Schärenmorde

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schärenmorde
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Schärenmorde


Erik Eriksson, Richard Grandin, Margaretha Levin Blekastad, Magnus Östnäs, Sofi Piehl

Schärenmorde

Übersetzt aus dem Schwedischen von Else Ebel


© 2014 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung der

Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Originaltitel: Mannen från andra sidan; Hämnaren vid Havet; Vargsommar

Satz: Leandra Ossege; Kathleen Schulze

Umschlag: Lena Hericks

unter Verwendung eines Fotos von sumnersgraphicsinc/Fotolia.com

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-941895-92-8

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

I

Der Mann von der anderen Seite

1

Als Robert Skogh hinunter in den Fahrradkeller ging, um sein Fahrrad zu holen, war der Himmel ganz klar und es war windstill. Im Kellergang lag eine gelbe klebrige Schmiere, Robert nahm an, dass es vermutlich Reste von einem Eis waren, das eines der Kinder aus dem Haus hatte fallen lassen. Sie hielten sich oft hier unten auf, obwohl sie das eigentlich nicht durften. Ein paar Zigarettenkippen lagen ebenfalls auf dem Boden; sie erinnerten Robert daran, dass er selbst mit zwölf Jahren angefangen hatte zu rauchen. Er hatte vor einem halben Jahr damit aufgehört, rauchte jedoch bei festlichen Anlässen immer noch; vielleicht würden es heute Abend auch ein paar Zigaretten werden.

Er hatte seine helle Sommerjacke an und trug nur ein Hemd darunter. Als er auf dem Abhang ein Stück entfernt von dem Haus in Vigelsjö, in dem er wohnte, in Fahrt kam, merkte er, wie kühl der Wind war, und er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch.

In den nächsten vier Tagen würde diese Jacke Roberts Leben verändern – das konnte er jedoch an diesem schönen Freitagnachmittag Ende Mai, als er mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Grind zu Fredrik und Daniel war, noch nicht wissen. Dort wollte sich die Saunagruppe treffen, die Freunde, mit denen er seit der Schulzeit in Verbindung geblieben war.

Als er sich auf dem Vätövägen befand, blickte er auf die Uhr; es war zwanzig nach sieben. Später würde er sich im Verhör daran erinnern, soweit war ihm das, was er an diesem Abend gemacht hatte, im Gedächtnis geblieben. Das schwarze Loch kam später, die quälende Gedächtnislücke.

Zuhause bei Fredrik und Daniel fanden sich die fünf alten Freunde ein. Sie begannen zunächst mit Bier und Pizza, die Daniel wie immer gut gelungen war. Robert rauchte die erste Zigarette des Abends auf dem Balkon; als sich jedoch einer von den anderen drinnen im Wohnzimmer eine ansteckte, ging auch er hinein. Kurz darauf rauchte er seine zweite.

Dann öffneten sie eine Flasche Explorer, und dann noch eine. Inzwischen war es zehn Uhr geworden. Zwei Stunden später schnitt Fredrik etwas Salami auf und bot ein paar Tüten mit Chips an. Sie spülten den nächtlichen Imbiss mit Whisky runter, den Fredrik auf der Ålandsfähre gekauft hatte.

Einer der Jungs schlief ein, aber die anderen tranken die Whiskyflasche leer und sahen sich ein paar Folgen South Park an. Robert hatte Mühe, die Augen offen zu halten, aber die Stimmen hörte er ganz deutlich.

Als er aufbrach, war es halb zwei. Er wurde von Markus Persson begleitet, sie hatten denselben Weg. Robert vergaß sein Fahrrad mitzunehmen. Sie gingen den Grindvägen hinunter zur Bucht, und Markus redete von einem Mädchen, das er kannte. Robert verstand jedoch nicht, ob das Mädchen in Norrtälje oder irgendwo anders wohnte. Er fragte nach, aber entweder hörte Markus die Frage nicht oder er wollte nicht antworten.

Er wohnte in der Nähe des Hafens, in einem gemieteten Zimmer im Untergeschoss einer Villa. Als sie dort ankamen, fragte er, ob Robert für einen Moment mit hineinkommen wolle. Robert fand, dass er genug getrunken hatte; er musste jedoch auf Toilette und ging deshalb mit hinein.

Im Haus war es dunkel, Markus´ Vermieter war verreist. Trotzdem schlichen sie so leise sie konnten durch die Kellertür. Robert stolperte und zog im Fallen etwas mit sich auf den Boden. Er wusste jedoch nicht, was es war.

Und obwohl er eigentlich nichts mehr trinken wollte, nahm er das Glas, das Markus ihm reichte. Nachdem er ausgetrunken hatte, schenkte Markus nach.

Als er das Haus verließ, begann es schon hell zu werden. Er wusste, dass er hinunter in Richtung Hafen gehen musste, und das klappte auch ganz gut. Im Großen und Ganzen hielt er sich auf den Beinen. Aber irgendwo auf dem Hafengelände verirrte er sich, landete hinter einem Schuppen, stolperte weiter, ging an einer Wand entlang, gelangte auf einen offenen Platz, setzte sich hin, um sich etwas auszuruhen und schlief ein.

Er lag etwa zehn Meter von der Kaimauer entfernt. Dort war ein altes Motorboot vertäut. Etwas weiter entfernt lag ein kleineres Lastschiff. Am Kai neben dem Schiff war eine größere Menge Zementsäcke aufgestapelt worden, neben den Säcken lagen zwei große Sandhaufen. Es war kein Mensch zu sehen, noch nicht.

Die Sonne hatte schon das Dach des hohen Silos im Hafen erreicht und den grauen Beton in ein warmes Gelb getaucht. Der langgezogene Schrei einer Möwe war zu hören, ein Auto fuhr hinten in der Roslagsgatan vorbei, dann folgte Stille, dann noch ein Auto. Norrtälje erwachte. Es war ein Samstag, der noch ein paar Stunden lang ein ganz gewöhnlicher Tag im Mai sein würde.

Robert fror, er zitterte vor Kälte und lag zusammengekrümmt da; als die Kälte sich jedoch allzu unangenehm bemerkbar machte, setzte er sich auf. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, wo er sich befand. Er erhob sich langsam, blickte hinaus aufs Wasser und bemerkte das Motorboot, das zum Teil von der hohen Kaimauer verdeckt wurde. Den Mann, der reglos im Wasser lag, sah er jedoch nicht.

Er sah nicht zurück, als er den Hafenbereich verließ. Hätte er es getan, dann hätte er den leblosen Körper, der sachte von der Morgenbrise und den leichten Wellen hin und her geschaukelt wurde, aber auch nicht gesehen. Er ging nach Hause in Richtung Vigelsjö und erinnerte sich so allmählich an den Abend in Grind. Er hatte jedoch keinerlei Erinnerung an das, was er im Hafen gemacht hatte. Er sagte sich selbst, dass er auf dem Weg nach Hause eingeschlafen sei, und damit gab er sich bis auf weiteres zufrieden.

Als Ragny Granberg an der S/S Norrtelje vorbeiging, hatten die Sonnenstrahlen den Wasserspiegel in der Bucht erreicht, und die Morgenwärme machte sich langsam bemerkbar. Sie führte ihren Rauhaardackel Laila an einer langen Leine, die der Hund zur vollen Länge auszog, als sie ein Stück am Kai entlanggegangen waren.

Ragny hielt wie üblich Abstand zur Kaimauer. Sie machten eine Runde bis hinauf zum Lagerhaus und dann wieder hinunter zum Kai. Sie hielt immer noch Abstand zur Kaimauer, denn das Wasser schreckte sie jedes mal aufs Neue ab. Laila jedoch lief los, ihr schien die Mauer zu gefallen.

Als der Hund stehenblieb, machte Ragny dasselbe. Und als Laila begann, irgendetwas, das im Wasser lag, anzubellen, trat Ragny vorsichtig an die Mauer und blickte hinunter. Zuerst dachte sie, es sei ein Sack, der dort im Wasser schwamm. Dann sah sie einen Arm und glaubte, es sei eine Jacke. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass es sich um einen Menschen handelte. Aufgeschreckt zog sie den Hund zu sich und eilte mit ihm denselben Weg zurück, den sie gekommen war. Als sie sich dem alten Dampfer näherte, sah sie, wie ein junger Mann gerade an Bord gehen wollte. Sie hielt ihn auf und erzählte, was sie gesehen hatte, und er rief die Polizei an.

»Sie möchten, dass du wartest«, sagte er zu Ragny.

Eine Viertelstunde später kam ein Streifenwagen. Eine Polizistin stieg aus und stellte sich als Fatima Barsawi vor. Sie begleitete Ragny zu der Stelle, an der sie den Menschen im Wasser gesehen hatte. Die junge Polizistin war dunkelhaarig und hatte einen Zopf, der ihr bis auf den Rücken hinabhing.

Als Robert am Samstag gegen elf Uhr aufwachte, hatte er einen ganz trockenen Mund. Er versuchte sich zu räuspern, brachte jedoch nur einen langgezogenen Zischlaut heraus. Als er sich langsam im Bett aufrichtete, wurde ihm schwarz vor Augen und sein Kopf dröhnte. Er brauchte fünf Minuten, um aufzustehen und zum Spülbecken in der Küche zu wanken. Er trank ausgiebig und blieb dann lange am Küchenfenster sitzen.

So allmählich erinnerte er sich daran, dass er am Abend vorher bei seinen Freunden gewesen war, und eine undeutliche Erinnerung an den Hafen wurde wach, hielt sich jedoch nicht lange. Er trank noch mehr Wasser und ging unter die Dusche.

Gegen zwei rief er seine Schwester Malin an. Er wusste, dass sie arbeitete, obwohl es Samstag war.

»Malin Skogh – Friseursalon Hårklipparna«, antwortete sie, und Robert merkte, dass sie gestresst war.

»Ich will nichts Besonderes, nur ein wenig reden«, sagte er.

»Ich habe einen Kunden«, sagte sie.

»Geht es dir gut?«

»Ja schon, aber ich habe im Moment keine Zeit zum Reden, und anschließend muss ich zu einem Kurs. Ich rufe dich Anfang der Woche an.«

Er sagte Auf Wiedersehen, sie sagte: »Pass auf dich auf«, und er antwortete, dass er das tun werde.

 

Eine Stunde später ging er hinaus, um etwas frische Luft zu schnappen, und da bemerkte er, dass sich auf dem einen Jackenärmel einige dunkelrote Flecken befanden. Sie sahen wie Blut aus. Er betrachtete seine Hände, konnte jedoch keine Schrammen entdecken. Deshalb dachte er, dass es sich wohl um etwas anderes handeln müsse und vielleicht von selbst verschwinden würde.

2

Als Fatima Barsawi den Block und ihren Stift herausholte, hörte sie das Sirenengeheul der Ambulanz näherkommen. Der Lärm posaunte Eile aus, obwohl es dafür schon längst zu spät war. Ragny Granbergs Bericht, der schon vorher ziemlich unzusammenhängend gewesen war, weil sie so aufgeregt war, wurde durch die Sirene noch unverständlicher. Fatima glaubte, dass die Frau oder wenigstens ihr Hund mehr wussten, als das, was zu verstehen war.

»Lag und schwamm im Wasser … gehe immer hier lang … ist vorher noch nie passiert … muss so etwas vor dem Frühstück sehen … was ist nur los mit den Menschen? … Laila, die sonst nur bellt, wenn mein Bruder sie für die Jagd ausleiht … ich musste sie von der Kaimauer zurückziehen … wer kann das sein, die Sommergäste sind ja noch gar nicht da … die Leute trinken viel zu viel, deshalb gehe ich nicht auf die andere Seite, in den Societetspark, da liegen immer leere Flaschen und Bierdosen herum, obwohl es erst Mai ist. Du als Polizistin solltest besser Ordnung halten.«

Fatima notierte sich Ragny Granbergs Namen und Adresse und forderte sie auf, nach Hause zu gehen. Sie selbst trat dichter an die Kaimauer heran, wo das Motorboot vertäut lag, und betrachtete die Leiche im Wasser. Zwei weitere Streifenwagen trafen ein, und einige der Kollegen begannen, die Leiche zu bergen.

Es war immer noch recht früh am Morgen. Die wenigen Menschen, die schon unterwegs waren, kamen neugierig näher. Fatima half, das blau-weiße Absperrband aufzuspannen, obwohl sie fand, dass das unnötig sei. Es würde sicher keine genaue Tatortuntersuchung geben und der Tote bald eine erledigte Angelegenheit sein, abgelegt als vermutlicher Unfall. In diesem Augenblick sah sie die Flecken auf dem Asphalt, zog das Band noch ein paar Meter weiter aus und befestigte es ordentlich.

Fatima holte ihr Handy heraus und rief ihren Vorgesetzten, den Kriminalkommissar Harry Lindberg, an. Sie wusste, dass er frei hatte, dachte jedoch, dass er trotzdem informiert werden wollte.

»Wir sind gerade dabei, unten im Hafen eine Leiche aus dem Wasser zu holen. Ich dachte zuerst, dass es nichts ist, was sich genauer zu untersuchen lohnt, jetzt habe ich aber Blutflecken auf dem Asphalt entdeckt, die ziemlich frisch aussehen. Vielleicht sollte man doch in Täby anrufen und die Spurensicherung anfordern, obwohl es Samstag ist.«

Sie erhielt eine mürrisch gemurmelte Genehmigung und rief daraufhin in Täby an. Die Spurensicherung würde kommen, aber es könne dauern.

Die Leiche wurde auf die Kaimauer hinaufgehoben und Fatima trat einen Schritt zurück. Als sie das Gesicht des Toten sah, erkannte sie ihn sofort. Lars Gustavsson, der hochgewachsene, magere, musikbegeisterte Mathematiklehrer, der nach seiner Pensionierung in der Kleinstadtidylle zu einem Original geworden war. Intellektuell, belesen, äußerst redselig, aber reichlich selbstgefällig und oft auch ein wenig angetrunken. Fatima wusste, dass er ein Boot besaß, und sie nahm an, dass das Motorboot, auf dem gerade ein paar Polizisten herumkletterten, ihm gehörte.

»Seid vorsichtig mit dem Boot, es könnte dem Toten gehören, vielleicht sind Spuren darauf zu finden«, rief sie. Fatima zeigte der Spurensicherung die Blutflecken und stellte fest, dass nun wirklich alle da waren. Der verschlafene Kriminalreporter der Norrtelje Tidning, Olle Kärv, stieg gerade aus dem Auto. Er hatte eine Fotografin dabei, eine junge Frau mit hohen Absätzen, die die Kamera schon bereithielt, bevor sie die Autotür hinter sich zugemacht hatte.

Olle Kärv machte wie immer keine Umschweife.

»Gibt es schon etwas, was ich schreiben kann, oder soll ich lieber in ein paar Stunden anrufen?«

»Wir haben einen Toten aus dem Wasser gezogen. Im Augenblick weiß ich noch nichts weiter, und ich kann nicht absehen, wann es erste Ergebnisse gibt. Aber ruf an, wenn du willst. Ich habe nicht vor vier Uhr Dienstschluss«, antwortete Fatima.

Olle arbeitete jetzt das dritte Jahr als Kriminalreporter. Er wusste, wie schwer es bisweilen war, einen Polizisten telefonisch zu erreichen, auch wenn dieser versprochen hatte, da zu sein, und er dachte, dass es am besten sei, schon jetzt ein wenig Material zusammenzukratzen, sodass es wenigstens für eine Notiz oder eine etwas längere Bildunterschrift reichen könnte. Er versuchte es mit ein paar Fragen:

»Wie lange hat er dort gelegen?«, »Wer hat ihn gefunden?«, aber als er keine Antwort erhielt, sagte er resigniert: »Ich rufe an.«

Als Fatima gerade das Hafengelände verlassen wollte, kam ihr ein Mann mit schnellen Schritten entgegen. Er stellte sich vor die Absperrung, blickte an dem Motorboot vorbei den leeren Kai entlang und sagte: »Was ist das denn! Haben die schon abgelegt?«

Dann wandte er sich an Fatima: »Was ist denn hier passiert?«

Sie erzählte es ihm kurz und wollte wissen, wer er sei.

»Entschuldigung, ich hätte mich vorstellen sollen. Sune Johansson. Ich arbeite als Hafenvorsteher für die Firma Svevia. Die Gemeinde hat die Arbeit extern vergeben. Ich habe früher für die Gemeinde gearbeitet, jetzt bin ich eigentlich im Ruhestand. Svevia wollte mich jedoch unbedingt haben.«

Er wedelte mit einem Papier und beklagte sich: »Ich habe zu ungenaue Unterlagen erhalten, um eine Rechnung über die Hafenabgabe schicken zu können. Weder Gewicht noch Nummer des Schiffes sind angegeben. Jetzt wollte ich mit dem Kapitän sprechen, aber offenbar haben sie schon abgelegt, obwohl sie nicht vor Montag ausfahren sollten.«

»Welches Schiff?«, fragte Fatima und betrachtete einige Sportboote, die an der Südseite des Hafens in der Nähe des Societetsparks vertäut lagen.

»Das Lastschiff aus Sankt Petersburg, das gestern Abend mit Zement für das neue Hafengebäude angekommen ist. Sie hatten angefangen, die Ladung zu löschen, aber ich habe ihnen gesagt, dass sie warten müssten, da der Empfänger vor Montag keine Wagen bereitstellen könne.«

Aber Fatima reagierte weder auf das verschwundene Lastschiff noch auf Sune Johanssons Sorgen. Sie hörte ihn nur noch sagen: »Dann muss ich wohl eine E-Mail schicken«, ehe ihre Gedanken wieder zu dem toten Lars Gustavsson abschweiften.

Auf dem Weg zurück zur Polizeiwache rief sie ihre Freundin an, die sich sofort meldete: »Malin Skogh – Friseursalon Hårklipparna.«

»Ich komme vielleicht etwas später zum Training. Ich muss bis vier arbeiten und wir wollten uns ja um fünf treffen,« sagte Fatima.

»Ich kann doch heute gar nicht. Muss zu einem Kurs, hatte ich das nict gesagt?«, antwortete Malin.

Obwohl Fatima das eigentlich nicht durfte, konnte sie es doch nicht lassen, Malin zu erzählen:

»Erinnerst du dich an Lars Gustavsson, bei dem ich im letzten Jahr auf dem Gymnasium Mathe hatte?«

Fatima hatte ihn gemocht, vielleicht auch, weil die beiden bisweilen damit angaben, dass sie Russisch miteinander sprachen.

»Sicher, ich hatte ihn ja auch«, antwortete Malin, die zwei Klassen über Fatima gewesen war, aus irgendeinem Grund jedoch diejenige gewesen war, der sich Fatima am engsten angeschlossen hatte, seitdem sie als Kind nach Schweden gekommen war.

Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft – Fatima hatte ihre ersten Jahre in einem armseligen Dorf im Irak verbracht, ehe ihre Familie auf einer strapazenreichen Flucht durch Russland nach Schweden gekommen war, während Malin in einem sicheren Villenviertel in Kvisthamra aufwuchs – hatten sie dieselben Wertvorstellungen und waren über fast alles einer Meinung, außer bei der Wahl ihres Berufes. Als Malin ihre Friseurlehre begann, bewarb sich Fatima um die Aufnahme in die Polizeihochschule. Heute waren sie 32 und 30 Jahre alt und trafen sich regelmäßig. Auch wenn es oft nur beim Sport war.

»Man hat ihn tot im Hafenbecken gefunden«, sagte Fatima.

»Wie schrecklich«, antwortete Malin und schwieg. Sie sagte es noch einmal, und dann erklärte sie, dass sie auflegen müsse. »Ich habe noch einen Kunden.«

Erst am Montag, als Fatima das Bild in der Zeitung sah, bemerkte sie das Frachtschiff im Hintergrund. Man konnte es schräg hinter dem Rettungswagen sehen, der den größten Platz auf dem Foto einnahm. Es war gut zu erkennen, dass das Schiff sich ein ganzes Stück weit draußen in der Hafeneinfahrt befand. Auf dem Weg hinaus.

Bei ihrer Ankunft musste es am Kai gelegen haben, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte; dann hatte es die Anker gelichtet und war hinausgefahren, ohne dass es jemand beachtet hätte. Sie bekam Selbstzweifel. Eigentlich fand sie sich in ihrem Beruf immer als sehr fähig, aufmerksam, reaktionsschnell. Ein so großes Frachtschiff nicht zu bemerken, lag weit unter ihrem Niveau. Sie schob es auf die aufgeregte Zeugin, auf die Irritationen wegen der lauten Sirenen des Rettungswagens und auf den Umstand, dass es sie stark getroffen hatte, ihren ehemaligen Mathematiklehrer dort als Leiche zu entdecken.

3

Lennart Wärlin hatte, obwohl er Pensionär war, einen vollen Terminkalender. Montags stand ein Rundgang durch Norrtälje auf der Tagesordnung, mit einem Besuch der Konditorei Töss auf einen Kaffee und der dazugehörigen Zimtschnecke. Dienstags waren eine Autofahrt und ein langer Spaziergang im Sika-Wald an der Reihe. Mittwochs wanderte Lennart Wärlin in einem zügigen Tempo den Slalomhügel hinauf und weiter bis zum Björnö-Hof. Donnerstags und freitags hatte er seine sogenannten »freien Tage«. Samstags stand eine Wanderung hinaus nach Nothamn auf der Halbinsel Väddö auf dem Programm – Lennart Wärlins persönlicher Lieblingsweg – und sonntags ging er nach Frötuna in die Kirche.

Nun war es Dienstagmorgen, und Lennart Wärlin saß auf einem Baumstumpf an einem See im Sika-Wald, von dem er glaubte, dass er Mörtsjö hieß. Er war sich nicht ganz sicher. Der Sika-Wald war voller Teiche und Seen, in denen kaum jemals jemand gebadet hatte oder auf denen jemals gerudert worden war.

Ein Reiher landete auf dem gegenüberliegenden Seeufer. Lennart gefiel, was er sah. Das gab ihm Ruhe.

Er hatte gerade sein zweites Wurstbrot aufgegessen, als ein weißer Lieferwagen auf dem ansonsten einsamen Kiesweg, nur hundert Meter von Lennarts Baumstumpf entfernt, hielt. Dann traf noch ein Wagen ein. Er sah, wie zwei Männer kleine Pakete aus dem Lieferwagen in den Kofferraum des zweiten Wagens umluden. Er glaubte zu erkennen, dass es sich bei dem zweiten Wagen um einen Volvo handelte. Lieferwagen konnte er nicht auseinanderhalten. Sie sahen alle gleich aus. Eine blöde Idee, dachte Lennart. Entweder hat man ein Auto oder man hat einen Lastwagen. Kleintransporter sind nichts Halbes und nichts Ganzes.

Er stand auf und streckte sich. Es war noch früh am Morgen, und es würde ein schöner Frühsommertag werden.

Erst jetzt bemerkten die Männer bei den Wagen, dass sie nicht allein waren. Sie winkten kurz zu Lennart hinüber, der fröhlich zurückwinkte. Lennart sah, dass sie eine Weile miteinander sprachen, ehe sie sich aufmachten, um zu ihm hinüberzukommen.

Lennart blickte in seinen Rucksack hinein, holte seine Thermosflasche heraus und schüttelte sie. Ja, es würde auch noch für einen Schluck Kaffee für die Männer reichen.

Eine Minute später erhob sich ein Reiher vom Ufer des Mörtsjö, aufgeschreckt durch einen Laut, den man sonst nicht so oft im Wald zu hören bekam.

Lennart war beliebt. Er würde von vielen vermisst werden.

Aber niemand würde ihn jemals finden.

Robert Skogh war kein Dummkopf, selbst wenn die meisten seiner ehemaligen Freundinnen in diesem Punkt sicher anderer Meinung sein würden. Er hatte das Gymnasium mit einem guten Zeugnis abgeschlossen und die Berufswelt stand ihm offen, wenn er nur etwas zielstrebiger gewesen wäre. Genau da lag Roberts größtes Problem. Er konnte sich selten zu etwas aufraffen. Das störte ihn natürlich zuweilen, da er wusste, dass Erfolg von Energie abhing. Die allerdings war bei ihm nicht gerade im Überfluss vorhanden.

Dämlich bin ich auf jeden Fall nicht, dachte er. Auch wenn er einsah, dass er einen ziemlich einfältigen Eindruck machte, am mahagonibraunen Tisch im Vernehmungsraum 2 auf der Polizeiwache von Norrtälje. Er war gekommen, um Hinweise zu geben. Jetzt saß er im Verhör.

Und das, dachte Robert, war auf jeden Fall ziemlich bescheuert.

 

»Blut auf der Jacke? Nein, das weiß ich nicht. Vielleicht habe ich mich geschnitten?«

Er hörte selbst, wie albern das klang, wie dumm er sich ausdrückte. Er versuchte, sich etwas Besseres auszudenken – versuchte, einen Hergang der Ereignisse zu finden –, ihm fehlten jedoch die Worte. Nichts, was als Erklärung dafür herhalten könnte, warum er Blutspuren an seiner Jacke hatte. »In der Nacht zum Samstag? Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte er, »es tut mir leid.«

»Sagt dir der Name Lars Gustavsson etwas?«

Robert musste nicht aufblicken, um die Stimme zu erkennen. Fatima Barsawi war hereingekommen. Die Freundin seiner Schwester Malin. Eine schöne Frau, der er gerne einen Platz in seinem Herzen eingeräumt hätte. Dort, wo gerade niemand wohnte, dachte er.

Verständnislos schüttelte er den Kopf. »Nein, im Augenblick nicht. Aber hör mal: Ich würde doch nicht herkommen, wenn ich jemanden getötet hätte. Ich habe nur erzählt, was ich weiß.«

Er hatte seine Stimme erhoben. Kriminalkommissar Harry Lindgren notierte den plötzlichen Gefühlsausbruch in seinem Notizbuch.

»Ich habe davon in der Zeitung gelesen«, fuhr Robert fort. »Und ich dachte, ich könnte vielleicht behilflich sein.«

»Bei was?«, fragte Harry Lindgren. »Du erinnerst dich ja an nichts.«

Robert verstummte.

»Es gibt ein Foto«, fuhr Harry Lindgren fort und legte einen Abzug auf den Tisch. »Das zeigt zwei Männer an der Kaimauer und ist in der Nacht von Freitag auf Samstag aufgenommen worden. Um 2:48 Uhr, um genau zu sein.«

Robert betrachtete das Foto. Es schien, als ob es vom Societetspark aus aufgenommen worden war. Im Vordergrund sah man die Wasserfläche des Hafenbeckens, und im Hintergrund waren zwei Gestalten zu erkennen. Die eine Person war hell angezogen.

»Erkennst du dich darauf?«, fragte Harry Lindgren.

Robert betrachtete das Foto noch einmal. Dieses Mal sah er erstaunt aus.

»Das könnte ich schon sein«, sagte er. »Aber ich weiß nicht. Genauso gut könnte es jemand anders sein.«

Harry Lindgren seufzte, schaltete das Aufnahmegerät aus und stand auf.

»Das hier ist zwecklos«, sagte er. »Ich muss mal auf die Toilette.«

Alles war vorgeplant. Wenn sie nicht weiterkamen, wollte Harry den Raum verlassen, und Fatima Barsawi sollte übernehmen. Fatima kannte Robert. Sie wusste auf jeden Fall, wer er war. »Lass mich einen Versuch machen, wenn es nicht klappt«, hatte sie gesagt.

Lindgren blickte über die Schulter zurück und verließ den Raum.

»Möchtest du Kaffee?«, fragte Fatima.

»Ja, gerne«, sagte Robert.

Sie traten auf den Flur hinaus und gingen bis zu einem Raum mit einer Kochnische und einer Kaffeemaschine, die einen schwer genießbaren, aber zweckmäßigen Kaffee hervorbrachte. Durch das Fenster konnte Robert den Verkehr auf dem Stockholmsvägen sehen, und er beobachtete, wie die Schlange vom Hotel Esplanade her immer länger wurde, als ein Autofahrer nach dem anderen verzweifelt versuchte, sich in den zunehmenden Sommerverkehr auf der Durchgangsstraße einzuordnen. An der Tankstelle stand eine Frau mit einem Kind an der Hand und nahm sich viel zu viel Zeit am Kartenautomaten. Robert konnte sehen, wie sich die Leute in der hinter ihr wartenden Schlange darüber aufregten. An der Schwimmhalle marschierten Kindergartenkinder in Reih und Glied durch die Tür zum Schwimmunterricht. Einen kurzen Moment lang erblickte er einen Mann, der an der Ecke der Schwimmhalle stand und fragte sich, was der dort zu suchen hatte. Er fühlte sich plötzlich unangenehm berührt.

Fatima stellte sich neben ihn und reichte ihm eine Tasse Kaffee.

»Wir müssen dich hierbehalten«, sagte sie. »Deine Geschichte klingt ziemlich diffus, und wir müssen die Blutflecken untersuchen.«

Robert nickte.

»Das verstehe ich«, sagte er. »Aber ich bin mir fast sicher, dass ich nichts getan habe.«

»Fast sicher?«

»Ja.«

»Robert«, sagte Fatima. »Möchtest du, dass ich jemanden anrufe?«

»Ja, ruf Malin an. Erzähl ihr, was passiert ist.«

Der gepflegt gekleidete Mann war sowohl zufrieden als auch äußerst unzufrieden. Zufrieden darüber, dass er Robert auf der Polizeiwache gesehen hatte. Unzufrieden allerdings, dass auch dieser ihn bemerkt hatte. Das hätte nicht passieren dürfen. Das war ein Fehler, der einem Profi wie ihm nicht hätte unterlaufen dürfen. Er war sichtlich irritiert. Er ging mit schnellen Schritten am Fluss entlang und stieß ab und zu kleine Steine hinein, die hungrige Stockenten für Brotkrümel hielten. Auf jeden Fall hat er keine Ahnung, wer ich bin, dachte er. Er hat mich gesehen, aber er weiß nicht, was er gesehen hat.

Die Überlegung beruhigte ihn.

Er ging über die Brücke am Kraftwerk und setzte sich auf eine der Bänke in dem kleinen Park. Er holte sein Handy heraus und wählte eine Nummer.

»Ich bins«, sagte er. »Wie ging es im Wald?«

»Problem gelöst«, wurde ihm geantwortet. »Die Waren sind geliefert worden.«

»Gut«, sagte der Mann auf der Parkbank, drückte das Gespräch weg und blinzelte in die Sonne.

Es war ein recht schöner Frühsommertag, trotz allem.