Три товарища / Drei Kameraden

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Три товарища / Drei Kameraden
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Адаптация текста, комментарии и словарь О.С. Беляевой

Erich Maria Remarque

DREI KAMERADEN

© 1964, 1991, 1998 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Cologne/Germany

© Беляева О. С., адаптация текста, словарь

© ООО «Издательство АСТ», 2018

1

Die Sonne mußte gleich aufgehen. Ich sah nach der Uhr. Es war Viertel vor acht. Ich schloß das Tor auf und machte die Benzinpumpe fertig. Um diese Zeit kamen immer schon ein paar Wagen vorbei, die tanken wollten. Plötzlich hörte ich hinter mir ein heiseres Krächzen. Ich blieb stehen und hörte. Dann ging ich über den Hof zurück zur Werkstatt und machte vorsichtig die Tür auf. Es war die Scheuerfrau Mathilde Stoß. Sie trug ein schmutziges weißes Kopftuch, eine blaue Schürze, dicke Pantoffeln. Sie wog neunzig Kilo. Sie hatte die Grazie eines Nilpferdes, dabei sang sie ein Lied.

Auf dem Tisch am Fenster standen zwei Kognakflaschen. Eine davon war fast leer. Am Abend vorher war sie voll gewesen. Ich hatte vergessen, sie einzuschließen.

»Aber Frau Stoß«, sagte ich.

Der Besen fiel zu Boden.

»Jesus Christus«, sagte Mathilde und starrte mich aus roten Augen an. »Ihnen hab‘ ich noch nich erwartet…«

»Kann ich verstehen. Hat‘s geschmeckt?«

»Das ja – aber‘s is mir peinlich.«

Ihr Schnurrbart zuckte, und ihre Augenlider klapperten wie bei einem alten Uhu. Aber allmählich gelang es ihr, klarer zu werden. Entschlossen trat sie einen Schritt vor.

»Herr Lohkamp, Mensch ist nur Mensch, erst habeich einen Schluck genommen und dann…«

Es war nicht das erstemal, daß ich sie so traf. Sie kam jeden Morgen zwei Stunden zum Aufräumen in die Werkstatt, und man konnte ruhig so viel Geld liegen lassen, wie man wollte, sie nimmt es nicht – aber hinter Schnaps war sie wie die Ratte hinterm Speck[1]. Ich nahm die Flasche hoch.

»Natürlich, den Kognak für die Kunden haben Sie nicht angerührt – aber den guten von Herrn Köster haben Sie weggeputzt.«

»Aber werden Sie mir verraten, Herr Lohkamp? Eine schutzlose Witwe?« Ich schüttelte den Kopf. »Heute nicht.«

»Trinken Sie das Glas mal aus!«

»Ich? Herr Lohkamp, das ist zuviel! Sie sind ein Heiliger, sind Sie! Man muß das Gute nehmen, wie es kommt. Auch wenn man‘s nicht versteht. Zum Wohle! Haben Sie vielleicht Geburtstag?«

»Ja, Mathilde.«

»Was?« Sie nahm meine Hand und schüttelte sie. »Herzlichsten Glückwunsch! Herr Lohkamp« – sie wischte sich den Mund –, »Ich habe Sie gern wie einen Sohn.«

»Schön.« Sie trank noch ein Glas verließ die Werkstatt.

Ich packte die Flasche weg und setzte mich an den Tisch. Die Sonne fiel durch das Fenster auf meine Hände. Merkwürdiges Gefühl, so ein Geburtstag, auch wenn man sich nichts draus machte. Dreißig Jahre – es hatte eine Zeit gegeben, da glaubte ich, nie zwanzig werden zu können, so weit weg erschien mir das. Und dann… Ich zog einen Brief und fing an zu rechnen. Die Kinderzeit, die Schule – das war irgendwo, schon nicht mehr wahr. Das richtige Leben begann erst 1916. Da war ich gerade Rekrut geworden, dünn, achtzehn Jahre alt, und übte nach dem Kommando eines Unteroffiziers Hinlegen und Aufstehen. An einem der ersten Abende kam meine Mutter in die Kaserne, um mich zu besuchen; aber sie mußte über eine Stunde auf mich warten. Ich hatte meinen Ranzen nicht richtig gepackt gehabt und mußte zur Strafe die Toilette putzen. Sie wollte mir helfen, aber das durfte sie nicht. Sie weinte, und ich war so müde, daß ich einschlief, als sie noch bei mir saß.

1917. Flandern. Middendorf und ich hatten in der Kantine eine Flasche Rotwein gekauft. Damit wollten wir feiern. Aber wir kamen nicht dazu. Morgens fing das schwere Feuer der Engländer an. Köster wurde mittags verwundet. Meyer und Deters fielen nachmittags. Und abends kam Gas. Wir hatten die Masken auf, aber die von Middendorf war kaputt. Als er es merkte, war es zu spät. Er starb am nächsten Morgen, grün und schwarz im Gesicht.

1918. Das war im Lazarett. Ein paar Tage vorher war ein neuer Transport angekommen. Schwere Verletzungen. Den ganzen Tag fuhren die Operationswagen herein und hinaus. Manchmal kamen sie leer wieder. Neben mir lag Josef Stoll. Er hatte keine Beine mehr, aber er wußte es noch nicht. Nachts starben zwei Leute bei uns im Zimmer. 1919. Wieder zu Hause. Revolution. Hunger. 1920. Putsch. Karl Bröger erschossen. Meine Mutter im Krankenhaus. Krebs im letzten Stadium. 1921 –Ich wußte es nicht mehr. Das Jahr fehlte einfach. 1922 war ich Bahnarbeiter in Thüringen gewesen, 1923 Reklamechef einer Gummifabrik. Das war in der Inflation.

Und dann? Die Jahre darauf? Ich wußte es auch nicht mehr so genau. War zu sehr durcheinandergegangen. Meinen letzten Geburtstag hatte ich im Café International gefeiert. Da war ich ein Jahr lang Stimmungspianist gewesen. Dann hatte ich Köster und Lenz wiedergetroffen. Und jetzt saß ich hier in der Auto-Reparatur-Werkstatt Köster und Co. Der Co. waren Lenz und ich, aber die Werkstatt gehörte eigentlich Köster allein. Er war früher unser Schulkamerad und unser Kompanieführer gewesen; dann Flugzeugführer, später eine Zeitlang Student, dann Rennfahrer – und schließlich hatte er die Bude hier gekauft. Erst war Lenz dazugekommen , dann ich.

Ich nahm eine Zigarette aus der Tasche. Eigentlich konnte ich ganz zufrieden sein. Es ging mir nicht schlecht, ich hatte Arbeit, ich war kräftig, – aber es war doch besser, nicht allzuviel darüber nachzudenken. Besonders nicht, wenn man allein war. Und abends auch nicht. Aber dafür hatte man den Schnaps.

Die Tür öffnete sich auf. Gottfried Lenz stand im Rahmen, lang, mager.

»Robby«, brüllte er, »Deine Chefs wollen mit dir reden!«

»Herrgott!« Ich stand auf. »Ich habe gehofft, ihr hättet nicht dran gedacht!«

Gottfried legte ein Paket auf den Tisch.

Da Otto und ich Vater- und Mutter für dich sind, schenke ich dir deshalb etwas zum Schutz. Nimm dieses Amulett! Es wird dich behüten.« Er hängte mir eine kleine schwarze Figur an einer dünnen Kette um den Hals.

»So! Das sind hier sechs Flaschen Rum von Otto! Doppelt so alt wie du!«

Er öffnete das Paket und stellte die Flaschen in die Morgensonne.

»Sieht wunderbar aus«, sagte ich. »Wo hast du die bloß her, Otto?«

Köster lachte. »Zu lang zum Erzählen. Aber sag mal, wie fühlst du dich denn? Wie dreißig?«

»Wie sechzehn und fünfzig gleichzeitig. Nicht besonders.

»Das nennst du nicht besonders?« erwiderte Lenz. »Das ist doch das höchste, was es gibt. Du hast die Zeit besiegt und lebst doppelt.« Köster sah mich an.

»Laß ihn, Gottfried«, sagte er dann. »Jetzt können wir arbeiten gehen«

Wir arbeiteten, bis es dämmerig wurde. Dann wuschen wir uns und zogen uns um. Lenz sah zu der Flaschenreihe hinüber.

»Wollen wir einer den Hals brechen?«

»Das muß Robby entscheiden«, sagte Köster. Lenz machte eine Flasche auf. Der Geruch verbreitete sich sofort durch die ganze Werkstatt.

»Wißt ihr was? Wir fahren‚ raus, essen irgendwo zu Abend und nehmen die Flasche mit. In Gottes freier Natur wollen wir sie aussaufen!«

»Glänzend.« Wir schoben den Cadillac beiseite, an dem wir nachmittags gearbeitet hatten. Hinter ihm stand ein sonderbares Ding auf Rädern. Es war der Rennwagen Otto Kösters, der Stolz der Werkstatt. Köster hatte den Wagen seinerzeit auf einer Auktion für ein Butterbrot gekauft. Fachleute, die ihn damals sahen, bezeichneten ihn ohne Zögern als interessantes Stück für ein Verkehrsmuseum. Aber Köster kümmerte sich nicht darum. Er zerlegte den Wagen wie eine Taschenuhr und arbeitete Monate hindurch bis in die Nächte daran herum. Eines Abends erschien er dann mit ihm vor der Bar, in der wir gewöhnlich saßen. Bollwies fiel vor Lachen fast um, als er ihn wieder erblickte, so komisch sah er immer noch aus. Um einen Witz zu machen, bot er Otto eine Wette an. Er wollte zweihundert Mark gegen zwanzig setzen, wenn Köster ein Rennen gegen seinen neuen Sportwagen annähme – Strecke zehn Kilometer, ein Kilometer Vorgabe für Ottos Wagen. Köster nahm die Wette an. Alles lachte und versprach sich einen Riesenspaß. Aber Otto tat noch mehr; er erhöhte die Wette auf tausend Mark gegen tausend Mark. Bollwies kam nach einer halben Stunde zurück. Schweigend schrieb er den Scheck aus und einen zweiten dazu. Er wollte die Maschine jetzt auf der Stelle kaufen. Aber Köster lachte ihn aus. Er hätte sie für kein Geld der Erde verkaufen. Doch so tadellos der Wagen innen war – von außen sah er immer noch schlecht aus. Wir könnten alles besser machen – aber wir hatten einen Grund, es nicht zu tun. Der Wagen hieß Karl. Karl, das Chausseegespenst[2].

Karl fuhr die Chaussee entlang.

»Otto«, sagte ich, »da kommt ein Opfer.«

Hinter uns hupte ungeduldig ein schwerer Buick. Der Mann am Steuer begriff nicht, daß bei einem Tempo von über hundert Kilometern der altmodische Kasten unter ihm nicht abzuschütteln war. Verwundert blickte er auf seinen Tachometer, als könne der nicht stimmen. Dann gab er Vollgas. Köster blickte ruhig auf die Straße, ich schaute gelangweilt in die Luft; und Lenz, obschon er ein Bündel Spannung war, zog eine Zeitung hervor und tat, als ob es nichts Wichtigeres für ihn gäbe, als gerade jetzt zu lesen. Der Mann im Buick glaubte schon gewonnen zu haben. Aber Karl machte im selben Moment schon einen Sprung.

 

»Gut gemacht, Otto«, sagte Lenz zu Köster. »Dem Mann wird sein Abendbrot nicht schmecken.«

Diese Jagden waren der Grund, warum wir Karls nicht änderten.

Wir hielten vor einem kleinen Gasthaus und kletterten aus dem Wagen. Der Abend war schön und still. Wie große Flamingos schwammen die Wolken am apfelgrünen Himmel. Aus dem kleinen Gasthaus drang der Duft gebratener Leber. Auch Zwiebeln waren dabei. In diesem Augenblick summte noch ein Wagen heran.Es war der Buick.

»Hoppla!« sagte Lenz.

Wir hatten schon öfter Schlägereien wegen ähnlicher Sachen gehabt. Der Mann stieg aus. Er war groß und schwer.

»Was für ein Modell ist Ihr Wagen da?« fragte er Köster.

Aber bevor er den Mund aufmachen konnte, öffnete sich plötzlich die zweite Tür des Buick. Ein Mädchen stieg aus. Überrascht blickten wir uns an. Lenz lächelte über sein ganzes sommersprossiges Gesicht. Wir lächelten alle.

»Binding«, sagte der Mann.

»Zeig doch mal den Wagen, Otto«, sagte Lenz.

»Warum nicht«, erwiderte Otto.

»Ich würde ihn wirklich gern mal sehen«, sagte Binding.

Beide gingen zum Parkplatz. Das Mädchen ging nicht mit. Es blieb schlank und schweigend neben Lenz und mir in der Dämmerung stehen. Gottfried schien die Sprache verloren zu haben.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich. »Wir haben nicht gesehen, daß Sie im Wagen waren.«

Das Mädchen sah mich an. »So schlimm war das doch gar nicht.«

»Schlimm nicht, aber auch nicht ganz ehrlich. Der Wagen läuft zweihundert Kilometer.«

»Genau hundertneunundachtzig Komma zwei,«, erklärte Lenz, wie aus der Pistole geschossen, stolz. Sie lachte.

»Und wir dachten, ungefähr so sechzig, siebzig.«

»Sehen Sie«, sagte ich, »das konnten Sie doch nicht wissen.«

»Nein«, erwiderte sie, »das konnten wir wirklich nicht wissen. Wir glaubten, der Buick wäre doppelt so schnell wie Ihr Wagen.«

»Wir hatten einen zu großen Vorteil. Und Herr Binding hat sich wohl über uns geärgert.« Sie lachte. »Einen Augenblick sicher. Aber man muß auch verlieren können; wie sollte man sonst leben.«

Es entstand eine neue Pause. Köster und Binding kamen zurück. Binding war in den paar Minuten ein ganz anderer Mann geworden.

»Wollen wir zusammen essen?« fragte er.

»Selbstverständlich«, erwiderte Lenz.

Wir saßen am Tisch. Die Wirtin kam gerade mit der Leber und den Bratkartoffeln. Binding war ein gutter Redner. Es war erstaunlich, was er alles über Automobile zu sagen hatte. Er war ein schwerer, großer Mann mit dicken Augenbrauen über einem roten Gesicht. Das Mädchen saß zwischen Lenz und mir. Es hatte den Mantel ausgezogen und trug darunter ein graues englisches Kostüm. Um den Hals hatte es ein weißes Tuch geknüpft, das aussah wie eine Krawatte. Ihr Haar war braun und seidig. Die Schultern waren sehr gerade, die Hände schmal, überlang und eher etwas knochig als weich. Das Gesicht war schmal und blaß, aber die großen Augen gaben ihm eine fast leidenschaftliche Kraft. Sie sah sehr gut aus, fand ich – aber ich dachte mir nichts weiter dabei. Lenz schlug sich plötzlich vor die Stirn:

»Der Rum! Robby, hol mal unsern Geburtstagsrum!«

»Geburtstag? Hat denn jemand Geburtstag?« fragte das Mädchen.

»Ich«, sagte ich.

»Wollen Sie nicht, daß man Ihnen gratuliert?«

»Doch«, sagte ich.«

»Also alles Gute!« Ich hielt einen Augenblick ihre Hand in meiner und spürte ihren warmen, trockenen Druck. Dann ging ich hinaus, um den Rum zu holen. Die Nacht stand groß und schweigend um das kleine Haus. Ich blieb stehen und sah nach dem Horizont. Ich wäre gern noch draußen geblieben; aber ich hörte Lenz schon rufen.

Binding vertrug den Rum nicht. Nach dem zweiten Glas ging er in den Garten hinaus. Ich stand auf und ging mit Lenz an die Theke.

»Großartiges Mädchen, was?« sagte er.

»Weiß ich nicht, Gottfried«, erwiderte ich. »Habe nicht so drauf geachtet.«

Er betrachtete mich mit seinen blauen Augen und schüttelte den Kopf.

»Wozu lebst du eigentlich, sag mal, Baby?«

»Das wollte ich auch schon lange mal wissen.«

Er lachte. Er folgte Binding in den Garten. Nach einiger Zeit kamen beide an die Theke zurück. Die beiden holten sich die Ginflasche und duzten sich eine Stunde spatter. Bald sangen beide draußen Soldatenlieder. Das Mädchen hatte der letzte Romantiker darüber vollständig vergessen. Wir drei blieben allein in der Wirtsstube. Es war plötzlich sehr still.

Es war alles gleich – solange man lebte. Ich sah Köster an. Ich hörte, wie er mit dem Mädchen sprach; aber ich achtete nicht auf die Worte. Ich trank mein Glas aus. Die beiden andern kamen wieder herein. Sie waren nüchterner geworden in der frischen Luft. Ich half dem Mädchen in den Mantel. Es stand vor mir, den Mund leicht geöffnet, mit einem Lächeln. Wo hatte ich nur die ganze Zeit meine Augen gehabt? Hatte ich denn geschlafen? Ich verstand plötzlich die Begeisterung von Lenz.

»Glauben Sie, daß er fahren kann?« fragte ich.

»Ich denke schon…« Ich sah sie immer noch an.

»Wenn er nicht sicher genug ist, kann einer von uns mitfahren.«

»Er fährt viel besser, wenn er getrunken hat.«

Ich wollte etwas tun, damit sie nicht so wegging.

»Darf ich morgen einmal bei Ihnen anrufen und hören, wie es geworden ist?« fragte ich.

Sie antwortete nicht gleich. »Nun gut, wenn Sie wollen. Westen 2796.«

Ich schrieb mir die Nummer draußen gleich auf. Wir sahen, wie Binding abfuhr, und tranken noch ein letztes Glas.

2

Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich schlief lange und erwachte erst, als die Sonne auf mein Bett schien. Ich sprang rasch auf und riß die Fenster auf. Draußen war es frisch und klar. Ich stellte den Spirituskocher auf die Bank und suchte die Dose mit Kaffee. Meine Wirtin, Frau Zalewski, hatte mir erlaubt, im Zimmer meinen eigenen Kaffee zu kochen. Ihrer war zu dünn. Besonders wenn man abends getrunken hatte. Ich wohnte schon zwei Jahre in der Pension Zalewski. Die Gegend gefiel mir. Es war immer etwas los. Vor dem Hause lag ein alter Friedhof, der seit langem stillgelegt war. Er hatte Bäume wie ein Park. Neben dem Friedhof war ein Rummelplatz mit Karussells und Schiffschaukeln.

Ich zog mich sehr langsam an. Das gab mir das Gefühl von Sonntag. Ich wusch mich, ich las die Zeitung, ich brühte den Kaffee auf, ich stand am Fenster und ich hörte die Vögel singen, ich wählte zwischen meinen paar Hemden, ich leerte meine Taschen aus: Kleingeld, Messer, Schlüssel, Zigaretten – und da der Zettel von gestern mit dem Namen des Mädchens und der Telefonnummer. Patrice Hollmann. Ich legte den Zettel auf den Tisch. War das wirklich erst gestern gewesen? Anrufen? Vielleicht – vielleicht auch nicht. Ich war eigentlich ganz froh, meine Ruhe zu haben. War Lärm genug gewesen in den letzten Jahren.

In diesem Augenblick ging der Sonntagkrach im Zimmer nebenan los. Es war das Ehepaar Hasse. Die beiden wohnten seit fünf Jahren hier in einem kleinen Zimmer. Es waren keine schlechten Leute. Hätten sie eine Dreizimmerwohnung gehabt, mit einer Küche für die Frau, und außerdem noch ein Kind, dann wäre ihre Ehe wahrscheinlich gut geblieben. Aber eine Wohnung kostete Geld, und ein Kind bei diesen unsicheren Zeiten – wer konnte sich das leisten! So hockten sie zu dicht aufeinander, die Frau war hysterisch geworden, und der Mann hatte ständig Angst, seinen kleinen Posten zu verlieren. Dann war er fertig. Er war fünfundvierzig Jahre alt. Niemand nahm ihn mehr, wenn er einmal arbeitslos wurde.

Es klopfte und Hasse ging herein. Er fiel auf einen Stuhl: »Ich ertrage es nicht mehr…«

Er war ein guter Mann. Ein bescheidener, pflichttreuer Angestellter. Aber gerade die hatten es heute am schwersten. Sie hatten es wohl immer am schwersten. Bescheidenheit und Pflichttreue werden nur in Romanen belohnt. Im Leben werden sie ausgenutzt und dann beiseite geschoben. Hasse hob die Hände.

»Denken Sie, schon wieder zwei Kündigungen im Geschäft. Der nächste bin ich, passen Sie auf, ich!«

In dieser Angst lebte er von einem Ersten zum andern. Ich schenkte ihm einen Schnaps ein. Seine Frau war zweiundvierzig. Sie war noch nicht so verbraucht wie der Mann. Sie litt an Torschlußpanik[3]. Es hatte keinen Zweck, sich da einzumischen.

»Hören Sie, Hasse«, sagte ich, »bleiben Sie ruhig hier sitzen, solange Sie wollen. Ich muß weg. Kognak steht im Kleiderschrank, wenn Sie den lieber mögen. Das hier ist Rum. Da liegen Zeitungen. Und dann gehen Sie heute nachmittag mit Ihrer Frau doch mal‚ raus aus dem Bau hier. Vielleicht ins Kino. Das kostet ebensoviel wie zwei Stunden im Café, und Sie haben mehr davon!«

Nebenan stand die Tür offen. Die Frau schluchzte, daß man es draußen hören konnte. Die nächste Tür war angelehnt. Eine Wolke Parfüm kam heraus. Da wohnte Erna Bönig, Privatsekretärin. Viel zu elegant für ihr Gehalt; aber einmal in der Woche diktierte ihr Chef ihr bis zum Morgen. Dann war sie am nächsten Tag sehr schlechter Laune. Dafür ging sie jeden Abend tanzen. Wenn sie nicht mehr tanzen könne, wolle sie nicht mehr leben, erklärte sie. Sie hatte zwei Freunde. Einer liebte sie und brachte ihr Blumen. Den anderen liebte sie und gab ihm Geld. Neben ihr Rittmeister Graf Orlow, russischer Emigrant. Eintänzer, Kellner, Filmkomparse, Gigolo mit grauen Schläfen, wunderbarer Gitarrespieler. Nächste Tür. Frau Bender, Krankenschwester in einem Säuglingsheim. Fünfzig Jahre alt. Mann im Kriege gefallen. Zwei Kinder 1918 an Unterernährung gestorben. Hatte eine bunte Katze. Das einzige. Daneben – Müller, pensionierter Rechnungsrat. Schriftführer eines Philatelistenvereins. Lebendige Briefmarkensammlung, sonst nichts. Glücklicher Mensch.

An der letzten Tür klopfte ich.

»Na, Georg«, sagte ich, »immer noch nichts?«

Georg Block schüttelte den Kopf. Er war Student im vierten Semester. Um die vier Semester machen zu können, hatte er zwei Jahre im Bergwerk gearbeitet. Das ersparte Geld war jetzt fast verbraucht; er hatte nur noch für zwei Monate zu leben. Ins Bergwerk konnte er nicht wieder zurück – da waren heute schon zuviel Bergleute ohne Arbeit. Er hatte auf jede Weise versucht, eine Stelle nebenbei zu bekommen. Eine Woche lang war er Zettelausteiler für eine Margarinefabrik gewesen; aber die Fabrik war pleite gegangen. Kurz darauf bekam er einen Posten als Zeitungsausträger, aber nicht lange. Jetzt saß er jeden Tag in seinem Zimmer. Er aß einmal am Tage. Dabei war es egal, ob er die Restsemester noch machte oder nicht – auf eine Stelle konnte er auch nach dem Examen in frühestens zehn Jahren rechnen. Eltern hatte er auch nicht mehr.

Die Küche. Das Telefon. Halbdunkel. Geruch nach Gas und schlechtem Fett. Die Korridortür mit den vielen Visitenkarten neben dem Klingelknopf. Meine auch.

»Robert Lohkamp, stud. phil., zweimal lang klingeln.« Sie war gelb und schmutzig. Stud. phil. War lange her. Ich ging die Treppe hinunter zum Café International.

Das International war ein großer, dunkler, verräucherter Saal mit mehreren Hinterzimmern. Vorn, neben der Theke, stand das Klavier. Es war verstimmt, aber ich liebte es. Es hatte das Jahr meines Lebens mit mir geteilt, als ich als Stimmungsklavierspieler hier engagiert gewesen war. Vorn saßen die Huren. Das Lokal war leer. Nur der Kellner Alois stand hinter der Theke.

»Wie immer?« fragte er.

Ich nickte. Er brachte mir ein Glas Portwein mit Rum, halb und halb. Ich setzte mich an einen Tisch.

Die Katze des Wirtes saß auf dem Klavier und schnurrte. Ich rauchte langsam eine Zigarette. Die Luft machte schläfrig. Eine sonderbare Stimme hatte das Mädchen gestern gehabt. Dunkel, etwas rauh, fast heiser, aber doch weich.

»Gib mir mal ein paar Magazine, Alois«, sagte ich.

Da knarrte die Tür. Rosa kam. Rosa, die Friedhofshure, genannt das Eiserne Pferd. Sie wollte eine Tasse Schokolade trinken. Die leistete sie sich jeden Sonntagmorgen hier; dann fuhr sie nach Burgdorf, um ihr Kind zu besuchen.

»Servus, Robert.«

»Servus, Rosa. Was macht die Kleine?«

»Will mal sehen. Hier – das bring‘ ich ihr mit.«

Sie packte aus einem Paket eine Puppe mit roten Backen und drückte ihr auf den Bauch.

»Ma-ma«, quäkte die Puppe. Rosa strahlte.

 

»Fabelhaft!« sagte ich.

»Paß mal auf.«

Sie beugte die Puppe nach hinten. Mit einem Klapp schlössen sich die Augen.

»Unerhört, Rosa.« Sie war befriedigt und packte die Puppe wieder weg. »Du verstehst was von solchen Sachen, Robert. Wirst mal ein guter Ehemann.«

»Na, na«, sagte ich zweifelnd.

Rosa hing an ihrem Kinde. Bis vor einem Vierteljahr, solange es noch nicht laufen konnte, hatte sie es bei sich in ihrem Zimmer gehabt. Dann gab sie in ein teures Kinderheim. Dort galt sie als Witwe. Sonst hätte man das Kind nicht angenommen.

»Du kommst doch Freitag? Du weißt doch, was los ist?«

»Natürlich.« Ich hatte keine Ahnung, was los war; aber ich hatte auch keine Lust, danach zu fragen. Ich trank noch einen Rum, streichelte die Katze und ging dann.

Am späten Nachmittag ging ich in unsere Werkstatt. Köster war da. Er arbeitete an dem Cadillac. Wir hatten ihn vor einiger Zeit alt gekauft. Es war eine Spekulation. Wir hofften, gut damit zu verdienen. Ich zweifelte, ob es ein Geschäft sein würde. Bei den schlechten Zeiten wollten alle Leute kleine Wagen kaufen, aber nicht so einen Omnibus.

»Billige werden gekauft und ganz teure auch. Es gibt immer noch Leute, die Geld haben. Oder so aussehen wollen.«

»Wo ist Gottfried?« fragte ich.

»In irgendeiner politischen Versammlung…«

»Verrückt! Was will er denn da?« Köster lachte.

»Das weiß er selbst nicht. Da muß er ja immer irgend etwas Neues haben.«

»Kann sein«, sagte ich. »Komm, ich helf‘ dir etwas.«

»Weißt du, was ich hier habe?« fragte er.

»Na?«

»Karten zum Boxen heute abend. Zwei. Du gehst doch mit, was?«

Ich zögerte. Er sah mich erstaunt an.

»Stilling boxt«, sagte er, »gegen Walker. Wird ein guter Kampf.«

»Nimm Gottfried mit«, schlug ich vor und fand mich lächerlich, daß ich nicht mitging. Aber ich hatte keine rechte Lust, ich wußte nicht warum.

»Hast du was vor?« fragte er.

»Nein.« Er sah mich an. »Ich gehe mal nach Hause«, sagte ich. »Briefe schreiben und so was. Muß auch mal sein…«

»Na schön. Wie du willst.«

Ich ging nach Hause. Aber als ich in meinem Zimmer saß, wußte ich auch nicht, was ich anfangen sollte. Ich ging über den Korridor, um Georgie zu besuchen. Ich hielt mich nicht lange bei Georgie auf. Nach einer Viertelstunde ging ich zurück. Ich überlegte, ob ich etwas trinken wollte. Aber ich wollte nicht. Ich setzte mich ans Fenster und schaute auf die Straße. Draußen brannten schon die Laternen; aber es war noch nicht dunkel genug. Schließlich – anrufen konnte ich ja mal. Hatte es doch sogar halb und halb versprochen. Wahrscheinlich war das Mädchen auch gar nicht zu Hause.

Ich ging zum Vorplatz, wo das Telefon stand, hob den Hörer ab und sagte die Nummer. Das Mädchen war da. Ich hängte wieder an, nachdem ich, anstatt mich nur zu erkundigen, eine Verabredung für übermorgen abgemacht hatte. Plötzlich erschien mir alles nicht mehr so blöd. Verrückt, dachte ich.Ich rief Köster an.

»Hast du die Karten noch Otto?«

»Ja.«

»Gut. Ich gehe doch mit zum Boxen.«

Nachher wanderten wir noch eine Zeitlang durch die Stadt. Die Straßen waren hell und leer. In meinem Zimmer saß ich noch eine Weile auf. Die Bude gefiel mir auf einmal gar nicht mehr. Man kann eigentlich keinen anständigen Menschen einladen, dachte ich. Eine Frau schon gar nicht. Höchstens eine Hure aus dem International.

1Но водка была для нее, что сало для крысы.
2Призрак шоссе
3Ее угнетал страх приближающейся старости.