rüffer&rub visionär / Jeder Tropfen zählt

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Aus der Reihe: rüffer&rub visionär #2
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rüffer&rub visionär / Jeder Tropfen zählt
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Ernst Bromeis

JEDER TROPFEN ZÄHLT

Schwimmen für das Recht auf Wasser

Für die nach Leben Dürstenden

Der Autor und der Verlag bedanken sich für

die großzügige Unterstützung bei

Elisabeth Jenny-Stiftung

Erste Auflage Herbst 2016

Alle Rechte vorbehalten

Copyright ©2016 by rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich

info@ruefferundrub.ch | www.ruefferundrub.ch

Schrift: Filo Pro

E-Book: Clara Cendrós

ISBN 978-3-906304-06-9

ISBN e-book: 978-3-906304-13-7

Vorwort [von Anne Rüffer]

Prolog

»Sie sind naiv!« – Der Beginn einer Passion

Kein blaues Blut, aber ein »Blaues Wunder«

»Wäre ich Beckenschwimmer gewesen, gäbe es mich als Expeditionsschwimmer nicht«

Weshalb braucht Wasser unseren Schutz?

»Niemand hat auf deine Projekte gewartet, Ernst«

Vom Süßwasser ins Meer – Die Expeditionen

Il miracul blau – Grischun 2008

Le miracle bleu – Suisse 2010

Das blaue Wunder – Rhein 2012

Het blauwe wonder – Rijn 2014

Il miracolo blu – Milano 2015

Des Botschafters Doppelmoral

Der Traum vom Weltwasserzentrum

Verändern wir die Welt

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Bildnachweis

Dank

Biografie Autor

Vorwort

2. Dezember 2015, Genf. Im voll besetzten »Auditorium Ivan Pictet« hat sich ein hochrangiges Publikum versammelt, um die aktuellen Preisträger des Alternativen Nobelpreises zu ehren. Selten stimmt die Adresse eines Ortes so unmissverständlich mit den Inhalten der Veranstaltung überein wie an diesem Abend: »Maison de la Paix«. Deutschlands Umweltministerin Barbara Hendriks und UN-Generaldirektor Michael Møller eröffnen den Anlass, der unter dem Titel steht: »On the Frontlines and in the Courtrooms: Forging Human Security.«

In der darauf folgenden Diskussion der vier Preisträger von 2015 fällt auf einmal die Aussage, die mich elektrisiert: »Die UN wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um nachfolgende Generationen vor der Geisel des Kriegs zu bewahren. Seither hat es über 170 Konflikte gegeben – und ihr habt die Möglichkeit einer Abschaffung von Kriegen nie diskutiert? Come on, guys, das ist doch unglaublich!« Verlegenes Gelächter und ungläubiges Staunen im Publikum, doch Dr. Gino Strada, Gründer der internationalen Hilfsorganisation »Emergency« weiß nur zu gut, wovon er spricht: Seit den frühen 1990er-Jahren baut er Kliniken in Kriegsregionen und kümmert sich um die zivilen Opfer – 10 % sind Kämpfer der verschiedenen Kriegsparteien, 90 % Zivilisten. Er beendete sein Statement mit der Feststellung: »Nennt mich ruhig einen Utopisten, denn alles ist eine Utopie, bis jemand seine Idee in die Tat umsetzt.«

Einer der wohl meistzitierten Sätze der letzten Jahrzehnte lautet: »I have a dream.« Nicht nur Martin Luther King hatte einen Traum – viele Menschen träumen von einer gerechteren Welt für alle. Und es sind einige darunter – mehr als wir wissen und noch lange nicht genug –, die ihren Traum mit Engagement, Herz und Verstand realisieren. Es sind Pioniere in ihren Bereichen, man mag sie – wie Gino Strada, Martin Luther King, Mutter Teresa oder Jody Williams – durchaus Utopisten nennen. Doch: Jede große Errungenschaft begann mit einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision.

Den Funken einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision weiterzutragen und damit ein Feuer des persönlichen Engagements zu entzünden, das ist die Absicht, die wir mit unserer neuen Reihe – wir nennen sie »rüffer&rub visionär« – verfolgen. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung der Autoren mit ihrem jeweiligen Thema. In packenden Worten berichten sie, wie sie auf die wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Frage aufmerksam geworden sind und was sie dazu veranlasste, sich der Suche nach fundierten Antworten und nachhaltigen Lösungen zu verpflichten. Es sind engagierte Texte, die darlegen, was es heißt, eine persönliche Verpflichtung zu entwickeln und zu leben. Ob es sich um politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche oder spirituelle Visionen handelt – allen Autoren gemeinsam ist die Sehnsucht nach einer besseren Welt und die Bereitschaft, sich mit aller Kraft dafür zu engagieren.

So vielfältig ihre Themen und Aktivitäten auch sein mögen – ihr Handeln geschieht aus der tiefen Überzeugung, dass eine bessere Zukunft auf einem gesunden Planeten für alle möglich ist. Und: Wir sind davon überzeugt, dass jeder von uns durch eigenes Handeln ein Teil der Lösung werden kann.

Anne Rüffer, Verlegerin

Prolog

Es ist regnerisch draußen. – Die Glocken läuten. – Trauerglocken. – Jemand ist gestorben und wird heute Nachmittag beerdigt. Die Trauergemeinde kommt nochmals zusammen, um seinem Leben zu gedenken. – Die Glocken verstummen.

Es wird für kurze Zeit ganz still, und dann ertönt auf der Orgel das Eingangsspiel. Man hat Raum, in der nächsten Stunde sich an die gemeinsame Zeit mit dem Verstorbenen zu erinnern und das eigene Leben zu reflektieren. Ab einem gewissen Alter wissen wir alle von unserer Endlichkeit, von dieser begrenzten Zeit auf Erden, die uns alle verbindet. In den Kirchenbänken sitzend, lässt sich darüber nachdenken, ob das eigene Leben wie ein Fluss an einem vorbeizieht oder ob man selbst auf dem Lebensfluss ist und seinen Weg prägt.

Während der Abdankung wird der Lebenslauf verlesen, es werden die wichtigsten Stationen des Verstorbenen erwähnt. Erinnerungen und Bilder füllen den Raum: die Geburt, die Kindheit und Jugend, Beziehungen, eventuell war der Verstorbene verheiratet, hatte Kinder und Enkelkinder. Die Pfarrerin fasst die berufliche Laufbahn zusammen, erzählt von Hobbys und womöglich auch die eine oder andere Anekdote aus dem Leben des Verstorbenen.

Vielleicht kommen im Lebenslauf auch seine Träume vor – wahrscheinlich aber eher nicht. Denn wer erzählt schon öffentlich von seinen Bedürfnissen und seinen Lebensträumen. Unsere tiefsten Sehnsüchte können wir oft schon vor uns selbst nicht aussprechen, geschweige denn anderen davon erzählen.

Womöglich kennen nicht einmal unsere Partner und engsten Freunde die Orte, die wir in unserem Leben besuchen, und die Taten, die wir realisieren wollten. Unsere westliche, nüchterne Gesellschaft bekundet oft Mühe mit Träumen und Sehnsüchten. Beide sind irrational und diffus, haben mit Gefühlen zu tun. Sie gehören nicht in die Erwachsenenwelt, in eine kalkulierende Gesellschaft. Künstlerinnen und Künstler haben das Privileg, ihre Träume zu leben. Der Rest muss funktionieren und das Tagträumen lassen. Es wäre einigen in den Sitzbänken peinlich, wenn an der Abdankung die Wünsche des Verstorbenen nach Freiheit, Selbstbestimmung oder Abenteuer zur Sprache kämen. Trauergefühle ja, Träume und Sehnsüchte nein.

Ich schreibe diese Zeilen einen Steinwurf entfernt von der St. Johann Kirche in Davos Platz. Das Büro meiner Firma »Das blaue Wunder« liegt auf Ohrenhöhe der Kirchenglocken, deren Klang mich regelmäßig erreicht: Trauerklänge, Hochzeitsklänge, Taufklänge, Weihnachtsklänge, Silvesterklänge und Neujahrsklänge. Die Klänge erinnern mich von Zeit zu Zeit daran, wie die Zeit, meine Lebenszeit, verfließt.

 

Warum haben wir Angst, unsere Träume und Sehnsüchte zu verwirklichen? Ich habe eines Tages beschlossen, mich dieser Angst zu stellen. Dieses Buch erzählt meine Geschichte, wie es dazu kam, warum ich unter anderem durch 200 Seen im schweizerischen Bündnerland und 1247 Kilometer von der Quelle bis zur Mündung des Rheins geschwommen bin und weshalb ich »Das blaue Wunder« ins Leben gerufen habe.

Vor acht Jahren habe ich mein »normales« Berufsleben gekündigt, um mich voll meinen Wasserprojekten zu widmen. Aus dem All betrachtet, ist für mich die Welt, die auf Wasser baut, betörend schön. Am Wasser führt kein Leben vorbei. Auf Erden, aus der Nähe, sehen wir, wie verletzlich dieses »blaue Wunder« Erde ist. Wir sehen die Zwischenbilanz einer globalen Zivilisierung und bemerken, wie ungleich Glück und Unglück, Reichtum und Armut, Überfluss und Dürre, Naturreservate und Umweltkatastrophen, Wasser-Rechte und -Unrechte oder frei fließende Quellen und Quellenbesitztum die Weltgemeinschaft vor die Aufgabe stellt, Lösungen umzusetzen – nicht für morgen und übermorgen, sondern für heute.

Mein Engagement für das Wasser gründet in der Summe meiner Lebensphilosophie, dass jedes Leben ein Recht auf Leben und deshalb auf Wasser hat. Dieser Satz tönt banal und ist doch so schwierig umzusetzen. Das einzufordern ist das eine, das umzusetzen ist die wahre Herausforderung in einem Meer zwischen globalen und lokalen Partikularinteressen. Das Buch ist eine Antwort darauf, was wir Einzelne beitragen können für einen sinnvollen Umgang mit der kostbaren Ressource Wasser.

Seit acht Jahren lebe ich aber auch die Schönheit und Poesie, die sich durch die körperliche Ausdruckskunst des Schwimmens zeigt. Von diesem Spannungsfeld zwischen schwimmerischer Poesie und globalem Wasserstress erzählt dieses Buch.

Meine Zeit ist begrenzt, und ich will meiner Lebenszeit mit dem »Blauen Wunder« einen eigenen Sinn geben. Wenn die Kirchenglocken für mich läuten, will ich gelebt und gestaltet haben.

»Sie sind naiv!« – Der Beginn einer Passion

Es war keine Erleuchtung und keine Nahtoderfahrung, die mich dazu brachten, mich für das Thema Wasser einzusetzen. Es gibt in meiner Biografie kein Damaskus-Ereignis wie beim Sturz vom Pferd bei Saulus, der zum Paulus wurde.1 Dass ich zunächst Expeditionsschwimmer und später Wasserbotschafter wurde, ist die Summe kleinerer Ereignisse, die mich geprägt haben. Diese Ereignisse haben sich gestaut, und irgendwann musste der Damm brechen. Für einige ist es logisch, was und warum ich es tue. Menschen, die mich schon lange kennen, sagen: »Das passt zu dir, Ernst!« Es sind diejenigen, die mich im Sportstudium erlebt haben, mit denen ich die Spitzensport-Trainerausbildung absolvierte, meine ehemaligen Lehrerkolleginnen und -kollegen an der Volksschule in Zuoz. Für andere, so musste ich immer wieder erfahren, die mich erst mit der ersten Expedition in Graubünden aus dem Medien »kennen«-lernten, ist es oft nicht nachvollziehbar, wieso ich diesen Weg gewählt habe. Sie reden von Midlife-Crisis, von Aussteigen, vom großen Egotrip oder von Selbstdarstellung. Eine Dame kam nach einem Vortrag auf mich zu und sagte ganz offen zu mir: »Sie sind naiv! Warum machen Sie das!?« Der Ton war herablassend und vorwurfsvoll. Wie konnte jemand sein Leben für eine Vision und Mission auf den Kopf stellen?

Wie bei wohl allen Menschen ereignete sich auch bei mir das Essenzielle in der Kindheit. Ich erinnere mich gut an einen wichtigen Moment in meinem Leben. Er fand an einem kleinen Bach in der Nähe von Ardez im Unterengadin statt, wo ich aufwuchs. Mein Vater war Dorflehrer und in der Freizeit leidenschaftlicher Musiker und ebenso leidenschaftlicher Imker. Im August, am Ende der Sommerferien, war es immer meine Arbeit als Knabe, meinem Vater bei der Honigernte zu helfen. Zusammen hievten wir die Honigwaben aus den Bienenkisten, klopften die Bienen in den Auffangbehälter runter und verstauten die Honigwaben separat in einer großen Kiste für den Heimtransport.

Die Bienenhütte stand alleine mitten auf einer Wiese vor Ardez, umgeben von Sträuchern, Blumen und Laubbäumen. In meiner Erinnerung schien bei der Honigernte immer die Sonne, und in der Bienenhütte war es brütend heiß. Es war die Maxime meines Vaters, dass nicht aller Honig geerntet wurde, sondern dass einige volle Honigwaben für die Bienen zum Überwintern in der Kiste belassen werden mussten. Mein Vater hatte ein enges Verhältnis zu seinen Bienen. Es waren Tausende und Abertausende Bienen, alle anonym, ohne Namen, und doch hatte mein Vater einen persönlichen Bezug zu seinen »Arbeiterinnen«. Ich glaube, ihm war es wichtig, Teil von einem größeren Kreislauf zu sein, mit seinen Bienen zu leben, sie zu respektieren und zu pflegen, den Honig zu ernten und auch zu danken, indem er nicht die ganze Ernte nahm. Es war kein Plündern und Ausbeuten. Es war ein Miteinander von Nützen und Schützen, von Leben und Lebenlassen.

Nachdem wir zwei Stunden in der saunaheißen Hütte gearbeitet hatten, zogen wir uns für eine Pause zurück. Ungefähr zehn Gehminuten von der Bienenhütte entfernt, fließt der kleine Bach im Tal Valdez, der weiter unten in den Fluss En/ Inn mündet. In einem Korb nahmen wir Süßmost, Kaffee und Guotzli mit. Bevor wir uns hinsetzen und die Verpflegung genießen konnten, prüften wir gegenseitig, ob nicht noch Bienen in einer Jackenfalte oder unter dem Schleier versteckt waren.

Die Aggressivität der Bienen nach der für uns mehr oder minder erfolgreichen Ernte konnte sehr unangenehm sein. Wenn die Biene sticht, stirbt sie, und einen von uns würde es schmerzen. Wir wollten beides nicht. Einmal fragte ich bei der gemeinsamen Pause, die Füße plantschten im Wasser, meinen Vater in unserer Muttersprache Romanisch: »Bap, che fessast auter in Tia vita?«, was er anders in seinem Leben gemacht hätte. »Eu nu vess plü tant respet dad autoritats.« – »Ich hätte nicht mehr so viel Respekt vor Autoritäten.« Mein Vater meinte nicht, dass er frecher, unanständiger oder arroganter hätte sein sollen. Er wünschte sich nur, mutiger in seinem Leben gewesen zu sein.

Der Bach umspülte unsere Füße, trug aber die Worte meines Vaters nicht fort, sondern prägten und prägen mich. Heute bin ich so alt wie mein Vater damals. Ich verstand schon als Knabe, was er sagte, inzwischen wurde es mir noch klarer. Als Wasserbotschafter exponiere ich mich oft in der Öffentlichkeit, und es braucht immer wieder Mut. Gerne würde ich mich auch mal verstecken, wenn ich kritisiert werde oder wenn eine Aktion nicht so verläuft wie geplant. Doch gleichzeitig weiß ich, wenn ich mich nicht für meine Ziele und Werte einsetze, werde ich meine Angst ein Leben lang bereuen.

Vater und ich packten unseren Korb, zogen den weißen Overall und den Schleier über, kontrollierten, ob alles dicht war und liefen ruhig zur Bienenhütte zurück. Das nächste Bienenvolk wartete auf uns. Später, als wir mit den Honigwaben zu Hause im Keller angekommen waren, kam meine Mutter zum Einsatz. Sie war für den Arbeitsgang des Schleuderns und Abfüllens verantwortlich. Beim Schleudern der Waben floss der Honig in die Einmachgläser. Ein gelbes Wunder.

Im Unterengadin fließen Milch und Honig. Doch niemand schwimmt darin – und auch nicht im Wasser! Kein Mensch war in meiner Kindheit Schwimmerin oder Schwimmer. Sport war schon damals meine Leidenschaft. Ich liebte das Radfahren, aber Schwimmen wäre nie eine Option gewesen. Erst als ich im Sportstudium auf meinen Schwimmdozenten Gunther Frank traf, entdeckte ich mit 25 Jahren an der Universität Basel am Rhein eine neue Welt.

Ich bin überzeugt: Wäre ich in meiner Jugendzeit Beckenschwimmer gewesen, hätte ich nie meinen Weg als Expeditionsschwimmer gefunden. Beckenschwimmer sind anders, sehen das Wasser als Sportgerät. Beckenschwimmer betreiben »Sport« mit all seinen Reglementierungen. Ich fühle mich auf meinen Expeditionen mehr als Seefahrer. Ich wähle einen Kurs und schwimme in die Richtung, in die ich will.

Mein Schwimmdozent hat diese Passion in mir entfacht. Er hatte ein Leuchten in den Augen, wenn er von kleinsten Verwirbelungen und Unterwasserströmungen an Händen und Füßen dozierte. Oder wenn er stundenlang am Becken die Schwimmerinnen und Schwimmer mit größter Passion auf kleinste technische Fehler aufmerksam machte.2 Wir waren zwar kein einziges Mal während des Sportstudiums im Rhein oder in einem See schwimmen, doch Gunther Frank gab mir ein grundlegendes Vertrauen, meinen Weg zu gehen. Dass dieser Weg sich in den Expeditionen in Graubünden, der Schweiz oder im Rhein später zeigen sollte (vom Rhein meinte er, soll ich die Finger lassen), wusste ich damals noch nicht. Ohne meinen Freund Gunther und seine Kunst, das Wasser zu lesen, hätte es »Das blaue Wunder« nie gegeben.

Jahre später, als Gunther vor der Pension stand, hat er mich gefragt, ob ich sein Nachfolger an der Universität werden möchte. Ich habe lange überlegt und dann »Nein« gesagt. Ich sah mein Leben nicht als Schwimmdozent am Rand eines Schwimmbeckens eines uniformen Umfeldes.

Kein blaues Blut, aber ein »Blaues Wunder«

Was mir – trotz den Worten meines Vaters – lange fehlte, war der Mut loszulassen, um endlich meinen Weg zu gehen. Es ist nicht einfach, einen eigenen Weg zu gehen, wenn man in kleinen gesellschaftlichen Strukturen aufgewachsen ist. Das Unterengadin ist schön, aber auch schön eng. Die Menschen helfen sich gegenseitig und kontrollieren sich gegenseitig. Der Lebensfluss ist oft vorbestimmt. Vielleicht ist dies inzwischen anders geworden. Ich habe vor dreißig Jahren Ardez verlassen. Doch in meiner Erinnerung kommt auch ein Gefühl von Enge auf, wenn ich an die Zeit am Fluss Inn denke. Gerade meine romanische Muttersprache, deren Klang ich liebe, kennzeichnet die damalige Situation. Romanisch ist für mich auch ein Synonym für Bewahren oder Beschützen. Dieses für mich teils rückwärtsgerichtete Denken einer Minderheit, die sich immer wieder um das Verwalten der Kultur und Traditionen kümmert, lässt kaum Raum für neue Lebensentwürfe und deren Umsetzung. Es kam mir vor wie ein Leben im Einmachglas.

Symptomatisch war für mich eine Begegnung mit einem Unterengadiner Künstler. Weltbekannt, weltweit gereist, Immobilien auf verschiedenen Kontinenten, ein Kosmopolit. Im Gespräch fragte er mich vor ein paar Jahren: »Nu mancan a Tai ils larschs jelgs? Il tschêl blau da l’Engiadina Bassa?« Nein, antwortete ich, mir fehlen die gelben Engadiner Lärchen und ihr Kontrast mit dem blauen Himmel nicht. »Perche, am vess quai da mancar?« – »Warum sollte ich es vermissen?« Der Künstler konnte nicht verstehen, dass ich im Unterengadin aufgewachsen war und mir die Farben und Düfte nicht fehlen würden. Ich erwiderte, dass für mich die Lärchen in Davos oder der blaue Himmel in Lenzerheide die gleichen seien. Dieses Lokalkolorit, dieses Kategorisieren, dieses sich über andere Stellen gefällt mir nicht. Vielmehr liebe ich alle gelben Lärchen, den ganzen blauen Himmel und dies auch im Engadin, wie anderswo. Der Künstler verstand mich nicht.

Vielleicht bin ich kein »echter« Engadiner, denn durch meine Adern fließt nicht Blut mit dem »Gelb« und dem »Blau«, das man nur spürt, wenn man seit Jahrhunderten am Inn lebt. In mir fließt das Blut der Bromeis seitens meines Vaters und der Hateckes seitens meiner Mutter. Es waren deutsche Familien, die im Laufe ihrer Geschichte auswanderten, die unterwegs waren und sich niederlassen konnten, ohne immer wehmütig an das zu denken, was sie zurückgelassen hatten. Aus diesem patriotischen und selbstverliebten Universum wollte ich fliehen. Aus dieser Enge musste ich raus. Und dieses »Raus« zeigte sich mit großer Energie und mit Aggression. Die Aggressionen waren aber nie gegen außen, gegen die Einheimischen gerichtet. Ich respektiere das Dorfleben und die Gemeinschaften in Ardez, Bos-cha oder Guarda. Die Aggressionen waren gegen mich gerichtet, gegen innen. Die Gefühle waren nicht zu ertragen, und so versuchte und versuche ich die aufgestauten Aggressionen in positive Schaffensenergie umzuwandeln.

Vom »Blauen Wunder« war ich aber noch seemeilenweit entfernt. Nach dem Sportstudium und der Trainerausbildung und Trainertätigkeit konnte ich als Quereinsteiger im Tourismus beginnen. Mit der Arbeit als Sport- und Eventmanager der Destination Lenzerheide kehrte ich dem Rheinlauf folgend wieder nach Graubünden zurück. Die Zeit im Tourismus war geprägt von neuen Berufserfahrungen mit der Privatwirtschaft, und vor allem entdeckte ich die Welt der Kommunikation. Als Tourismusdestination gehört es zum Kerngeschäft, zu kommunizieren und sich im Markt zu positionieren. In dieser Zeit durfte ich bei der Kommunikation und Positionierung der Bike- und Langlaufdestination, aber auch bei der Führung von Sportveranstaltungen mitgestalten und vieles lernen und entdecken. Als Quintessenz dieser Jahre habe ich für mich notiert: »Die Welt dreht sich alleine, alles weitere ist Kommunikation!«

 

Nach einigen Jahren suchte ich eine neue Herausforderung, und fand sie in den Medien. Ich hätte auch auf Mandatsbasis für Swiss Olympic einen Job auf national tätiger Ebene annehmen können, doch entschied ich mich weiterhin für die Umgebung von Chur, weil Cornelia und ich geheiratet hatten und die Kinder unser Leben mitprägten.

Es folgte die kurze berufliche Zwischenetappe bei Radio e Televisiun Rumantscha RTR. Die Zeit als Radioredaktor sollte einschneidend sein. Einerseits bemerkte ich, dass ich lieber selbst aktiv das Geschehen mitpräge und agiere, anstatt als Journalist darüber zu berichten. Andererseits war ich an der Quelle verschiedenster Nachrichtengefäße: von der Romanischen Nachrichtenagentur ANR über die Schweizerische Depeschenagentur SDA bis zu den internationalen Nachrichtenagenturen. Und ich stellte in meiner Arbeit etwas Grundlegendes fest: Das Thema Wasser mit seinen globalen und lokalen Herausforderungen wird medial immer mehr zum virulenten Thema. Ich wollte mich aktiv in die Diskussionen um Gletscherschmelze, Wasserknappheit und Klimawandel einbringen. Nicht als Journalist, sondern als »Macher«.

All diese Jahre in der Sportwelt, im Tourismus und in den Medien waren meine Lehrjahre. Bis im Herbst 2005 war mir nicht klar, wohin mein Weg führen wird. Die Jahre waren geprägt von innerer Unruhe. Es brodelte in mir. Für mich war schon immer klar, dass ich etwas Eigenes kreieren wollte: ein Projekt, an dem ich vielleicht ein Leben lang arbeiten und Erfüllung finden konnte; eine Vision, für die es sich zu leben lohnt. Dieser Anspruch, eine eigene Handschrift und auch Identität zu finden, ist eine Besessenheit. Es ist die Besessenheit des Künstlers oder der Künstlerin, die Kreativität bis zur Schmerzgrenze auszuleben. Leute, die mich aus den Medien kennen, sehen wohl einen Schwimmer, der versucht, von A nach B zu schwimmen, und dazwischen den Wasserbotschafter »spielt«. Für mich sind die Projekte, ob zu Wasser oder zu Land, Kunstinstallationen oder Performances. Sie sind im Augenblick Fragmente, die sich erst mit dem Ende meiner Lebenszeit hoffentlich zu einem Ganzen ordnen. Sodass »Das blaue Wunder« als gesamtes Kunstwerk wahrgenommen werden kann.

Prägend auf meinem Weg war eine Buchsequenz der Abenteuerlegende Reinhold Messner. Messner erwähnt im Zusammenhang mit einer Arktis-Expedition, dass er nicht schwimmen kann.3 Diese kleine Randnotiz wurde für mich zum Schlüssel der Quelle meiner Projekte. »Eu noud intuorn il muond!« – »Ich schwimme um die Welt!«, war mein erster Gedanke. Das ist es! So trete ich aus dem immer gleichen Fahrwasser, bin nicht im Kielwasser anderer unterwegs und lege eine eigene Spur um die Welt. Der Gedanke war eine Befreiung, denn ich hatte einen wortwörtlichen Weg gefunden, das gegen mich Gewandte nach außen zu drehen.

Von da an betrachtete ich die Welt anders. Ich suchte nach Wegen, wie ich mein Vorhaben realisieren konnte. Ich schlief nachts vor Aufregung nicht, studierte den Atlas auf der Suche nach globalen Wasserwegen. Die intensivste Zeit war in den Familienferien auf dem Hasliberg im Herbst 2005. Es waren Ferien ohne Internet, Smartphone und Fernsehen. Es regnete ununterbrochen, und wenn alle schliefen, stieg ich aus dem Bett und studierte Weltkarten. Ich hörte leise den Regen vor dem Fenster, fahles Licht fiel auf meine Wasserwege. Niemand wusste davon. Es war mein Geheimnis, mein Traum, meine Spinnerei.

Nach und nach wurde mir bewusst, dass in meiner Lebenssituation die Idee, die Welt zu umschwimmen, nicht umsetzbar war. Es würde jahrelange Abwesenheit von der Familie bedeuten. Wie sollte ich ein Einkommen generieren? Und wer sollte mich überhaupt bei diesem Wagnis unterstützen? Was würden Außenstehende darüber denken? Ich hörte bereits die Kritik. Doch die Idee eines solchen Schwimmprojekts hatte mich so eingenommen, dass ich nicht mehr loslassen konnte. Ausgehend von der Utopie wollte ich eine Vision finden, die ich realistisch umsetzen konnte.

Ich suchte nach Variationen und fand sie in Form der größten Süßwasserseen der Welt. Die höchsten Gipfel der Welt waren alle schon bestiegen. Doch die größten Seen der Welt sind für schwimmende Menschen noch zu entdecken: Baikalsee in Asien, Lake Victoria in Afrika, Titicacasee in Südamerika, die großen Seen in Nordamerika, kleinere Seen in Ozeanien und der Ladogasee nördlich von St. Petersburg als größter Süßwassersee Europas. Je mehr ich den Atlas studierte, umso mehr sah ich das Blau und nicht mehr das Land auf der Erde. Das ist mir bis heute geblieben. Wenn ich Geografiekarten anschaue, entdecke ich zuerst die Wasserlinien und Wasserflächen. Ich sehe die Welt wie auf einer Negativfotografie. Meine Orientierung hat sich seitdem um 180 Grad gewendet.

Die großen Seen, die »süßen Meere«, wie ich sie nenne, beschäftigten mich den ganzen Winter 2006/2007, bis mir im Frühling in Chur die zündende Idee kam. Ich trank meinen Kaffee wie immer ohne Zucker und betrachtete das Zuckersäckchen. Darauf war die Schweiz mit ihren Kantonen abgebildet – und ihre Seen. In diesem kleinen Maßstab war mein Kanton Graubünden ein weißer Fleck auf der Landkarte: kein Blau, kein See, kein Fluss. Eine Karte wie zu Zeiten der großen Eroberer, als die Welt noch aus weißen Flecken bestand. »Eu stögl cumanzar davant mia porta!« – »Ich muss vor meiner eigenen Haustüre beginnen!« Und so entstand während einer Tasse Kaffee in meinem Kopf die erste Reise. Die erste große Expedition – in meinen einheimischen Quellen.

Vielleicht ist es nicht logisch zu glauben, dass mein Weg vorbestimmt war. Logisch tönt zu mathematisch, zu rational. Vielleicht war mein Weg natürlich – selbstverständlich, so wie ein Rinnsal zum Bach, zum Fluss, zum Strom, zum See, zum Meer wird. Wer das Gleiche wie ich fühlt oder fühlte, weiß, wovon ich schreibe. Man hat die Wahl: Entweder man beerdigt seine Träume mit den Lebensjahren oder man entscheidet, »es zu tun«. Ich habe immer wieder die Stelleninserate in den Zeitungen durchforstet, doch nichts Passendes für mich gefunden. Eines Tages kam mir die Einsicht, dass es das auf mich passende Profil nicht gab. In der Konsequenz musste ich mein eigenes Profil aufsetzen und mich nur noch bewerben – auf meine eigene Stellenanzeige. Ich war die einzige Bewerbung und habe den Job erhalten. Mein Abenteuer »Das blaue Wunder« konnte beginnen.

Zwischen dem Gespräch mit meinem Vater am Bach bei Ardez, der Begegnung mit Gunther Frank in Basel am Rhein und den beruflichen Zwischenstationen lagen zwei Jahrzehnte. Intensive Jahre, in denen ich meinen Weg suchte. Die einzige Konstante in dieser Zeit war meine Freundin und spätere Frau Cornelia. Seit ich zwanzig bin, definieren wir immer wieder gemeinsame Ziele. Als ich ihr vom »Blauen Wunder« erzählte, war für sie klar, dass ich diesen Weg wählen würde. Für Cornelia war es konsequent, dass ich zu neuen Ufern aufbrechen würde.