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Eva Bilhuber

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Versus · Zürich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2016 Versus Verlag AG, Zürich

Weitere Informationen zu Büchern aus dem Versus Verlag unter www.versus.ch

Umschlaggestaltung: Elisabeth Aster · San Genesio Atesino · Italien

Satz und Herstellung: Versus Verlag · Zürich

ISBN 978-3-03909-751-7

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Für dich

Inhaltsverzeichnis

Warum

Erstes Rendez-vous

Wie es zu diesem Buch kam

Entdeckung

Ist das Normale noch zu retten?

Comeback eines verpönten Lebensentwurfs

Spurensuche

Ungeplante Kraft

Zwischen durchgetaktet und planlos

Wie eine alleinerziehende, berufstätige Mutter Spontanität als Lebenselixier entdeckt

Glückliche Null

Zwischen Botox- und Detoxwahn

Wie das Eingestehen von Misserfolgen einen gestandenen Manager geradewegs zum Traumjob führt

Jenseits von Rankings

Zwischen «Wie war ich» und «Ihr könnt mich mal»

Wie ein junges Mädchen und seine Mutter den Verführungen des medialen Erfolgszirkus trotzen

Konsequent voll-wertig

Zwischen Anything-goes und Prinzipienreiterei

Wie ein Unternehmer durch Ablehnung eines Auftrags zum Deal seines Lebens kommt

Luxus «Wir»

Zwischen Community-Exhibitionismus und Cocooning

Wie eine Projektleiterin mit kompromissreicher Integrität ihre Arbeitsbeziehungen beseelt

Ferien vom Selfie

Zwischen Aussteigerromantik und Selbstoptimierungsdressur

Wie ein junger Nachwuchsmanager sich selbst aus dem Spotlight rückt und sein Zentrum findet

Essenz

Es lebe das Normalsein!

Bemerkenswert, wer heute wagt, normal zu sein

Darum

Grand amour

Danke, gibt’s euch bemerkenswert Normale

Warum

«Eines der Symptome eines sich ankündigenden

Nervenzusammenbruchs ist die Empfindung,

dass die eigene Arbeit etwas ganz schrecklich Wichtiges sei.»

Bertrand Russell

Erstes Rendez-vous

Wie es zu diesem Buch kam

Es war ein sonniger und heißer Sommertag im Juli, als ich, ohne es zu wissen – geschweige denn zu wollen – den Stein für dieses Buch ins Rollen brachte. Es war der Tag, an dem der Notar beim Handelsregisteramt um exakt 17:10 Uhr mit voller Wucht seinen Stempel auf die Gründungsurkunde meiner neuen Beratungsfirma pfefferte. Was für ein kraftvoller Startschuss in meine Zukunft als Selbständige! Endlich. Beflügelt von grenzenloser Euphorie machte ich mich mit Vollgas ans Werk, meine kleine Managementberatungs-Boutique aufzubauen. Wild entschlossen, alle Manager dieser Welt zu retten, nein, was sage ich – die ganze Wirtschaftswelt!

Was folgte, waren zwölf Monate, die mir auch heute noch – mit mehr als sechs Jahren Abstand – in schmerzvoller Erinnerung sind. Erschreckend schnell machte die anfängliche Euphorie einer bitteren Ernüchterung Platz. Insbesondere immer dann, wenn ich mein Bankkonto betrachtete. «Du musst erst mal deine USP entwickeln», riet mir ein Kollege. Aha. Eine Unique Selling Propostion also. Damit ist gemeint, was mich von anderen Beratern unterscheidet, was ich außergewöhnlich gut kann, wo ich einen speziellen Wert stifte etc.

Ich verbrachte Wochen damit, nach dem Einzigartigen in meiner Beratung zu suchen. Aber irgendwie kam ich nie zu einer befriedigenden Antwort. Von der Kleidergröße bis zu den Schulnoten war bei mir immer alles normal gewesen. Gut, aber eben nicht herausragend gut. Was konnte ich also als außergewöhnlich in meiner Beratung anführen? Zunächst versuchte ich, mit speziellen thematischen Angeboten meiner Besonderheit Ausdruck zu verleihen. Dann mit meinen Publikationen und schließlich mit Referenzen – selbstverständlich von Rang und Namen … Aber egal wie viele Anstrengungen ich unternahm, mit etwas Außergewöhnlichem zu punkten, es gelang mir nicht.

Natürlich war die Lage nicht ganz aussichtslos. Es gab mal hier und da einen Auftrag, was zu einem kleinen plätschernden Taschengeld führte, aber wirklich Land in Sicht war da nicht. Und zu allem Elend streuten Freunde und Kollegen mit ihren wohlmeinenden Fragen zusätzlich Salz in die Wunde: «Na, wie läuft’s? Wie sieht die Auftragslage aus? Bist du ausgelastet?» Da verkrampfte sich bei mir regelmäßig alles und ich entwickelte eine zweifelhafte Kreativität, meine Antworten möglichst ausweichend, nichtssagend und unverfänglich zu gestalten.

Was machte ich falsch? Ich führte Gespräche mit anderen selbständigen Beraterkollegen. Aber es schien, dass ich offensichtlich die Einzige auf diesem Planeten war, die das nicht hinkriegte. Bei allen lief es immer super – nein, quatsch, ihr Laden brummte förmlich! Insbesondere bei meinen männlichen Kollegen. Es war erschütternd. Selbstzweifel packten mich und mit jedem Gespräch schwand meine Zuversicht ein Stückchen mehr. Wer sie nie erlebt hat, dem ist sie schwer zu beschreiben, diese schleichende Gewissheit, gescheitert zu sein, versagt zu haben. Ich muss gestehen, ich wollte in dieser Zeit aufgeben. Mehrmals sogar.

Es ist wohl vor allem meinem Mann, ein bisschen auch den Toten Hosen, aber letztlich einem Akquisegespräch fast genau zwölf Monate nach dem Gründungstag zu verdanken, dass es nicht so weit kam.

Es war wieder ein Tag im Juli. Diesmal allerdings bedeckt und drückend. Genau wie meine Stimmung nach bereits zwei enttäuschend verlaufenen Vorstellungsgesprächen. Eigentlich hätte ich mich ja glücklich schätzen sollen, dass ich überhaupt von Firmen eingeladen wurde. Das machte mir mein Gegenüber im letzten Gespräch an diesem Tag auch gleich doppelt unterstrichen klar. «Wissen Sie, bei uns rufen täglich mindestens zehn von Ihrer Sorte an. Ich mache da heute nur eine Ausnahme, weil unser Herr Keller mich darum gebeten hat. Und ich muss auch gleich vorwegschicken, dass ich leider nur eine halbe Stunde Zeit habe.» Na danke! Was für ein charmantes Entrée. Ich war schon völlig entnervt, bevor das Gespräch überhaupt begonnen hatte. War es die Schwüle oder diese permanente Jagd nach möglichst brillanter Selbstdarstellung, die mich so ermüdete? Ich kann es nicht sagen. Auf jeden Fall sorgte dieser Cocktail aus Erschöpfung, Frustration und Hitze dafür, dass ich mich plötzlich genau das sagen hörte, wovon alle Selbst-Branding-Ratgeber, alle Beraterkollegen und überhaupt jeglicher gesunde Menschenverstand abrät: «Okay, dann möchte ich Ihre Zeit auch nicht unnötig strapazieren – meine Geschichte ist schnell erzählt. Ich bin eine völlig normale Managementberaterin, von denen Sie da draußen so viele finden können wie Sand am Meer. Thematisch mache ich genau das, was alle anderen auch machen. Ob ich jetzt besser oder schlechter bin, kann ich Ihnen nicht sagen, das müssen Sie selbst beurteilen. Was ich Ihnen aber sagen kann, ist, was mir bei meiner Arbeit wichtig ist und wo mein Herz schlägt. Gern sage ich Ihnen dann auch noch, wo ich nicht gut bin und Sie folglich mit anderen Kollegen besser fahren.» Es war wohl der Mut purer Verzweiflung, der mich dazu getrieben hatte. Ich wollte ehrlich gesagt nur noch raus und war im Geiste schon im Auto auf dem Weg zur nächsten Tankstelle, um mich mit einem großen Kübel Karamelleis für das Ertragen dieser entwürdigenden Situation zu entschädigen.

Da geschah etwas völlig Unerwartetes. Mein Gegenüber hörte plötzlich auf, demonstrativ uninteressiert mit seinen Unterlagen zu rascheln, hob überrascht den Blick und lehnte sich entspannt in seinen Bürostuhl zurück. War da sogar ein verschmitztes Lächeln? «Das ist aber mal erfrischend ehrlich, Frau Bilhuber. Wissen Sie, Sie können es sich vermutlich nicht vorstellen, aber normalerweise fallen hier immer nur grandiose Tausendsassa ein, die alles können und in allen Themen die Besten der Besten sind! Als gäbe es nur Helden auf dieser Welt! Egal, welches Problem ich anspreche – sie haben immer eine Lösung parat und können einfach alles. Und ich frage mich immer, denken die, wir sind blöd?» Er gestikulierte dabei theatralisch, als hätte er schon lange auf den Moment gewartet, seiner Empörung endlich mal Luft machen zu können. «Sie sind die Erste, die sich traut, auch mal unverblümt zu sagen, was Sie nicht können. Das gefällt mir.»

 

Vielleicht war es Zufall. Es wurde zwar nichts mit einem Auftrag – das wäre wohl auch zu kitschig gewesen. Aber ab diesem Gespräch lief es dann mit meiner Firma und ich habe seither weitaus mehr sonnige als wolkig-drückende Tage als selbständige Managementberaterin erlebt.

Auf jeden Fall markierte dieses Gespräch aber mein erstes Rendezvous mit dem verkannten Potenzial des Normalseins. Es war jener Moment, in dem ich anfing, bewusst darüber nachzudenken, ob das häufig so verpönte Normalsein vielleicht doch besser war als sein Ruf. Konnte es tatsächlich sein, dass im Normalen eine Quelle zur Einzigartigkeit schlummert? Oder sind wir nicht automatisch zum Verlieren verdammt, wenn wir in einer Gesellschaft, die nach dem «Immer-besser-klüger-erfolgreicher»-Prinzip funktioniert, wagen, nur normal zu sein? Das Thema fing an, mich zu interessieren, und ich begab mich mit diesen Fragen – mehr intuitiv als systematisch – auf die Suche nach dem Normalen in unserer Superlativ-Gesellschaft. Als Quelle wählte ich das Leben selbst: Menschen und ihre alltäglichen persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen.

Sechs Geschichten von sechs Menschen habe ich aufgespürt, die mich entdecken ließen, dass in einer Selbstoptimierungsgesellschaft wie unserer ein normales Leben kein Makel ist. Im Gegenteil. Ihre Geschichten haben mich gelehrt, dass Normalsein etwas Einzigartiges in sich trägt, das im global zelebrierten Blitzlichtgewitter unserer Bling-Bling-Manie schlicht aus dem Blickfeld geraten ist. Indem diese Menschen wagen, ihr Normalsein zu leben, haben sie auch mich inspiriert, Normalität in meinem Leben nicht als etwas zu betrachten, was dauernd eine Kampfansage braucht, sondern im Gegenteil etwas sehr Schätzenswertes ist. Es vermehrt anklingen zu lassen, kann das Leben ungemein bereichern.

Ich bin diesen Menschen sehr dankbar, dass sie mir erlaubt haben, ihre inspirierenden Erlebnisse hier in ihrer Essenz, anonymisiert und mit diversen fiktiven Details angereichert, zu erzählen und meine persönlichen Reflexionen dazu anzustellen. Sie finden diese Geschichten im Hauptteil dieses Buches, jeweils gefolgt von einem Abschnitt mit meinen Gedanken, was ich daran für bemerkenswert normal halte. Für diejenigen, die interessiert sind, die bemerkenswert normale Seite in ihrem persönlichen Leben wieder etwas mehr anklingen zu lassen, gibt es am Schluss jedes Kapitels noch ein paar Ideen dazu. Eingerahmt wird dieser Hauptteil von einem Einführungskapitel, in welchem ich meine Wieder-Entdeckung des Normalen anhand von Alltagsbeobachtungen schildere, sowie einem Schlusskapitel, in dem ich die Essenz aus allen sechs Geschichten zusammenfasse und die verschiedenen Konturen einer bemerkenswert normalen Lebensgestaltung nochmal gesamthaft beschreibe.

Wer meint, damit nun einen weiteren Ratgeber in den Händen zu halten, der vorgibt zu wissen, wie man ein besseres Leben lebt, der wird enttäuscht sein. Auch ich weiß es nicht besser. Meine Absicht war eine andere. Ich wollte unser heutiges pulsierendes, farbiges, facettenreiches, pralles und reiches modernes Leben verstehen und mit all seiner Widersprüchlichkeit, Vagheit, Unvollkommenheit und Unschärfe aufzeigen. Mit Respekt vor jedem Einzelnen wollte ich auf einer ganz persönlichen Ebene nachvollziehen, wie es uns damit gefühlsmäßig geht und wie wir damit umgehen.

Dieses Buch hat folglich keinen Anspruch auf verallgemeinerbare Wahrheiten. Und so mag der Untertitel Von der Kunst, ein normales Leben zu führen in einer überdrehten Gesellschaft vielleicht etwas irreführend oder gar anmaßend erscheinen. Er rechtfertigt sich wohl lediglich durch meine beiden Hoffnungen, von denen ich beim Schreiben beseelt war. Einerseits hoffe ich, dass diese erfrischend lebendigen Geschichten aus dem Lebensalltag uns auf unterhaltsame Weise berühren und ermutigen, über Gegenentwürfe zum Imperativ unseres heutigen Selbstoptimierungs-Lebensideals nachzudenken. Mit einem gewissen Augenzwinkern hoffe ich darüber hinaus, dass ich damit zur Ehrenrettung der verpönten Kategorie des Normalen in unserer Gesellschaft beitragen kann und es vielleicht gelingt, eine neue Anerkennungskultur jenseits unserer vielzitierten «Winner-take-all»-Kultur zu etablieren. In diesem Sinne sind die folgenden Seiten als persönliches Essay und engagiertes Plädoyer zu verstehen, das dem Lebensgefühl aller bemerkenswert Normalen in unserer Gesellschaft gewidmet ist, die uns durch ihre Lebensweise Inspiration und Ermutigung schenken, unser einzigartig normales Leben zu wagen und zu feiern.

Entdeckung

«Das Bessere ist der Feind des Guten.»

Voltaire

Ist das Normale noch zu retten?

Comeback eines verpönten Lebensentwurfs

Besondere Kennzeichen: Keine

Vielleicht kennen Sie das ja. Es gibt Momente im Leben, in denen wir uns fragen, ob die hundert entgegenkommenden Autos die Geisterfahrer sind oder wir selbst. Zum Beispiel wenn wir bei einem netten Abendessen im Freundes- und Bekanntenkreis sitzen und plötzlich feststellen, dass wir uns am Gespräch nicht mehr beteiligen können, weil wir immer noch keinen Marathon gelaufen sind, keinen Viertausender bestiegen oder keinen Abenteuerurlaub im Dschungel verbracht haben. Wenn wir uns ertappen, angesichts der Dreifach-Mama mit makelloser 36er-Figur den Bauch einzuziehen, und uns selbst verdammen, weil wir mal wieder die morgendliche Joggingrunde ausfallen lassen haben.

Wenn die servierten Gerichte ständig kommentiert werden mit «Also, wenn ihr wirklich mal etwas Gutes essen wollt, dann müsst ihr …» und wir hoffen, dass wenigstens die Ikea-Herkunft unseres Geschirrs unentdeckt bleibt. Genau wie das fehlende Label der 15-Euro-Bluse aus dem H&M-Ausverkauf, die wir gerade tragen. Wenn wir mit Gefühlen der Scham oder mindestens des Unbehagens kämpfen, weil wir mit den nur durchschnittlichen schulischen Leistungen unseres pubertierenden Sohnes beim Wer-hat-das-beste-Kind-Poker nicht mehr mithalten können.

Spätestens aber, wenn andere uns erzählen, wie sie ihren spektakulären Management-Job, bei dem sie dauernd um die Welt jetten, ganz locker mit ihrer Familie unter einen Hut bringen und es gleichzeitig auch noch schaffen, ein weltrettendes Start-up zu gründen, ihre Triathlonleidenschaft zu pflegen, und sich aufopferungsvoll für ein Afrika-Projekt zu engagieren, packt uns plötzlich der Selbstzweifel, ob nicht vielleicht doch wir der Geisterfahrer auf der falschen Spur sind. Und so hoffen wir insgeheim auf eine baldige Ausfahrt, die uns eine schnelle Flucht aus dieser Superhelden- und Superheldinnen-Community ermöglicht.

Wenn wir am Abend dann tapfer erschöpft aufatmen und glauben, endlich für einen Moment dieser permanenten Jagd nach gegenseitig überbietender Selbstdarstellung entkommen zu sein, reicht ein kurzer prüfender Blick in den Spiegel, den wir leider immer noch nicht zu vermeiden gelernt haben. Der Anblick unseres schwächelnden Bindegewebes im peinigenden Licht des Badezimmers ruft sie gleich schon wieder auf den Plan, die schmerzvolle Angst vor unserer Unzulänglichkeit. Es sind die Momente, in denen wir unweigerlich erkennen, dass es leider keinen Exit, kein Entrinnen gibt: Willkommen im Zeitalter der Selbstoptimierung!

XXL-Me

Wir fühlen uns wie im Dauer-Casting. Denn der Immer-besser-schöner-klüger-erfolgreicher-Imperativ unserer Selbstoptimierungsgesellschaft beschränkt sich nicht mehr nur auf die klassischen Bereiche von Ausbildung und Beruf. Kein Fleckchen auf unserem Körper, keine Hochzeit, kein Kindergeburtstag, kein Urlaub, kein Hobby, kein ehrenamtliches Engagement bleibt heute ungenutzt, um es nicht zum Jagdgebiet gegenseitiger Überbietung zu erklären. Egal, um was es geht, das Motto heißt mit inbrünstiger Kampfbegeisterung: «Da geht noch was».

Der Wettbewerb ist nicht mehr nur Motor unseres wirtschaftlichen, sondern mittlerweile auch unseres gesellschaftlichen Lebens geworden. In der Folge avancieren Hitlisten zu unserem Lebenselixier, völlig wurscht, ob in Form von «Mein Haus, mein Auto, mein Boot» oder «Meine Followers, meine Likes, mein Game-Level».

Fast unbemerkt frisst sich unser hochgeschraubter Selbstoptimierungsdrang gerade Stück für Stück in all unsere Lebensbereiche und überträgt sich durch die gesteigerte Wettbewerbsorientierung besorgter Eltern auch gleich noch auf die Kinder. Es ist also nur eine logische Konsequenz, dass wir uns heute von der Wiege bis zur Bahre an den Exzessen dieser Optimierungsspirale messen lassen müssen, die uns mit sich selbst verstärkendem medialem Echo tagtäglich in den Ohren dröhnen: Sollten wir unser Kind nicht doch lieber in einen englischsprachigen Kindergarten schicken? Oder vielleicht gleich chinesisch? Sollte ich nicht doch noch einen Auslandsaufenthalt machen? Sollte ich mir nicht auch endlich einen «gezippten» Schlafmodus angewöhnen, um vier Uhr aufstehen, meinen Bizeps trainieren, meditieren oder Yoga machen …?

Je mehr in unserer Gesellschaft nach dem Marktprinzip entschieden wird, desto mehr wird ein Sich-im-Wettbewerb-behaupten-Können zur überlebenswichtigen Kernkompetenz. Dazu gehört in erster Linie, gekonnt herauszustechen und auf sich aufmerksam zu machen. Denn nur, wenn man uns beachtet, sind wir auch gefragt. Für einen Job, als Lebenspartner, als Dienstleister für unsere Kunden oder als Freund. Aufmerksamkeit ist die neue Währung für Anerkennung, Status und Ansehen und damit auch Geld und Macht.

Wir müssen uns also heute vor allem auf eines verstehen: aufs Auffallen und den eigenen Vorteil. Technik sei Dank haben wir dabei mit der Digitalisierung einen sehr potenten Verbündeten gefunden. In einer Welt, in der wir schon fast mehr medial als real (er)leben, reicht es nämlich häufig schon aus, wenn andere uns für den Besten oder Hipsten halten. Wir müssen es – uff! – nicht mal mehr zwingend faktisch auch sein. Ein bombastischer Jobtitel, ein cooles Foto, ein krasses Video – mit ein wenig algorithmischem Glück haben wir sie dann ruckzuck in unserem Wohnzimmer, die gewünschte soziale Beachtung.

Wie gut wir im Trimmen unseres Marktwertes und im Wettbewerb um Aufmerksamkeit sind, können wir jederzeit in real-time mit einem Klick zu Hause auf dem Sofa überprüfen: Spieglein, Spieglein … Social Media, App & Co. sei Dank, können wir uns im Push-Takt aus jeder erdenklichen Perspektive selbst vermessen. Kein Wunder also, fühlen wir uns unter Dauerbeobachtung. Wenn nicht durch ein unsichtbares Geisterpublikum, dann in jedem Fall durch den strengen Blick von uns selbst.

Ob wir das nun gut finden oder nicht – wir haben begriffen: Wer heute noch in den vorderen Rängen mitmischen will, der kommt wohl oder übel nicht darum herum, sich der Rekordjagd des realen wie digitalen Dauer-Hochsprung-Wettbewerbs unserer Gesellschaft zu stellen.

«Must Do» statt «Just Do»

Also retten wir uns ins Getöse. Wie die rosa Plüschhäschen in der legendären Duracellwerbung trommeln wir uns für ein bisschen Beachtung bis zur Besinnungslosigkeit durchs Leben, ständig unter Strom und mit voller Voltzahl, gespeist von der Hoffnung, dass wir nicht vor den anderen schlappmachen und unser Trommeln irgendwie, irgendwo, irgendwann von irgendwem gehört wird.

Aber während wir uns hypnotisiert vom akustischen King-Kong-Terror des «Me-Kults» auf dem Sofa täglich die Finger wund twittern, dämmert uns langsam, dass die von uns kultivierte Optimierungsobsession nicht spurlos an unserem Seelenfrieden vorbeigeht.

Mindestens gefühlt haben wir den Eindruck, dass der Leistungs- und Anpassungsdruck zugenommen hat, weil es keinen Lebensbereich mehr gibt, der von der Wettbewerbslogik unberührt bleibt. Trotz der vielfältigen Lebenschancen, die unsere Gesellschaft heute bietet, fühlen wir uns paradoxerweise eher wie in einer Zwangsjacke denn frei.

Nicht nur, weil uns die permanenten Benzinpreisvergleiche oder die Frage nach Currywurst oder Tofuschnitzel stressen würden. Sondern – wie es einer der führenden deutschen Soziologen, Heinz Bude, so treffend beschreibt1 – weil wir entdeckt haben, dass auch wir selbst zum Wahlgegenstand geworden sind. In dem Maße, in dem wir für uns nämlich ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen, zu wählen, was wir konsumieren, wo wir arbeiten oder mit wem wir leben wollen, tun das die anderen natürlich auch. Wir müssen also in gleicher Weise darum fürchten – oder besser davor zittern –, von anderen gewählt zu werden.

Was, wenn ich auf dem Arbeitsmarkt nicht (mehr) gefragt bin? Was, wenn ich nicht mehr als Lieferant oder Dienstleister von meinen Kunden selektiert werde? Was, wenn ich zu durchschnittlich, zu mittelmäßig bin? Was, wenn ich nicht mehr attraktiv oder hip genug bin, um von jemandem als Lebenspartner oder Freund gewählt zu werden? Was, wenn ich zu normal bin? Und damit unsichtbar oder bedeutungslos werde, gar ganz in Vergessenheit gerate?

 

Ohne es richtig zu merken, leben wir mit einer Art unterschwelliger Dauerparanoia im Nacken, ein falscher Schritt, eine falsche Entscheidung könnte uns zur bedeutungslosen Randnotiz verkommen lassen oder gar ins soziale Aus befördern. Es ist diese stetig «rieselnde Angst» – um mit Heinz Bude zu sprechen –, die unser Dasein in einen rastlosen Kampf um die Pole-Position verwandelt. Sie befeuert uns unaufhörlich, alle sich bietenden Möglichkeiten auszuschöpfen, um dem «gefährlichen schwarzen Loch» des Normalen zu entkommen.

Nebenwirkungen der Me-Inflation

Mindestens intuitiv ist uns klar, dass eine Gesellschaft, die durch und durch nach dem Wettbewerbsprinzip funktioniert, eine immer kleinere Anzahl von Gewinnern produziert, die einer immer größeren Anzahl von Verlierern gegenübersteht. Und zu Letzteren wollen wir schließlich nicht gehören. So starren wir mit feuchten Händen verstohlen auf die anderen, immer auf der Hut, geschlagen, übertrumpft und ausgestochen zu werden.2

Tatsächlich scheint der permanente soziale Vergleich, zu dem wir täglich und überall – und erst recht durch die sozialen Medien – verführt werden, diese latente Unsicherheit eher noch anzuheizen. Studien zeigen, dass es insbesondere der Vergleichsdruck ist, der dazu führt, dass wir uns im medialen Hashtag-Gewitter angesichts des inszenierten makellosen Lebens der anderen ständig minderwertig und unglücklich fühlen.3

Nicht ganz verwunderlich können wir gleichzeitig beobachten, wie sich die Statistik der Krankheitstage aufgrund von Burnouts und anderer psychischer Leiden kontinuierlich weiter nach oben schraubt und sich seit dem Jahr 2003 nahezu verdoppelt hat.4 Auch wenn nicht ganz klar ist, ob das einem tatsächlichen Zuwachs an psychischen Erkrankungen entspricht oder Betroffene heute einfach öfter zum Arzt gehen, stimmt insbesondere einer der angeführten Gründe für diesen Anstieg nachdenklich. Offensichtlich ist es der Druck zur Selbstverwirklichung – beruflich wie privat –, der zu diesem kollektiven seelischen Dammbruch führt.5 Tatsächlich scheinen jene, die aus ihrem Leben ständig das Maximum herausholen wollen, angesichts steigender Wahlmöglichkeiten besonders zu leiden und eher zu depressiven Verstimmungen zu neigen.6 Unsere Pflicht zur Selbstwerdung gerät zusehends zur Tortur.

Auf unserer Suche nach Bedeutung und Bestätigung in den gigantischen Galaxien von Möglichkeiten unserer Gesellschaft avanciert der Wettbewerb ganz offenkundig zum einzigen Orientierungspunkt. Unsere Identität wird damit mehr und mehr zum Spielball der Außenwahrnehmung und Resonanz anderer. Die schwer erkämpfte Freiheit eines jeden, seine Individualität und Identität heute selbst erfinden zu können, führt also offenbar nicht zu mehr Autonomie, sondern zu mehr wahrgenommener ideeller wie moralischer Verunsicherung, Angst, Zwang und Erschöpfung. Und das in besorgniserregender Weise vor allem bei der jungen Generation.7

Aber auch ohne diese statistischen Hinweise können wir in unserem direkten Umfeld beobachten, dass immer mehr Menschen Mühe haben, den gesellschaftlichen Rhythmus mitzuhalten, nur noch auf Reserve fahren, erschöpft aufgeben oder immer häufiger zu fragwürdigen oder gar selbstschädigenden Hilfsmitteln greifen. Unsere Wohlstandsgesellschaft scheint uns langsam aufs Gemüt zu schlagen. Die erdachte Formel «Mehr Wohlstand, mehr Glück» wandelt sich offensichtlich gerade sukzessive in «Mehr Wohlstand, mehr Stress». Wir sind schlicht müde, ständig nur auf Durchreise zu einem anderen, besseren Leben zu sein. Wir haben sie satt, diese unablässige Jagd nach unserem perfekten Lebensglück, die uns nicht glücklicher, sondern paradoxerweise immer unglücklicher werden lässt. Denn all unserer Bemühungen zum Trotz, weiß es das Glück anscheinend nicht zu honorieren, dass wir es so angestrengt optimieren wollen.

Alternativlos in der Multioptionsgesellschaft

Wir ahnen also, dass da irgendwas grundlegend falsch läuft, wenn wir unser Leben durch und durch nach ökonomischen Kriterien gestalten. Wenn Spontanität nur noch in der Werbung existiert und sich das Familienleben mehrheitlich in Whatsapp abspielt, weil wir uns nur noch selten im «Real Life» begegnen. Wenn alles, was verdient, als echtes, wirkliches Leben aus Fleisch und Blut bezeichnet zu werden, dem Optimierungsprimat zum Opfer fällt: mit der zufällig in der Stadt getroffenen Nachbarin einen Kaffee trinken gehen, spontan Freunde besuchen, endlich mal wieder die Gitarre aus der Ecke holen, nach Herzenslust ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte genießen oder die Australienreise machen, von der wir schon lange geträumt haben …

Wir merken, dass uns die permanente Selbstoptimierung genau um das bringt, was wir zu optimieren suchen: unser Leben. Aber welche Alternativen haben wir eigentlich? Oder sind wir unserem selbstprovozierten Gesellschaftstrend zur Selbstoptimierung tatsächlich alternativlos ausgeliefert? Gibt es neben dem Run auf die Superlative, der Jagd nach Konsum- und Lebensmaximierung tatsächlich keine anderen Lebensentwürfe?

Doch. Es gibt sie, die Konsum- und Leistungsverweigerer, die Aussteiger, die den Stecker ziehen und in totaler Askese leben. Zumindest widmete «Der Spiegel» ihnen vor nicht allzu langer Zeit eine ganze Ausgabe.8 «Less is more» bzw. «Verzicht ist geil» heißt die Devise dieser Lebensentwürfe, die der Leistungs- und Fortschrittshysterie entsagen. Menschen, die nur von Blättern und Pilzen leben oder ohne Geld auskommen und ihre Lebensmittel aus dem Supermarktcontainer besorgen oder beschließen, das Leben nur noch mit hundert Sachen zu verbringen.9 Aber sind das wirklich brauchbare Alternativen zur Zwangsjacke des Selbstoptimierungprimats? Klingt irgendwie genauso einengend. Obwohl diese Lebenskonzepte uns zum Nachdenken anregen und deshalb für die gesellschaftliche Weiterentwicklung durchaus wertvoll sind, beschleicht einen doch das unbestimmte Gefühl, dass es sich hierbei auch wieder nur um einen verkappten Run auf Superlative handeln könnte. Lediglich mit anderen Vorzeichen: anstelle von maximiertem Konsumrausch maximierte Konsumaskese.

Bleibt uns also wirklich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera? Zwischen asketischer Laufsteg-Perfektion à la Victoria Beckham oder genauso inszeniertem Imperfektions-Exhibitionismus à la Lena Dunham, die schräge Nervensäge der Fernsehserie «Girls»?10 Bietet unsere reichhaltige Multioptionsgesellschaft tatsächlich alles, nur ironischerweise kein Vorbild für eine normale Lebensführung? Einen Weg zwischen Exzess und Askese?

Ist das Normale noch zu retten?

Tatsächlich scheinen wir mit der Bezeichnung normal gewaltig auf Kriegsfuß zu stehen. Zumindest hören wir es gar nicht gern, wenn jemand uns oder unseren Lebensstil mit normal bezeichnet. Uns selbst käme es schon gar nicht über die Lippen. Das muffelt gefährlich nach Bohnerwachs, Bratwurst und Irish Moos. Und sofort haben wir das Gefühl, unserer eigenen Beerdigung ein wenig näher zu sein. Normal assoziieren wir mit spießig, faul, wenig ambitiös, gutbürgerlich, angepasst, nichts Besonderes, langweilig und auf jeden Fall mit absolut uncool und nicht erstrebenswert. In unserer Selbstoptimierungsgesellschaft als normal bezeichnet zu werden kommt schon fast einer Beleidigung gleich. Gar nicht erst zu sprechen von mittelmäßig oder durchschnittlich. Da stellen sich bei den meisten von uns alle Haare auf. Streben wir doch permanent danach, besser zu sein als andere, uns vom gewöhnlichen Durchschnitt abzuheben. In unseren Ausbildungen, in unserer Freizeit und vor allem bei unserer Arbeit.

Es ist auch irgendwie verständlich, dass wir dieses Attribut so wenig mögen, wenn man bedenkt, dass einfach nur normal zu sein gerade in der Wirtschaftswelt durchaus auch existenzbedrohlich werden kann. Denn wer stellt angesichts von Unternehmensleitbildern, die eine Winner- oder High-Performance-Kultur predigen und zu einer elitär zelebrierten Talent-Popstarkultur aufrufen, ernsthaft jemanden ein, der bekennt, einfach nur ganz normal zu sein? «Up or out», diese Devise scheinen immer mehr zu fürchten, die sich lediglich hinter vorgehaltener Hand dazu bekennen, dass sie ihren ganz normalen Job einer aussichtsreichen Karriere vorziehen würden.11