SPACE 2022

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Aus der Reihe: SPACE Raumfahrtjahrbücher #19
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SPACE 2022
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SPACE 2022

Impressum

ePub-Edition Dezember 2021

Copyright © by VFR e.V., München

Alle Rechte vorbehalten

Initiator: Verein zur Förderung der Raumfahrt e.V., www.vfr.de

Herausgeber: Thomas Krieger

Organisation: Peter Schramm

Lektorat: Heimo Gnilka, Margit Drexler, Thomas Krieger, Peter Schramm, Stefan Schiessl

Titelmotiv: SpaceX

Layout & Satz: Stefan Schiessl, www.exploredesign.de

Web: www.space-jahrbuch.de / eMail: space@vfr.de

ISBN 978-3-944819-51-8 (ePub)

Editorial
Liebe Leserin, Lieber Leser,

Meine Güte. Es ist ganz schön was los in der Raumfahrt. Vorbei sind die drögen Zeiten, in denen es die üblichen zwei jährlichen bemannten Missionen zur ISS gab, deren Besatzungen man schon Jahre im Voraus kannte, und vielleicht noch alle Jubeljahre die eine oder andere Sondenmission, die auf die Reise zu Monden und Planeten ging. Im September 2021, der Zeitpunkt an dem ich diese Zeilen schreibe, überschlagen sich die Ereignisse geradezu. Kaum ein Tag ohne neue Sensation. Nicht zuletzt deswegen ist diese aktuelle Ausgabe von SPACE die umfangreichste, die wir jemals produziert haben. Gerade eben (und an sich schon ein paar Tage außerhalb unseres Berichtszeitraumes) kehren Jared Isaacman, Sian Proctor, Hayley Arcenaux und Christopher Sembrowski nach zwei Tagen und 23 Stunden von ihrem rein privaten „Inspiration4“-Einsatz zurück und eröffnen mit dieser historischen Mission eine ganz neue Ära der Raumfahrt.

Für mich persönlich war jedoch die Entscheidung der NASA, SpaceX zum alleinigen Anbieter im Entwicklungsprogramm für den nächsten bemannten Mondlander zu machen, die größte Sensation des Jahres. Eine Entscheidung, die bei Blue Origin und Dynetics, den anderen beiden Anbietern für das Programm, zu wütenden Protesten führte. Blue Origin begann denn auch sofort danach, die NASA mit Klagen zu überziehen, um diesen Beschluss noch einmal auszuhebeln.

Mit furiosem Elan entsteht in Boca Chica das Raumtransportsystem der nächsten Generation. Erneut ist es SpaceX, das allen Konkurrenten vorauseilt. Starship-Prototypen führten im Berichtsjahr eine Reihe von Testflügen bis in Höhen von 12.000 Metern durch, und erstmals wurde die Kombination aus Starship und Super Heavy am Startplatz aufgebaut und lässt ahnen, was hier schon in naher Zukunft abgehen wird.

In China und den USA kam es zu einer Reihe von Testflügen neuer Kleinträgerraketen. Mit recht gemischten Ergebnissen, wie Sie im Statistik-Teil von SPACE 2022 nachlesen können. Hier gilt weiterhin eines der ungeschriebenen Gesetze der traditionellen Raumfahrt: 50 Prozent aller Testflüge scheitern.

Da und dort gab es auch Anlass zu einer gewissen Sorge. Der Geisterflug des „neuen“ russischen Nauka-Raumstationsmoduls zur ISS und der schlechte technische Zustand der russischen Module geben einigen Anlass zur Skepsis hinsichtlich der angestrebten „Haltbarkeit“ der ISS bis in die frühen 2030er-Jahre. Wie überhaupt die russische Raumfahrt mehr und mehr zurückfällt gegenüber den jetzt schon fast gleichrangigen Raumfahrt-Hegemonialmächten USA und China.

Während SpaceX mit seinem Crew Dragon inzwischen Mission um Mission mit Routine und Professionalität abwickelt, schaffte es Boeing auch in diesem Jahr nicht, seinen Starliner zum Einsatzbeginn zu bringen. Das Unternehmen stolpert von einem technischen Problem in das Nächste, und man fragt sich, wo die großen Zeiten dieses Traditionsunternehmens geblieben sind. Das Dauerversagen des Aerospace-Giganten freut natürlich SpaceX, das momentan das Geschäft der Crew-Transporte zur ISS ganz alleine abwickelt. Zu den anerkannt lukrativen Preisen, die man der NASA berechnen kann.

Enttäuschend wie so oft war auch dieses Jahr Europas müde Performance in Sachen Raumfahrt. Der bereits für 2018 angesetzte und auf 2020 verschobene Start der neuen europäischen Exomars-Plattform, bestehend aus dem Kasatschok-Lander und dem Rosalind Franklin-Rover musste auch dieses Mal abgesagt und auf 2022 verschoben werden. Auch der Erstflug der Ariane 6, an sich schon kein Highlight innovativer Raumfahrtkunst, musste erneut vertagt werden. Vor Ende 2022 wird es wohl nichts werden. Neue, spannende Programme sind in Europa nicht in Sicht. Ein bisschen Erdbeobachtung hier und ein wenig Navigation dort ist dem Alten Kontinent Raumfahrt genug. Die Haltung Europas zur eigenständigen bemannten Raumfahrt ist weiterhin „indifferent“ um es milde auszudrücken und es gilt die Hoffnung, die schon die letzten Jahrzehnte geprägt hat: Irgendwer wird uns schon mitfliegen lassen. Vor vielen Entwicklungen (Bespiel: Nukleare Energiequellen für Forschungssonden ins äußere Sonnensystem) drückt man sich aus ideologischen Gründen oder aus Desinteresse. Um diese „müde Performance“ ein wenig bildhafter zu machen: Zwischen dem 1. Januar und dem 15. September 2021 gab es weltweit 89 Orbitalstarts. Genau drei davon waren aus Europa. Alleine das US-Privatunternehmen SpaceX führte 23 dieser 89 Starts durch.

Nun zu unserer traditionellen „Sneak Preview“.

Unser diesjähriger Leitartikel hinterfragt kritisch die Chancen deutscher Kleinträgerraketen auf dem Weltmarkt. Es gibt derzeit hierzulande drei Neuentwicklungen, ein zunächst einmal sehr erfreulicher Aspekt. Die großen Hürden vor ihnen sind aber nicht Design und Entwicklung, sondern die Vermarktung und die Produktion. Gute Nachrichten kommen aus der Schnittstelle von der akademischen Forschung zur wirtschaftlichen Nutzung der Raumfahrt. Wir sehen uns hier die Würzburger Satellitenschmiede um Professor Schilling an, die mit interessanten neuen Projekten auf dem Kleinsatelliten-Sektor aufwartet. Ich sage nur: Formationsflug im All.

Einen Hahnenkampf der besonderen Art gab es in diesem Jahr in den USA beim Wettbewerb um den ersten bemannten Einsatzflug eines suborbitalen Raumtransportsystems. Den gewann Jeff Bezos. Oder Richard Branson? Oder vielleicht doch Jeff Bezos? Naja, wie auch immer. Mit Branson & Bezos – Suborbitaler Wettflug können Sie sich dazu selbst eine Meinung bilden. Wenn Sie schon immer einen Direktflug von Boca Chica in Südtexas nach Hawaii buchen wollten, und zwar einen, dessen Scheitelpunkt 900 Kilometer über der Erdoberfläche liegt, dann ergäbe sich jetzt die Gelegenheit dazu. Das ist nämlich die Strecke, die das SpaceX-Starship bei seinem (nahezu) orbitalen Jungfernflug abfliegen wird. Details dazu erfahren Sie in Mit dem Starship nach Hawaii. Das Neueste vom mit Volldampf wachsenden Markt des orbitalen „Weltraumtourismus“ lesen sie im Bericht „Privater Ausflug in den Orbit“. Da gibt es auch Details zu Isaacman, Proctor, Arcenaux und Sembrowski, die ich eingangs erwähnte.

Mit einer sehr interessanten japanischen Planetenmission, einer Probenrückführmission zum Marsmond Phobos, die 2024 starten soll, befasst sich MMX-Mission zu Phobos und Deimos. Unser diesjähriger Beitrag zur Raumfahrtgeschichte beschreibt die Friendship 7-Mission von John Glenn am 20. Februar 1962. Es war seinerzeit der erste bemannte Orbitalflug der USA. Ich habe Glenns damaligen Flugbericht übersetzt.

China, von vielen über lange Jahrzehnte als behäbig und langsam in Sachen Raumfahrtentwicklung eingeschätzt, verschärft zusehends das Tempo. In dieser Ausgabe bringen wir einen Statusbericht über die chinesischen „Flaggschiff-Aktivitäten“.

In der Öffentlichkeit kaum bekannt ist das rechtliche Rahmenwerk, das sich mit der Nutzung des Weltraums vor allem in Hinblick auf das Vorhaben ARTEMIS beschäftigt. Wir füllen diese Lücke und berichten darüber in Der ARTEMIS-Accord. Ebenfalls wenig bekannt ist, dass sich in einigen europäischen Ländern Initiativen zur Einrichtung von „Weltraumbahnhöfen“ für Kleinträgerraketen entwickelt haben. Selbst im bürokratiefreudigen und wenig technik-affinen Deutschland. Ob das gut gehen kann, erfahren sie im Beitrag Spaceports in Europa – Ein Statusbericht.

Und zu unserem Projekt Zeittunnel haben wir Ihnen dieses Mal eine detaillierte „Referenzvision“ für die Entwicklung der NASA/SpaceX-Aktivitäten der nächsten 15 Jahre ins Buch gestellt. Ihre Vorstellung zu diesem Thema mag aber ganz anders aussehen. In dem Fall versuchen Sie sich doch einfach mit einer eigenen Version www.space-jahrbuch.de.

Covid lässt – hoffentlich und dann nie wieder – ein letztes Mal grüßen: Der Autor hat es aufgrund der obwaltenden Umstände nicht geschafft, im Kino einen SF-Blockbuster zu sehen und ein paar grätig-kritische Worte darüber zu verfassen. Allerdings haben wir, wie eingangs festgestellt, auch ohne diesen „Stammartikel“ bereits die dickste SPACE-Ausgabe aller Zeiten, so dass Sie mir – denke ich – das ausnahmsweise durchgehen lassen können.

Unser diesjähriger Science-Fiction Wettbewerb befasste sich mit dem Thema Raumfahrt im äußeren Sonnensystem. Wie immer finden Sie die drei besten Beiträge im Buch. Sie sind dieses Jahr, wie ich finde, auf einem besonders hohen Niveau, phantasiereich und spannend geschrieben. Sie können sich wirklich darauf freuen. Erstmals befassen wir uns in dieser Ausgabe von SPACE mit einer neuen Science-Fiction Kategorie: Den Ultrashort-Stories. Sie stammen ursprünglich aus der englischsprachigen Twitter-Szene und sind dort auf 240 Zeichen beschränkt. Das erschien uns denn doch ein wenig sehr kurz, vor allem wenn man bedenkt, dass die deutsche Sprache in der Regel etwa 25 Prozent mehr Platz benötigt, um denselben Sachverhalt zu erzählen. Wir haben deshalb großzügig auf 500 Zeichen erweitert, inklusive Leerzeichen. Wir haben über 60 Zusendungen erhalten und stellen Ihnen die – aus unserer Sicht – fünf besten in dieser Ausgabe vor.

 

Neben den Artikeln und den Kurzgeschichten widmen wir einen wesentlichen Teil des Buches wie immer einer ausführlichen Dokumentation aller Raumfahrtstarts in der SPACE-typischen Berichtsperiode, die für den aktuellen Band vom September 2020 bis August 2021 läuft. Wir haben damit in den bislang erschienen 19 Bänden jede einzelne Mission, die seit dem 5. Januar 2003 in den Orbit oder darüber hinausging, im Detail dokumentiert. Vor zwei Jahren eingeführt, gibt es ergänzend auch in diesem Jahr im Raumfahrt-Panorama 24 jeweils drei Absätze lange Meldungen zu wichtigen und interessanten Ereignissen in der Raumfahrt, die nichts mit Starts und (bemannten) Landungen zu tun haben. Für die Zahlenfreaks und die Statistik-Afficionados unter unseren Lesern haben wir wie jedes Jahr einen Block von über 20 Seiten zur Raumfahrtstatistik des Jahres erarbeitet.

Wir sagen danke

Und zwar an alle, die zum Entstehen dieser Ausgabe beigetragen haben. Das sind in der SPACE-Redaktion unser „Exploredesigner“ Stefan Schiessl und unser „General Manager“ Peter Schramm. Unterstützt haben uns auch der Organisator des Science Fiction Wettbewerbs Lothar Karl, sowie unsere Lektoren Margit Drexler und Heimo Gnilka. Nicht zu vergessen unsere Sponsoren. Sie tragen den Teil der Erstellungskosten, die mit den Verkäufen alleine nicht zu decken wären.

Neues aus der SPACE-Werkstatt

Nachdem unser erster Kalender 2020 gut angekommen ist, bringen wir auch heuer einen SPACE 2022 Raumfahrtkalender heraus. Er ist auf unserer Website und im Buchhandel bestellbar. Exklusiv auf der Website und auf Veranstaltungen erhältlich ist dagegen das informative Weltraum-Glossar, welches wir ihnen im Rahmen einer Bestellung gerne kostenfrei zusenden.

Kontaktmöglichkeiten

Per e-Mail erreichen Sie uns jederzeit über redaktion@space-jahrbuch.de. Auf unserer Website www.space-jahrbuch.de erwartet Sie Wissenswertes rund um Raumfahrt und die Entstehung des Jahrbuchs. Hier können Sie auch die Bände vergangener Jahre nachbestellen, die im Buchhandel möglicherweise schon vergriffen sind. Facebook-Nutzer finden uns auf www.facebook.com/SPACE.Jahrbuch, das fast tägliche Updates erlebt. Abonnieren Sie es und kommentieren Sie mit. Noch persönlicher und direkter ist der Kontakt beim jährlichen Dachauer SPACE-Abend im November, bei dem das Jahrbuch jeweils Premiere feiert. Infos zum nächsten SPACE-Abend erhalten Sie auf unserer Website, zusammen mit Videos und Berichten der bisherigen Veranstaltungen. Wenn Sie Kritik für uns haben oder Lob, Tipps oder Meinungen, ein Problem oder eine Frage zu den Inhalten, wenn Sie sich schon mal die Ausgabe für das nächste Jahr reservieren wollen oder gerne der Tochter oder dem Sohn eines der Bücher schenken wollen, gerne auch signiert, wenn sie eine Prognose zum zukünftigen Verlauf der Raumfahrt abgeben wollen: nehmen Sie über eine der Möglichkeiten Kontakt mit uns auf. Wir freuen uns auf Ihr Feedback.

Und jetzt hinein ins Raumfahrtgeschehen. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre von SPACE 2022. Bleiben Sie uns weiterhin treu und gewogen.

Im Namen des SPACE-Teams,

Ihr Eugen Reichl


Themen im Fokus



Diese Szene könnte sich bereits gegen Ende des Jahrzehnts so abspielen: Ein Lunar Starship von SpaceX entlädt zwei Toyota Lunar Cruiser.

Kleinträgerraketen aus Deutschland – Ein Erfolgsmodell?


Der Weltraum ist schon lange nicht mehr nur ein erdferner Ort exotischer Forschung, sondern wird zunehmend zum Wirtschaftraum. Das gilt nicht nur für die längst etablierten Anwendungen wie Telekommunikation, Erdbeobachtung, Meteorologie oder wissenschaftliche Arbeit quer über alle Fachrichtungen, sondern auch für Zukunftsmärkte, die heute vielen noch exotisch und kurios erscheinen.

Ein Indikator für innovative und zukunftsgewandte Volkswirtschaften sind ihre Raumfahrtaktivitäten. China ist da ganz vorne dran. Die USA auch. Diese beiden führen das Feld mit immer größerem Abstand an. Das unbewegliche Europa mit seinen byzantinischen Entscheidungsprozessen tut sich gegen diese Konkurrenz schwer. China und die USA planen und erproben schon die nächsten und übernächsten Schritte im All. Seien es die in der kurz- bis mittelfristigen Zukunft liegenden Anwendungen wie kommerzielle Raumstationen, der Abbau von Rohstoffen auf Erdmond und Asteroiden oder die Energiegewinnung durch orbitale Solarkraftwerke oder sei es in etwas fernerer Zukunft die Verlagerung umweltschädlicher Industrien von der Erde in den Weltraum oder die Einbeziehung des Alls als Wohn- und Lebensraum. Dinge wie diese scheinen vor allem uns in Europa als reine Science Fiction, doch die regulatorischen Entscheidungen zu diesen Themen werden in diesen Jahren getroffen. Europa sollte da eigentlich auf Augenhöhe mitreden. Das geht aber nur, wenn es von den anderen Parteien auch ernst genommen wird, doch tut es viel zu wenig dazu, sich in eine Position zu bringen, aus der das auch möglich ist. Wichtige Gebiete der Raumfahrt werden in Europa derzeit völlig ignoriert. Bemannte Raumfahrt beispielsweise. Hier herrscht die Meinung: Brauchen wir nicht. Irgendjemand wird uns schon mitfliegen lassen. Die Russen, die Amerikaner, die Chinesen und vielleicht bald auch die Inder. Ganz generell ist der Raumtransport, nicht nur für bemannte Flüge, die Schlüsseltechnologie für den Zugang zum Weltraum. Hier ist Europa denkbar schlecht aufgestellt. Nur ein Beispiel: Bis zum 15. September des Jahres 2021 – dem Redaktionsschluss dieser Ausgabe von SPACE – wurden weltweit 89 Orbitalstarts durchgeführt. Ganze drei davon aus Europa.


Für den unbeschränkten Zugang zum Weltraum benötigt Europa zu allererst preiswerte Trägerraketen, die technologisch und leistungsmäßig auf dem neuesten Stand sind. Im oberen Leistungsbereich der Trägerraketen hat Europa bereits wichtige Entscheidungen verschlafen. Die Ariane 6 als Nachfolgerin der Ariane 5 hat noch nicht einmal ihren (vielfach verschobenen) Erstflug absolviert und ist dennoch schon hoffnungslos veraltet. Sie ist technologisch ein Träger der frühen achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, der sich unnötigerweise in die Gegenwart verirrt hat. Diese Rakete soll in einer Variante (als Ariane 62) für Europa auch den Bereich der oberen Mittelklasse abdecken. Im wichtigen Gebiet der mittleren Mittelklasse besitzt Europa überhaupt keinen eigenen Träger. Hier hat man sich in Vereinbarungen mit Russland die Sojus-Trägerrakete ins Haus geholt, den konzeptionell weltweit ältesten Träger überhaupt. Er geht zurück auf Russlands R-7 Interkontinentalrakete aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Europas Rakete der unteren Mittelklasse, die Vega, ist zu teuer, nicht zuletzt wegen ihrer sehr geringen Startfrequenz. Und sie ist nur mäßig zuverlässig, wie zwei Startversager in den letzten beiden Jahren gezeigt haben. Was schließlich den Bereich der Kleinträger betrifft, gab es in Europa bis vor einer Weile außer bunten Powerpoint-Präsentationen gar nichts. Immerhin, diese Situation ändert sich nun.




Kleinträger in Europa und in Deutschland

Momentan werden in Europa ein halbes Dutzend Kleinträgerentwicklungen in einem mehr oder weniger fortgeschrittenen Stadium betrieben. Das sind in Spanien PLD Space mit der Miura 5-Rakete, in Italien Avio mit der Vega Light und in England Skyrora mit der Skyrora XL-Rakete. Die anderen drei kommen aus Süddeutschland: Die Rocket Factory Augsburg (RFA), die zur OHB-Gruppe gehört, Isar-Aerospace aus Ottobrunn bei München und die Hyimpulse Technologies GmbH in Neuenstadt am Kocher, nahe Heilbronn. Von den deutschen Unternehmen sind RFA und Isar-Aerospace für die Anfangsphase eines solchen Unterfangens ausreichend finanziert. HyImpulse mit seinem SL-Launcher steht nicht ganz so gut da. Das Start-up versucht sich mit einem inkrementellen Entwicklungsprogramm auf dem Umweg über Höhenforschungsraketen auf der Finanzierungsleiter zum Orbitalträger hochzuarbeiten. Immerhin gibt es bei HyImpulse (wie bei den beiden anderen deutschen Firmen auch) Fördermittel vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), der nationalen deutschen Raumfahrtbehörde. Zusätzlich erhält das Unternehmen eine intensive Betreuung durch das Forschungs- und Testzentrum für Raketenantriebe in Lampoldshausen. Diese Zuwendung ist nicht verwunderlich, denn bei HyImpulse handelt es sich um eine Ausgründung des DLR. Technologische Unterstützung (z. B. durch die dortigen Prüfstände) ist notwendig, denn dieses Unternehmen arbeitet an einem neuen technischen Konzept mit einem Antrieb, der Paraffin als Treibstoff einsetzt. Umwege über vorbereitende Technologieprogramme sind allerdings einem schnellen und preisgünstigen Entwicklungsprozess nicht gerade förderlich, so dass man die Entwicklung des SL-Launchers bislang eher als akademisches Projekt denn als ein nach dem Markt ausgerichtetes Unterfangen bezeichnen muss. Sollte es aber eines – wahrscheinlich eher ferneren – Tages mit dem geplanten dreistufigen Orbitalträger soweit sein, dann strebt HyImpulse einen Preis für das Kilo Nutzlast in den Orbit in der Gegend von 7.000 Euro an. Das ist in etwa der Durchschnittspreis, mit dem die schon auf dem Markt befindlichen Kleinträger derzeit um Kunden werben. Deutlich marktnäher sieht es bei den Konkurrenten RFA und Isar-Aerospace aus. Die beiden Unternehmen arbeiten an klassischen Trägerraketen die mit Kerosin und flüssigem Sauerstoff (RFA) und mit Propan und flüssigem Sauerstoff (Isar-Aerospace) betrieben werden. Diese beiden Start-ups haben gute Chancen, innerhalb der nächsten etwa zwei bis drei Jahre eine funktionsfähige Rakete auf die Startrampe zu bringen. RFA gehört zum deutschen Raumfahrtkonzern OHB Group und dürfte über die tiefen Taschen der Mutter ausreichend finanziert sein, um bis zum Prototypen zu gelangen. Der Starttermin für den Erstflug des dreistufigen Trägers liegt hier noch nicht fest. Wohl aber der Preis pro Kilogramm Nutzlast. Der soll nach Angaben von RFA bei 2.300 Euro liegen. Diese Zahl ist derart niedrig, dass sie angesichts der verwendeten Technik und der absehbar niedrigen Startfrequenz vollständig unrealistisch sein dürfte. Finanziell eher noch besser steht die Isar-Aerospace da, denn hier hat eine Investorengruppe unter der Führung der Porsche SE (dem Mehrheitsaktionär von VW) Gefallen an dieser Firma gefunden und mehr als 150 Millionen Euro hineingesteckt. Damit ist das Ottobrunner Unternehmen nach eigenen Worten das „bestfinanzierte und am schnellsten wachsenden Space-Start-up in der EU“. Es ist auch mit derzeit etwa 180 Mitarbeitern das personell am besten ausgestattete. Ihre zweistufige, über beide Stufen mit Kerosin und flüssigem Sauerstoff betriebene, Rakete namens Spektrum soll bereits irgendwann gegen Ende des kommenden Jahres vom norwegischen Startplatz Andoya aus zum Erstflug aufbrechen. Ziel der Isar-Aerospace-Ingenieure ist es, das Kilo Nutzlast für weniger als 10.000 Euro in den Orbit zu bringen. Die weitere Entwicklung nach dem Erstflug, also der eigentliche Eintritt in das Geschäftsmodell, ist bei allen drei deutschen Firmen noch recht wolkig. Isar-Aerospace behauptet, in fünf Jahren etwa 10 Raketen jährlich herstellen zu können, vielleicht sogar bis zu 30. Aber an dieser Stelle zeichnet sich schon ein gefährlicher Mangel ab, der gerade deutschen Startups nicht abzugewöhnen ist: Dem großen Interesse am Produkt und seiner Technik steht ein deutliches Desinteresse an seiner Platzierung auf dem Markt und seiner Vermarktung gegenüber.