Risiko, Leid und Zerstörung

Evidenz 4: Bedürfnis nach Stimulation und die Flucht aus der Langeweile

Evidenz 5: Menschen fühlen sich besser, wenn sie sich das Leid anderer ansehen (sozialer Abwärtsvergleich)

Evidenz 6: Angst und Faszination des Todes

Evidenz 7: Positive Illusionen des Menschen über sich selbst und seine Gruppenmitgliedschaft

Evidenz 8: Gruppen und Risikobereitschaft

Evidenz 9: Ingroup-Outgroup-Phänomen und soziale Identität in Gruppen

Evidenz 10: Bystander-Effekt: Warum helfen wir Menschen nicht, die leiden?

Evidenz 11: Kognitive Fehler des Menschen: Die Begrenztheit menschlicher Vernunft und Entscheidungsfähigkeit

Wie können wir bessere Menschen werden? Gibt es psychologische Hoffnung auf den Menschen 2.0?

Psychologische Strategien

Situative Strategien: Menschen brauchen mehr Kontrolle über ihre Umwelt

Frauen an die Macht

Psychologisches Wissen über Denken, Fühlen und Verhalten

Was ist Denken (Kognition)?

Ein neuronales Netzwerk

Was ist Fühlen (Emotion)?

Wie beeinflussen Gedanken und Gefühle das Verhalten von Menschen?

Menschen brauchen die Möglichkeit, kognitive Spannungen abzubauen

Ausblick

Literatur

Online

Autoren

Impressum

Einleitung

In diesem Buch gehen wir der Frage nach, ob und warum wir Menschen nach längeren Phasen positiver gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklung immer wieder abgleiten in unangemessene Konfliktfreudigkeit und gefährliche Risikobereitschaft. Zur Beantwortung dieser Frage werden grundlegende psychologische Prozesse identifiziert und an aktuellen Beispielen des Weltgeschehens illustriert. Die hier recherchierten Phänomene stützen unsere Hypothese, wonach wir aus positiven sozial-psychologischen Zuständen – aus welchem Grund auch immer – wieder und wieder der Friedfertigkeit den Rücken kehren müssen, rein in die Aggression und in den Konflikt. Kann es sein, dass uns Menschen nach einer Zeit des wirtschaftlichen Wohlstands langweilig wird und wir deshalb wieder ins Risiko driften? Ein Gedanke, der nicht neu und doch heutzutage von enormer Relevanz ist. Gerade die immer wieder (vielleicht auch immer mehr) beobachtbare Lust am Leid anderer Menschen hat uns zu denken gegeben und war am Ende ausschlaggebend, dieses Buch zu schreiben. Es wird wissenschaftlich fundiert der Frage nachgegangen, ob es diesen paradoxen Effekt des Wohlstandsübermutes gibt und ob dieser immer wieder für unsägliches Leid in der menschlichen Weltgesellschaft verantwortlich sein könnte. Das Buch ist auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der modernen psychologischen Forschung geschrieben; es ist allerdings auch so geschrieben, dass alle, egal aus welcher Fachdisziplin sie kommen, es verstehen können. Wir sind der Ansicht, dass dieser Effekt einfach zu wichtig ist, als dass nicht jeder einzelne für sich ihn verstehen, reflektieren und nach Möglichkeit gegensteuern können sollte. Doch was genau ist damit gemeint? Hierfür lassen sich zahlreiche Beispiele aufführen: So etwa finden wir in Medienberichten immer häufiger Fälle, in denen Gaffer Unfälle und andere kritische Situationen beobachten und sogar filmen, ohne selbst zu helfen. Wenn man versucht, sie vom Unfallort zu entfernen, dann reagieren viele aggressiv. Beinahe so, als wäre es für sie in dieser Situation das Befriedigendste, das Leid der anderen Menschen zu beobachten. Die Digitalisierung und Allgegenwärtigkeit sozialer Medien könnte diesen psychologischen Prozess und das damit verbundene Bedürfnis der Lust am Leid der anderen zunehmend befeuern. Doch lassen Sie uns auch einmal einen Blick auf aktuelle politische Entwicklungen in Deutschland und anderen Teilen der Welt werfen und diese psychologisch analysieren.

In Deutschland leben wir – gesamtgesellschaftlich betrachtet – in einer Zeit, die bezogen auf den sozioökonomischen Wohlstand vergleichbar ist mit den Jahren des Wirtschaftswunders oder den Jahren unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung. Die Arbeitslosigkeit ist auf einem Rekordtief, der Deutsche Aktienindex ist auf Rekordhöchststand und noch nie wurden in Deutschland so viele Immobilien gekauft wie in den letzten Jahren. Umso erstaunlicher ist es, dass gerade in solchen wirtschaftlich und gesellschaftlich guten Zeiten rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien einen derartigen Zulauf verzeichnen – ein Phänomen, das sich allerdings nicht nur in Deutschland wiederfindet. An sich kennen wir aus der psychologischen Forschung gegenteilige Effekte: Menschen werden autoritärer, wenn es ihnen wirtschaftlich schlecht geht oder sie sich anderweitig bedroht fühlen (vgl. zum Beispiel Fischer et al., 2007; siehe auch Tetlock, 2002). Wir kennen allerdings nicht den Effekt, dass Menschen im großen Stile autoritärer werden, wenn es ihnen wirtschaftlich besonders gut geht. Wer hätte sich jemals vorstellen können, dass in Deutschland, nach allem, was in der Zeit des Nationalsozialismus passiert ist, wieder eine rechtsextreme Partei in den Bundestag einziehen würde? Der Rechtsextremismus hat in Deutschland zur industriellen Vernichtung von Menschen geführt, zu Massenmord an Juden in einem nicht vorstellbaren Ausmaß, zum dunkelsten Punkt der gesamten Menschheitsgeschichte. Und jetzt, gerade wenn es den meisten von uns so gut geht wie seit langem nicht mehr, wählen wir wieder Politiker, die die deutsche Schuld leugnen, die Holocaust-Mahnmale verunglimpfen und das Leid und den Tod von Millionen von Menschen plötzlich nicht mehr wahrhaben wollen. Ist dies wissenschaftlich erklärbar? Kann man hier vielleicht sogar eine sozialpsychologische/allgemeinpsychologische Gesetzmäßigkeit ableiten? Wir denken: Ja.

Das vorliegende Buch geht der Frage nach, ob eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Sättigung nicht auch dazu führen kann, dass wir plötzlich wieder nach rechts abdriften. In anderen Worten: Wir behaupten, dass es Menschen in besonders guten Zeiten so „langweilig“ werden kann, dass sie dann wieder „action“ suchen. Gesellschaftliche Umwälzungen sind dabei ein willkommener Anlass, denn sie sind neu, spannend, aufregend. Man weiß nicht, was am Ende rauskommt. Es kommt einem so vor, als ob es für viele Menschen nach einer langen Phase des Friedens und Wohlstands wieder an der Zeit ist, etwas zu „zündeln“. Wer aktuell in die Welt blickt, sieht so oft einen Rechtsruck und gesellschaftliche Experimente: Trump, Brexit, die AfD. Die Wähler heben dabei Menschen ins Amt, die das negative Potenzial haben, die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal zu ändern. Sie gehen das Risiko ein, dass dies alles nicht gut gehen wird. Dennoch: Sie gehen es überall auf der Welt ein. Ähnliche Effekte kennt man auch aus dem psychologischen Labor. Beispielsweise konnten Timothy Wilson und Kollegen (2014) in ihrer Studie eindrucksvoll zeigen, dass sich Menschen lieber einen leichten Schmerz zuführen, als gar keine Ablenkung (sensorischen Input) zu erhalten. In dieser Studie mussten Versuchspersonen 15 Minuten in einer reizarmen Umgebung, sprich ohne Bilder an den Wänden, ohne etwas zum Lesen oder dem Handy, warten. Die einzige Vorgabe bestand darin, sich durch Gedanken an ein frei gewähltes Thema selbst zu beschäftigen und wach zu bleiben. Zusätzlich hatten die Teilnehmer die Möglichkeit sich während dieser Zeit leichte Elektroschocks über eine Elektrode zu verpassen. Das erschreckende Ergebnis: Mehr als zwei Drittel der männlichen Versuchspersonen und jede vierte weibliche Teilnehmerin erteilte sich freiwillig während der Wartezeit mindestens einen leichten Elektroschock.

 

In dieser Abhandlung wird der Effekt des Wohlstandsübermutes aus verschiedenen psychologischen Perspektiven beleuchtet. Wir werden moderne psychologische Theorien und Erkenntnisse auf diesen Effekt anwenden. Hierdurch wird offensichtlich, dass es insgesamt sehr viele empirische Belege dafür gibt, dass wir Menschen ein großes Problem damit haben, positive Zustände wie Frieden, Wohlstand und Freude langfristig „auszuhalten“. Die hier geschilderten psychologisch-theoretischen Ansätze umfassen sowohl individualpsychologische Erklärungen als auch gruppenpsychologische Erklärungen. Aus unserer Sicht ist dies aktuell einer der seriösesten und hilfreichsten Herangehensweisen an die Vorhersage von menschlichem Verhalten.

Die klassische und moderne Persönlichkeitspsychologie (Individualpsychologie) zeigt, dass in uns allen bestimmte Persönlichkeitseigenschaften stecken. Diese sind zum einen biologisch angelegt und zum anderen in der frühkindlichen (und zum Teil auch späteren) Sozialisation erlernt worden. Das Zusammenspiel von Biologie und Umwelt ergibt das, was wir „Persönlichkeit“ nennen. Alle Menschen sind absolut heterogen in den Ausprägungen und Kombinationen ihrer Persönlichkeitseigenschaften; kein Mensch ist in seiner Persönlichkeit identisch mit einem anderen Menschen (zumindest wäre dies extrem unwahrscheinlich). Allerdings gibt es gewisse gemeinsame Nenner wie zum Beispiel die sogenannten „Big Five“. Nach einer längeren Entwicklungsgeschichte dieses Persönlichkeitsmodells waren es unter anderem Costa und McCrae (1992), die zeigen konnten, dass die DNA menschlicher Persönlichkeit grob in fünf messbare Eigenschaften eingeteilt werden kann: Neurotizismus (emotionale Labilität), Extraversion (Geselligkeit), Offenheit für Erfahrung, Gewissenhaftigkeit und soziale Verträglichkeit (Rücksichtnahme und Empathie).

Die Persönlichkeit eines Menschen ist maßgeblich für seine Entscheidungen und sein Verhalten verantwortlich. Ein Ziel der Psychologie besteht darin, Verhaltensweisen zu prognostizieren. Meist geschieht dies dadurch, dass Prognosen aufgrund von Wahrscheinlichkeiten gemacht werden. Ein Studienergebnis einer Meta-Analyse von Wicker aus dem Jahr 1969 etwa zeigt eine teilweise große Spanne zwischen unserer Einstellung zu einer Sache und unserem späteren tatsächlichen Verhalten. Sprich, was Menschen sagen, stimmt nur zu etwa einem Drittel mit dem überein, was sie später auch wirklich tun – und das, obwohl uns allen viel daran gelegen ist, konsistent, vorhersagbar und damit vertrauenswürdig zu erscheinen. Das spezifische Verhalten von Einzelnen lässt sich zwar grundsätzlich schwer vorhersagen, aber immer noch am besten mit den Erkenntnissen der Persönlichkeitspsychologie. Man erinnere sich nur an den Skandal um Cambridge Analytica (2018), denen vorgeworfen wird, dass sie auf Basis von Facebook die Daten (Likes) von Millionen von Nutzer entsprechend der Big Five eingeteilt haben, um damit vorherzusagen, wer potenziell Trump-Wähler sein könnte oder nicht. Entsprechend dieser psychologischen Analyse kann zudem die Einstellung von Wählern durch eine entsprechende Kommunikation manipuliert werden. Mögliche Methoden sind hier zum Beispiel die maßgeschneiderte (Wahl-)Werbung, die den Empfänger in seinem Verhalten beeinflussen soll (Cadwalladr, 2018). Der Psychologe Michal Kosinski und seine Kollegen hatten bereits im Jahr 2013 gezeigt, wie zu diesem Zeitpunkt leicht zugängliche Facebook-Daten dazu verwendet werden können, um Aussagen über Personen zu machen: etwa über deren sexuelle Orientierung, kulturelle Abstammung, Persönlichkeit, Intelligenz oder eben auch ihre politische Orientierung (Kosinski, Stillwell, & Graepel, 2013).

Wie bereits angesprochen, sind Menschen aber nicht nur Individualwesen. Neben unseren Individualausprägungen sind wir auch absolute „Gruppenwesen“, und so leiden wir sehr, wenn wir aus Gruppen ausgeschlossen werden (vgl. Williams, 2001). In einer Vielzahl von Studien konnten ForscherInnen um Kipp Williams zeigen, dass soziale Ausgrenzung desaströs negative Effekte auf das psychologische Wohlbefinden und die soziale Entwicklung von Menschen hat (Williams, 2007). Das geht so weit, dass – wie neurowissenschaftliche Studien belegen – durch das Gefühl des Ausgeschlossenwerdens unser Gehirn ein ähnliches Muster aktiviert, wie beim Empfinden von körperlichem Schmerz (vgl. Eisenberger, Lieberman und Williams, 2003). Oder einfacher gesagt: Sozialer Schmerz „tut ähnlich weh“ wie körperlicher Schmerz. Daraus lässt sich überzeugend ableiten, wie wichtig Gruppen für uns sind. Sie waren und sind in der evolutionären Entwicklung unseres Gehirns ein entscheidender Faktor. In Gruppen lässt es sich wesentlich besser überleben, lassen sich wesentlich größere und ressourcenintensive Projekte bewerkstelligen als durch eine einzelne Person. Die moderne Gruppenpsychologie zeigt in einer Vielzahl von Forschungsschwerpunkten, wie sehr und wie stark wir uns durch wahrgenommene Gruppenmitgliedschaft beeinflussen lassen. Überlegen Sie mal, wie leicht wir uns in Gruppen einteilen lassen: beim Sport, in der Arbeit oder auf einem Fest. Meist reichen schon physische Merkmale wie Haarfarbe oder Augenfarbe (siehe die klassischen Studien von Sherif, 1966; Sherif & Sherif, 1953; siehe auch Haslam, 2004).

Die Vergangenheit hat es bereits bewiesen: Zahlreiche großartige Leistungen der Menschheit konnten nur in Gruppen realisiert werden. Hierfür finden sich unzählige Beispiele, wie etwa die Internationale Raumstation ISS oder auch die Erbauung Roms. Aber auch die schlimmsten Verbrechen und Grausamkeiten der Menschen wurden in Gruppen verübt.

Menschen können bewusst und unbewusst grausam sein. In der Forschung differenzieren wir zwischen bewussten und weniger oder nicht bewussten Entscheidungen (Kahneman, 2010). Unser Anliegen ist es, dazu beizutragen, dass psychologische Effekte, die die Existenz des Friedens in Gefahr bringen können, bekannter werden. Denn vieles in unserem Denken läuft automatisch und nicht bewusst ab. Indem wir uns mancher dieser Effekte bewusst werden, können diese ihre Wirkung auf unser Verhalten ein Stück weit verlieren. Gerade die Forschungen aus der klinischen Psychologie zeigen, wie wichtig es ist, dass wir uns unserer häufig irrationalen, emotionsbasierten tieferen psychologischen Neigungen bewusst werden. Durch Bewusstmachung dieser psychologischen Prozesse werden Ängste, Sorgen und Depressionen als leichter erträglich empfunden. Der einzige Zugang, den wir Menschen zu unseren 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn haben, ist die Bewusstmachung tieferliegender psychologischer Prozesse. Der überwiegende Teil unserer Wahrnehmung und unseres tatsächlichen Verhaltens läuft unbewusst ab. Man schätzt, dass ca. 90 Prozent des menschlichen Erlebens und Verhaltens relativ automatisiert abläuft. Studien aus verschiedenen Bereichen der Psychologie aber zeigen, dass viele dieser Effekte reduziert werden können, indem man Menschen diese Effekte bewusst macht (Cassotti & Moutier, 2010). Ein gutes, heute bereits recht bekanntes Beispiel hierfür ist die erste Frage aus dem kognitiven Reflexionstest von Shane Frederick (2005). Machen Sie doch gleich mit und versuchen Sie, diese Frage spontan zu beantworten:

Ein Schläger und ein Ball kosten zusammen 1 Euro und 10 Cent. Der Schläger kostet 1 Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?

Die spontane Antwort vieler Menschen ist: 10 Cent. Allerdings ist diese impulsive Antwort, die meist automatisch kommt, falsch. Denn würde der Ball 10 Cent kosten, läge der Schläger bei 1,10 Euro und die Summe von Schläger und Ball bei 1 Euro und 20 Cent. Die korrekte Antwort ist daher: 5 Cent. Sie können es gerne nachrechnen!

Sollten Sie dieses Beispiel noch nicht gekannt haben, ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass ein aufwändigerer Prozess nötig war, um die korrekte Antwort zu erschließen – verglichen z. B. mit der Antwort auf die Frage: Was ist das Produkt aus 2 x 2? Problematisch bei diesen unbewussten Fehlern ist zudem, dass wir beim Begehen auch kein Gefühl dafür haben, dass wir falsch liegen könnten. Daher zweifeln wir die Entscheidung auch eher selten an. Allerdings lässt sich die Motivation von Menschen, die eigene Entscheidung noch einmal zu überdenken, erhöhen. Oft reicht es schon, wenn eine Person selbst erlebt, dass auch ihr solche Fehler passieren können. Manchmal reicht auch der Warnhinweis „nicht in die Falle gehen“. Allerdings finden sich in unserem Alltag selten derlei Hinweise und wenn, dann wird ihnen oftmals wenig Beachtung geschenkt.

Das Bewusstmachen psychologischer Prozesse ist bisweilen die einzige effektive Möglichkeit, um unsere kognitiven Prozesse zu beeinflussen. Allerdings ist der Zugang zu uns selbst häufig verzerrt. Oft überschätzen wir unsere Fähigkeiten und Attribute. Vor allem, wenn wir uns mit dem Durchschnitt vergleichen. Dann nehmen wir uns aus Gründen des Selbstwertschutzes als bessere Menschen wahr, als wir vielleicht sind. Beispielsweise können Menschen an einem Bettler vorbeilaufen und zugleich den Eindruck haben, dass sie selbst ein sehr prosozialer Mensch sind. Aber bisher haben wir nichts Besseres als Aufklärung über psychologische Prozesse, also Psychoedukation! Zwar können wir das biologisch-kognitive System mittlerweile recht gut an digitale Systeme koppeln, das heißt wir können Signale im Gehirn gut messen und zur Steuerung digitaler Prozesse verwenden. Allerdings können wir von extern Prozesse im Gehirn noch nicht langfristig verändern. (Ob dies aus ethischer Sicht aber tatsächlich erstrebenswert wäre, ist natürlich fraglich.) Daher liegt der einzige Weg zur Veränderung bislang im Bewusstmachen möglichst vieler tief in uns „schlummernder“ psychologischer Prozesse, wie zum Beispiel Denkprozesse (Kognition), Gefühle (Emotion), Einstellungen und Verhaltensintentionen. In anderen Worten: Wir müssen das bewusste Denken über mögliche Prozesse, Fehler und Fallstricke im automatischen Denken informieren – zum Beispiel durch Lernen, Lesen, oder Reflektieren. Dies tun wir im vorliegenden Buch zu dem uralten menschlichen Problem, dass wir anscheinend Wohlstand und Frieden nicht lange aushalten/ aufrechterhalten können. Immer wieder, so scheint es, überwiegt das Streben auszubrechen und Konflikt, Aggression und Zerstörung anzuzetteln: Sei es alleine oder in Gruppen oder gleich in ganzen Nationen. Doch ist dem wirklich so und wenn ja, warum? Diesen Fragen wollen wir aus verschiedenen psychologischen Perspektiven nachgehen.

Evidenz 1:
Gute Zeiten erhöhen den menschlichen Selbstwert und somit die Aggressionsbereitschaft

Menschen empfinden ihr Wissen über sich selbst, also über die eigene Person, als so etwas wie einen inneren psychischen Kern. Man spricht hier auch vom Selbstkonzept, das ein jeder von sich hat (Frey & Gaska, 1993). Dieses Selbstkonzept ist bei den meisten psychisch gesunden Menschen so angelegt, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie ihren eigenen Wert als Mensch systematisch überschätzen (Taylor & Brown, 1988). Wir haben das Gefühl, dass wir überdurchschnittlich attraktiv, sympathisch und begabt sind (Williams & Gilovich, 2012). Im Bereich des Autofahrens zeigt das beispielsweise eine Studie von Svenson (1981). Hierbei wurden 161 Studierende in Schweden und den USA hinsichtlich ihrer Fahrfertigkeiten befragt. Das Ergebnis war: 93 Prozent der US-amerikanischen und 69 Prozent der schwedischen Gruppe schätzten ihre Fahrfertigkeiten als überdurchschnittlich ein. Studienergebnisse wie dieses finden sich in der psychologischen Forschung zahlreich. Neben dem Überschätzen der eigenen Fähigkeiten haben wir außerdem oft das Gefühl, dass unsere Entscheidungen und Handlungen wichtiger sind als die der anderen Menschen (Taylor & Brown, 1988; Fischer, Greitemeyer, & Frey, 2007); darüber hinaus glauben die meisten von uns, dass sie selbst die Welt um sich herum realistischer sehen, als es die Mitmenschen tun (auch bekannt unter dem Begriff bias blind spot [auf Deutsch etwa Verzerrungsblindheit]; Kahneman, 2010). In anderen Worten: Menschen „leiden“ sozusagen „konstruktionsbedingt“ unter Selbstüberschätzung. Dies ist jedoch – sofern in adäquatem Rahmen – auch gut für das Individuum. Schon allein deshalb, weil es sich gut anfühlt, zumindest in der eigenen Wahrnehmung zu den Besten zu gehören oder aber wenigstens über dem Durchschnitt zu liegen. Lange Zeit jedoch wurde von verschiedenen Theoretikern angenommen, dass eine realistische Wahrnehmung der eigenen Person und der Welt entscheidend für eine gesunde psychische Konstitution und Entwicklung ist (Jahoda, 1958): „Die Wahrnehmung der Realität wird als geistig gesund bezeichnet, wenn das, was der Einzelne sieht, dem entspricht, was tatsächlich da ist“ (Jahoda, 1958, S. 6). Eine gesunde Wahrnehmung sei der Prozess, die Welt ohne Verzerrung so zu betrachten, wie sie ist, auch wenn man sie sich anders wünscht (1953, S. 349, nach Taylor & Brown, 1988, S. 194). Seit den 1980er-Jahren jedoch häufen sich Studien, die eben diese These widerlegen. Gerade eine etwas überhöhte, positive Selbstwahrnehmung, ein erhöhtes Maß an empfundener Kontrolle und unrealistischer Optimismus sind charakteristisch für das „normale“ menschliche Denken (Tayler & Brown, 1988). Wenn wir dieses Gefühl der Selbsterhöhung nicht erzeugen könnten, dann würden wir sehr wahrscheinlich über kurz oder lang depressiv werden und keinen oder nur wenig Fortschritt erzielen. Studien zeigen, dass Menschen, die an einer klinischen Depression leiden, diese positiven Illusionen der eigenen Selbstübersteigerung nicht mehr erzeugen können (Tabachnik, Crocker, & Alloy, 1983; Alicke & Govorun, 2005). Es ist daher wichtig festzuhalten, dass Verzerrungen auch Gutes haben. Wenn wir jedoch an kollektives Verhalten von Menschen denken, zum Beispiel kommerzielle und nicht kommerzielle Organisationen, Regierungen, oder das Verhalten von ganzen Nationen und Kulturen, dann ist dieses Gefühl der Selbsterhöhung häufig schädlich. Meist ist uns die Gruppe, der wir angehören, wichtiger und erscheint uns besser als andere Gruppen (ingroup-outgroup- Effekt; Haslam, 2004); wir haben dann das Gefühl, dass man andere Gruppen leiden lassen kann – und das vor allem, wenn es dazu dient, die eigene Gruppe zu verschonen.

 

Was hat das mit unserer Annahme zu tun, dass Menschen immer wieder Leid und Zerstörung suchen oder zumindest tolerieren? Es ist zu erwarten, dass der Selbstwert von Menschen steigt, wenn diese in ökonomisch- politisch guten und friedlichen Zeiten leben. Wir sehen in den letzten 20 Jahren eine starke Tendenz zur Individualisierung. Wir werden uns selbst immer wichtiger; wir versuchen immer gesünder und länger zu leben, weil ja gerade wir selbst es sind, die so wichtig sind – wichtiger als alle anderen. In Zeiten des Wohlstandes steigt auch der individuelle Selbstwert (Schmitt & Allik, 2005). Gerade dieser gesteigerte Selbstwert durch beispielsweise Wohlstand kann Menschen und ganze Gesellschaften anfällig für aggressive Reaktionen und Konflikte machen. Früher dachten die psychologischen Forscher, dass uns ein gefühlt hoher Selbstwert vor Aggression und Wut schützt. Es wurde gemeinhin angenommen, dass ein geringes Selbstwertgefühl als eine relevante Ursache für Gewalt angesehen werden kann (Baumeister, Smart, & Boden, 1996). Heute wissen wir, dass häufig genau das Gegenteil der Fall ist: Ein zu hoher Selbstwert und somit starke Selbstüberschätzung können dazu führen, dass wir Konflikte mit anderen Menschen als ganz besondere Frechheit empfinden. Beispielsweise zeigen Narzissmus-Studien, dass ein überhöhter Selbstwert positiv mit Aggression korreliert (Locke, 2009). Das heißt, Personen mit höheren Narzissmus-Werten weisen auch höhere Werte hinsichtlich ihrer Aggressionsbereitschaft auf. Allerdings scheint auch die Stabilität des Selbstwertgefühls hierbei eine entscheidende Rolle zu spielen. Kernis, Grannemann und Barclay konnten bereits 1989 zeigen, dass Menschen mit einem hohen, aber instabilen Selbstwertgefühl feindseliger sind als Menschen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl, ganz gleich ob stabil oder instabil. Ein aufgeblasener und instabiler Glaube an die eigene Überlegenheit ist eine der wichtigsten Ursachen für Gewalt (Baumeister et al., 1996). Es lässt sich demnach festhalten, dass nicht nur die Höhe, sondern auch die Beständigkeit des Selbstwertgefühls von Bedeutung ist. Es finden sich eine Reihe von Studien, die den Schluss nahelegen, dass das Selbstwertgefühl mit ökonomischem Wohlstand steigt (Piff, 2014). Paul Piff bezieht sich beispielsweise in seiner Untersuchung auf eine Verschiebung der Werte in der US-amerikanischen Gesellschaft. Zahlreiche empirische Belege offenbaren die Entwicklung der Gesellschaft: weg von kommunalen, kollektiven Werten, hin zu Eigeninteresse und Egoismus (Twenge, 2006; Twenge & Foster, 2008; Foster, Campbell, & Twenge, 2003). Weitere Forschungsergebnisse zeigen, dass mit dem höheren sozioökonomischen Status auch höhere Narzissmus-Werte einhergehen.

Doch warum reagieren Menschen mit hohem Selbstwert emotionaler? Eine Erklärung hierfür mag in der potenziellen Fallhöhe liegen. Diese ist bei Menschen mit hohem Selbstwert viel größer als bei Menschen mit niedrigem Selbstwert. Menschen mit hohem Selbstwert nehmen einen argumentativen Angriff viel eher als Frechheit und Beleidigung wahr als solche mit niedrigem Selbstwert. Der psychologische Kontrast ist viel größer bei hohem als bei niedrigem Selbstwert. Dies gilt sogar für Autoaggression: Roy Baumeister – einer der einflussreichsten Psychologen unserer Zeit – konnte zeigen, dass Suizid viel häufiger bei Personen mit hohem als mit niedrigem Selbstwert vorkommt (Baumeister, 1990). Ganz einfach, weil die eigenen Ansprüche an sich selbst und damit die Fallhöhe bei hohem Selbstwert größer sind. Wenn ein/e Topmanager/in seinen/ihren Job verliert, dann stürzt er/sie in der eigenen Wahrnehmung aus viel größerer Höhe ab, als beispielsweise ein Angestellter/eine Angestellte in nicht leitender Funktion. Der Kontrast von vorher zu nachher ist hier viel größer in der Wahrnehmung des Managers mit hohem Selbstwert und löst einen wesentlich stärkeren negativen Affekt aus wie etwa Depression, Aggression, Wut, oder Ärger. Das zeigen auch Untersuchungen zu emotionalen Reaktionen auf positive und negative Informationen über die eigene Person. Rhodewalt und Morf (1998) konnten zeigen, dass die Reaktionen von narzisstischen Personen extremer waren als die der Personen mit einer geringeren narzisstischen Ausprägung. Zudem schrieben narzisstischere Personen Erfolge mehr ihren eigenen Fähigkeiten zu. Dies hatte jedoch zur Folge, dass Misserfolge zu extremeren Wutreaktionen führten und mit einem als massiver erlebten Angriff auf das Selbstwertgefühl einhergingen.

Wie immens und destruktiv der Einfluss von Narzissten sein kann, zeigt Mark Stein in seinem 2013 publizierten Artikel zu narzisstischer Führung am Beispiel von Richard „Dick“ Fuld, längster und letzter Bankchef der US-Bank Lehman Brothers. Da Narzissten von einem starken Bedürfnis nach Prestige und Macht getrieben sind, finden sich viele in verantwortungsreichen Führungspositionen. Ein weiterer Grund dafür wird darin vermutet, dass einige Eigenschaften von Narzissten für die Organisation, für die sie tätig sind, überaus hilfreich sein können. Andere ihrer Eigenschaften jedoch sind äußerst destruktiv, wie Stein am Lehman-Brothers-Beispiel zeigt. Dick Fuld spielte eine zentrale Rolle in der Geschichte des Bankhauses. Während seine Persönlichkeit in den Jahren zwischen 1993 und 2005 konstruktiv für Lehman war, wendete sich das Blatt ab 2005 und endete 2008 schließlich in der Katastrophe. Dick Fuld begann 1969 als Anleihenhändler bei Lehman. Im Jahr 1994 stieg er zum Vorstandsvorsitzenden der Investmentbank auf. In dieser Zeit befand sich die Bank, die sich gerade von American Express gelöst hatte, in einer internen Krise. Der Finanzprofessor Roy C. Smith von der Stern School of Business der New York University soll hierzu gesagt haben: Lehman Brothers sei wie „eine Katze mit 19 Leben und sie hat wohl ihr 17. erreicht“ (NY Times, 1996). Im Zeitraum von 1993 bis 2005 trug Fuld maßgeblich dazu bei, eine Kultur zu schaffen, in der er umgeben war von Bewunderern und oft kriecherischen Kollegen (Stein, 2015). Joseph Tibman, ein Lehman-Insider berichtet, „er hatte immer das letzte Wort“, und das Gefühl der Allmacht, das er ausstrahlte, wurde stets von einer sehr aggressiven, kämpferischen und kompromisslosen Art begleitet. Laut Stein waren die Mitarbeiter unter anderem deshalb bereit, Fulds autokratischen Führungsstil zu akzeptieren, da es ihm gelungen war, die Kämpfe innerhalb des Unternehmens in den Griff zu bekommen. Dafür waren sie ihm dankbar. Überheblichkeit, Allmacht und Allwissenheit waren in den Jahren von 1993 bis 2005 eindeutig Bestandteil von Fulds Führungsstil. Zu dieser Zeit gibt es wenige Belege dafür, dass diese Eigenschaften Lehmans Position in bedeutender Weise geschadet hätte. Im Gegenteil, berichtet Stein weiter, es scheint, dass er ab 1993 maßgeblich beteiligt war, Lehman aus den Schwierigkeiten zu holen. Sein konstruktiver, narzisstischer Stil half ihm dabei, die Firma zu einen (Stein, 2013). Lehman ging es zu dieser Zeit sehr gut, und viele Mitarbeiter profitierten enorm von diesem Erfolg. Bezeichnend ist jedoch, dass die Warnzeichen der ab 2005 aufziehenden Subprime-/Kreditkrise von Fuld konsequent ausgeblendet wurden. Anstatt auf Warnungen zu hören, reagierte Fuld auf Meinungen, die seiner widersprachen, mit Verachtung oder Kündigung. So trat 2007 die Geschäftsführerin Christine Daley zurück, und ihr Kollege Alex Kirk folgte ein Jahr später. Die Kündigung der Risikomanagerin Madelyn Antoncic wurde weltweit bekannt: Fuld entließ sie, nachdem sie ihm regelmäßig ihre Sorgen um den Markt und um das zu hohe Risiko der Bank kundtat (McDonald & Robinson, 2009). Spätestens ab hier werden die destruktiven Eigenschaften der narzisstischen Führung für die Organisation sowie die Gefahr, die von einer von ihr gestalteten Kultur ausgeht, offensichtlich. Der Held, der das Unternehmen aus der Krise und zum Erfolg geführt hatte, weigerte sich, die neue Krise zu sehen und den Gedanken an einen möglichen Verkauf von Lehman zu akzeptieren. Im Gegenteil, Fuld sagte 2007: „So lange ich lebe, wird diese Firma nicht verkauft … und sollte sie nach meinem Tod verkauft werden, komme ich zurück aus dem Grab und werde das verhindern“ (Sorkin, 2009, S. 194). Rückblickend betrachtet hätte es zahlreiche Möglichkeiten für Fuld gegeben, mit der Krise umzugehen (Story & White, 2008).

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