100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 3

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100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 3
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Erhard Heckmann

100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico

Teil 3

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Copyright der Fotografien bei Erhard Heckmann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Gewidmet meiner Frau Sabine und Tochter Dörthe


St.Luke‘s Anglican Church, Newtown, Neufundland. Weil das Dorf am Nordende der Bonavista Bay auf vielen kleinen Inseln erbaut wurde, nennt es sich auch „Venedig des Nordens”

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Tracy Arm und Russisch Alaska

Busch und Großstadt – Kitimat Mountains und Montreal

Nordatlantik und französischer Charme im Reiseland Ostkanada

Halifax und Nova Scotia

Neufundland – wo sich Himmel, Wasser und Klippen die Hand reichen

Die Kartoffelinsel, Kanadas Geburtsplatz

Über New Brunswick in die Provinz Québec

Durch die Adirondacks, White Mountains, die Neuengland-Staaten und zurück nach Nova Scotia


„Autoritäten …“

Vorwort

Kanada ist ein großartiges Land. Es hat mich begeistert und mein Herz gewonnen mit seiner grandiosen Natur, seiner Weite, Einsamkeit und seinen Tieren. Mit Alaska war es ähnlich.

Im einstigen „Wilden Westen“ kreuzten meine Frau und ich die Spuren der Indianer, die im Strom der Völker und Kulturen mitschwimmen, der Goldgräber, Pelzhändler, Seefahrer und Siedlungspioniere, ritten tagelang am Rande des Machbaren durch unendliche, schöne Wildnis, lernten die Buschflieger schätzen und saßen mitten unter lachsfischenden Grizzly Bären. Wir erlebten die berühmte Inside Passage, sahen Gletscher kalben, umrundeten Eisberge im hohen Norden, waren gefesselt vom Spiel der Wale und von der Einsamkeit, mit der sich der Dempster Highway durch die Tundra bis hinauf zum mächtigen Mackenzie windet, der in der Nähe von Inuvik seine Wasser über ein weites Delta in die Beaufort See entlässt.

Nordamerika ist auch ein Kontinent der Nationalparks, Wohnmobile und Allradtrucks, der Bären, Elche, Bergschafe, wunderschöner Seevögel, eisiger Gletscher, schneebedeckter Gipfel, bunter Alpenwiesen, tiefer Küstenregenwälder, türkisfarbener Bergseen und klarer Flüsse, in denen Millionen Lachse alljährlich zu ihren Geburtsgewässern ziehen. Im Osten stehen facettenreiche, karge Landschaften wie Neufundland oder Labrador im krassen Gegensatz zu den Metropolen der Großstädte, den farbenfrohen Wäldern im Indian Summer, den tosenden Niagarafällen oder den wogenden Getreidefeldern der endlosen Prärien, auf denen einst Millionen von Büffel weideten.

Es waren Erfahrungen, die neben erlebter Schönheit, Begeisterung und Freude aber auch verändern, nachdenken lassen, wenn man von den harten Zeiten der Erforschung des kontinentalen Nordwestens erfährt, und zusätzlich lehren, dass wir unsere Kinder verstärkt in die Natur hinausführen müssen. Woher sonst sollen sie später wissen, wenn sie selbst Entscheidungen zu treffen haben, wie mit diesem wertvollen Kleinod Natur umzugehen ist? Denn nur wenn der Mensch es zulässt, wird nicht nur die grandiose Natur Nordamerikas eine dauerhafte Zukunft haben.

Alles in einem Buch niederzuschreiben hätte das technisch Machbare weit überschritten. Der Anfang dazu wurde mit den beiden ersten Teilen gemacht, die sich hauptsächlich mit dem Nordwesten des Kontinents beschäftigten, während dieses Buch die Erzählung über die Reisen durch Nordamerika unter gleichem Titel fortsetzt und mit Ostkanada und den Neuengland-Staaten zwei Schwerpunkte kennt. Den Schlusspunkt setzt Teil 4, der hauptsächlichst durch die Nationalparks des westlichen Amerikas führt und seine Reise von San Francisco nach Seattle beginne.

Im Teil 1 stand unsere erste große Reise durch Kanada im Mittelpunkt, doch war auch von Alaska, Pionieren, Grizzlys, Buschfliegern, vom Pelzhandel, Goldrausch und dem „Yellowstone“ die Rede, so dass auch einige Wege über den 49. Breitengrad führten. Teil II setzt diese Erzählungen fort und berichtet auch von Trail-Ritten in die kanadische Wildnis, der Nordwestpassage, den Rockies und dem einsamen Dempster Highway.

Montana, Idaho, Oregon, Washington oder, gemeinsam mit den maritimen Provinzen des kanadischen Ostens, waren auch die Neuenglandstaaten Zugaben am Rande unserer Wege, die uns Kanada und Alaska erschlossen, und auf die wir neugierig geworden waren, nachdem uns Amerikas mittlerer und südlicher Westen mit seinen grandiosen Naturdenkmälern bis hin nach New Mexico auf einer der ersten selbst konzipierten Überseereisen in seinen Bann gezogen hatte.

Vor der Begeisterung für Wohnmobil und Übersee erfüllten Zelt, Auto und Europa diese Rolle, ehe uns Mietwagen auf eigenen Wegen Südafrika, Zimbabwe, Botswana und Namibia erkunden, oder Blicke in den Mittleren und Fernen Osten werfen ließen. Letztendlich aber war es die Wohnmobilbegeisterung, die uns zu Reisefans werden und immer wieder aufbrechen ließ, bis hin nach Australien oder Neuseeland.

Tracy Arm und Russisch Alaska

Der Bus der White Pass & Yukon Route startete auf die Minute genau um 8 Uhr und brachte uns mit Gepäck für 74 Dollar nach Skagway. Genauer gesagt bis Frazer, denn dort wird der Pass kontrolliert und auf die Eisenbahn umgestiegen. Die allerletzten Kilometer im Ort überbrückt der kostenlose Van der kleinen Gold Rush Lodge, deren roter Holzbau einfach wirkt, sich aber als ordentlich und sauber erweist, und dessen Besitzer an viele kleine Annehmlichkeiten gedacht hat. Skagway ist für uns, wie auch morgen Juneau, nur kurze Zwischenstation. Das eigentliche Ziel an der Inside Passage heißt Prince Ruppert, und dorthin wird uns die „Taku“ bringen. Dieses Schiff haben wir ganz bewusst gewählt, denn es ist das einzige der Flotte, das derzeit Sitka – das ehemalige Paris des Nordens – am Tage anläuft. Während in Juneau noch eine Tour in den Tracy Arm ansteht, werden wir uns heute in Skagway nur unters Volk mischen und den Unabhängigkeitstag mit all denen feiern, die das auch tun. Und dazu ist der „Red Onion Saloon“ die richtige Destination; historisch, urig, und die Band mit Sängerin mischt ordentlich auf. Auf die Preise wirkt sich dieser Service aber nicht aus, denn für zwei Portionen Chilibohnen und sechs große dunkle Bier standen am Ende ganze neun Dollar auf der Rechnung, und das sind momentan weniger als fünfeinhalb Euro. Rechnerisch kann das eigentlich nicht stimmen, doch listet die Getränkekarte nur die Biersorten auf, aber keine Preise. Da bleibt also nur anzunehmen, dass es heute Freibier gibt, und lediglich die Bohnen zu bezahlen waren. Mysteriös ging es hinter diesen alten Holzwänden aber schon immer zu, und der Grund, weswegen der Red Onion Saloon heute als „National Historic Building“ geführt wird, ist dann auch eher ein schmunzelnder: 1897 aus Planken gebaut, die Skagways Gründer Capt.William Moore im Wald selbst geschlagen hatte, entwickelte sich das ein Jahr später eröffnete „Business“ zum exklusivsten Bordell des Ortes. Während im Parterre Alkohol ausgeschenkt wurde, hatten die zehn kleinen Räume der zweiten Etage neben drei Ausgängen – zwei davon in das jeweilige Nebenzimmer – auch je eine Kupferrohrverbindung vom Fußboden des Zimmers zum „Cash Register“ an der Bar, wo jeweils eine Puppe pro Zimmer signalisierte, welche der Damen Besuch hatte oder nicht. Wenn das Geschäft blühte, legte der Mann hinter dem Tresen die Figur solange auf den Rücken, bis das Geld durch das Kupferrohr an der Bar angekommen war und dem Minipüppchen wieder auf die Beine verhalf. Die Sicherheit des Honorars, üblicherweise fünf Dollar in Gold, garantierte der Barkeeper, der es solange verwahrte, bis Birdie Ash, Big Dessie, Popcorn Lil, The Oregon Mare, Babe Davenport, Pea Hull Annie, Kitty Faith, The Bell of Skagway – auch die berühmte Klondike Kate soll dabei gewesen sein – ihre Münze abholten. Als das Geschäft 1899 zu stagnieren begann, zogen die meisten der Damen nach Norden, wo sie in Dawson den Goldfeldern wesentlich näher waren und Casinos, Spiel- und Tanzhallen von erheblichem Aufwind beflügelt wurden. Der Red Onion Saloon selbst veränderte sich auch, denn die Eisenbahn begann das Geschäft in Skagway zu bestimmen, und viele der Geschäfte rückten nun näher an die Station heran. Auch der „Red Onion“, für den ein einziges Pferd genügt haben soll, um die Konstruktion von der 6th- / State Street zum heutigen Broadway-Standplatz zu ziehen, machte den Transport mit. Unglücklicherweise soll das um die letzte Ecke herum rückwärts erfolgt sein, so dass Front- und Rückseite demontiert und umgetauscht werden mussten, damit vorn wieder vorn war und nicht hinten. Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges diente das Gebäude unterschiedlichen Zwecken. Es war Wäscherei, Bäckerei, Armeebaracke, Fernsehstation und Souvenir-Laden. Erst als Jan Warentmore 1980 eine „Liqueur-Licence“ erwarb, eröffnete es wieder als Saloon, in dem heute kaum ein Platz zu bekommen war. Immerhin ist uns nun auch das „Frontcover“ der Speisekarte klar, dass eine flotte Dame durch eine Sprechblase lächelnd sagen lässt: „ So you thought I was the only dish at the Red Onion Saloon“ …

 

Eine Institution war auch das „Pullen House“, das für ein halbes Jahrhundert den Ruf genoss, das beste Hotel in Alaska zu sein. Verdankt hat es diesen der unermüdlichen Harriett Pullen. Die vierfache Mutter kam im September 1897 nach Skagway, arbeitete im Zeltrestaurant und formte an den ersten Tagen Büchsen zu Pfannen, um darin „Dried Apple-Pie“ zu backen. Der Apfelkuchen schlug ein, sie holte ihre Kinder nach und ging mit deren Hilfe ins Horse-packing Geschäft. Auch damit verdiente sie gut, kaufte Captain William Moore’s großes Heim und änderte es in ein Hotel um, das sie fünfzig Jahre lang führte. Der Frau, die sich als Witwe ausgab und 1947 zu Skagway starb, hatte durch Courage und harte Arbeit sich sehr schnell Respekt und Ansehen verschafft, und überall dort, wo ihr Markenzeichen, der bespannte Landauer anhielt, öffneten sich ihr die Türen. Sie kaufte zu Dea die „Historic Townside“, hielt Milchkühe, schützte die Gold Rush Struktur und führte Gäste auf Touren nach dort. 1970 verkauften ihre Nachfahren diesen Besitz an den National Park Service, womit das Erbe dieser tapferen Frau in die richtigen Hände weitergegeben wurde.


Skagway, Alaska –Anfang oder Ende der Inside Passage

Clever und fleißig war auch ein anderer Pionier: G. Brackett baute 1897 mit 250 bis 300 Arbeitern – Unqualifizierte verdienten am Tag 2.50 Dollar, Zimmerleute einen mehr – unterhalb der heutigen Eisenbahnschienen eine Wagenstraße, die bis zum White Pass führen sollte. Als sein Geld ein Jahr später alle war und die Eisenbahn Interesse zeigte, verkaufte er seine Straße für 100.000 Dollar. Danach hatten britische Geldgeber innerhalb von 26 Monaten den Wandel des Transportsystems vom primitiven Trail zur Moderne des 19. Jahrhunderts ermöglicht und J.Heney mit 2.000 Arbeitern in Handarbeit am 29.7.1900 umgesetzt, was er den Investoren vorher versprochen hatte: „ Geben Sie mir genug Geld und Dynamit, und ich baue auch eine Straße zur Hölle“. Heute ist Skagway einer der am meisten besuchten Orte der Welt. Sein alter Ortsteil vermittelt einen Hauch Goldgräberzeit und steht als „Klondike Goldrush National Historical Park“ unter Denkmalschutz. Und das Städtchen verbindet auch den Alaska Highway mit Südostalaska, denn es ist nördlichste Endstation der weltberühmten Inside Passage, und somit ein Bindeglied zwischen der Pionierzeit und dem 21.Jahrhundert.

Am nächsten Morgen fährt uns der Hotelbus zum Schiff, und dort bringen wir sofort unsere Koffer unter Verschluss, um uns während der etwa sechs Stunden bis Juneau frei bewegen zu können. Die meiste Zeit verbringen wir draußen an der Reling, lauschen zwischendurch aber auch einem Rancher, der in der Lounge seinen Gästen allerlei Interessantes erzählt. So auch, dass sich Mountain Goats von Dall Schafen – deren zirkuläres Horn 8 Jahre bis zur vollen Entwicklung benötigt – dadurch unterscheiden, dass ihre Haare länger, die Brust tiefer und die Hörner schwarz sind; ein Weißkopfseeadler erst mit sieben Jahren seine volle Federpracht entwickelt hat; Wölfe eine komplexe, soziale Hierarchie haben; Karibus mit 3.000 Meilen pro Jahr mehr wandern als jedes andere Landtier; Moschusochsen Mitte der 1800er Jahre fast ausgerottet waren und fast alle, der heute in Alaska lebenden 2.000 Tiere, auf 34 Exemplare zurückgehen, die zur Erhaltung der Art von Grönland eingeführt worden waren; Stachelschweine in Nordamerika seit 3 Millionen Jahren leben; ein Elchgeweih jährlich abgeworfen wird und bis zu 50 Pfund wiegt; Seeotter das dichteste und weichste Fell aller Säugetiere besitzen; ein Grizzly 900 Kilo wiegen kann; Kodiak Amerikas größte Insel vor Hawaii ist; Schamanen als Mittler zwischen Menschen und Göttern gelten, und Tlingit-Indianer nach der Hochzeit zur Sippe der Frau, nicht zum Clan des Mannes ziehen. Und der Ranger weiß auch, weshalb der Chilkat River im Bereich des Adlerschutzgebietes nicht zufriert: Der Flussboden ist felsig, das Gletscherwasser hat ihn über Millionen Jahre ausgewaschen und viele tiefe Stellen geschaffen, die das Wasser beruhigen und am Fels wieder hochtreiben. Zurückkommend in tieferes Gewässer ist es wärmer und verhindert die Eisbildung. Und das wissen neben dem Ranger auch die Lachse, Adler und neuerdings auch wir. Kurz bevor unsere Fähre vor der Nordspitze des Admiralty Islands einen Linksschwenk macht, um die Auke Bay anzusteuern, begleitet steuerbords ein Buckelwal unsere Fähre, die in den vergangenen Stunden durch wunderschöne Natur fuhr, mit Bergketten, weiß betupft, grün umhüllt oder felsig und von unterschiedlichen Farben geprägt. Zwischen Gletschern und Wasserfällen zeigten sich kleine und große Täler, Wald und grüne Uferstreifen. Und als das Schiff eindreht, taucht auch der Wal nochmals auf und bläst seine Atemluft als Fontänen mehrmals Richtung Himmel, während sein Rücken das ruhige Wasser ganz gemächlich durchpflügt. Dann wölbt der mächtige Säuger plötzlich den Rücken und zeigt seinen Reisepass: Für Bruchteile von Sekunden steht die mächtige Schwanzflosse, so einmalig wie ein Fingerabdruck, in voller Größe senkrecht über dem Wasser, lässt die Auslöser klicken und verschwindet Augenblicke später wieder in der Tiefe.

In Juneau holt uns der kostenlose Zubringerbus der Driftwood Lodge, unser Stadthotel für zwei Nächte, von der Auke Bay ab, denn das gehört zum Service. Der Rest des Tages verläuft ohne Programm, zum Teil aber wieder in einem „berühmten“ Saloon, dem „Red Dog“, denn auch ihn kann kein Tourist auslassen. Mit Sägespänen auf dem Fußboden, ordentlicher Lifemusik, Bieren wie Saloon Amber oder King’s Ale und Drinks, die unter den Namen „Cheap Shit (pretty good staff)“, „Regular Shit“, „Expensive Shit“ und „Realley Expensive Shit“ angeboten werden und zwischen fünf und sieben Dollar kosten, lässt sich schon erahnen, dass auch hier die raue Vergangenheit mitschwingt. Tanz und Unterhaltung soll der Saloon schon zu Juneaus „glorious mining heydays“ geboten haben, als „Ragtime Hattie“ mit weißen Handschuhen am Piano für Stimmung sorgte, oder Gordie Kanouse mit seinem Maultier an der Bootsanlegestelle stand und die ankommenden Besucher mit einem Schild an seinem Vierbeiner aufforderte „follow my ass to the Red Dog Saloon“. In den zeitigen Siebzigern des letzten Jahrhunderts kaufte die Harris-Familie das Gebäude und erweiterte es um eine dritte Etage, doch ist „der Laden“ viel weniger historisch, als er vorgibt zu sein. Originell ist dieser Country-Pup aber auf jeden Fall, und gejubelt und getanzt wird dort auch heute noch recht ordentlich. Größtenteils sind es Kreuzfahrt-Touristen, die ihre Shopping-Tour hinter sich haben und noch ein paar Stunden feiern möchten, ehe ihr elegantes Schiff wieder zur Rückkehr und Etikette auffordert. Der Saloon ist randvoll, doch finden wir Platz am Tisch zweier Schwestern, deren Mutter auf dem Schiff geblieben war. Der Grund für die Kreuzfahrt war Christin, die in Australien lebt, nach langen Jahren erstmals wieder in ihre kanadische Heimat gekommen war, um Schwester und Eltern in Vancouver zu besuchen. Es waren zwei lustige Erdenbürger, und als wir uns nach einigen Stunden Spaß und guter Laune von den etwa Vierzigjährigen mit dem üblichen „have a nice time and hope to see you again“ verabschieden, hatten wir auch die Adressen getauscht und uns gegenseitig eingeladen. Realisierbar ist das durchaus, denn Anne wohnt in Vancouver und Chris in Melbourne, Städte, in denen wir sicherlich erneut landen werden.

Tags darauf heißt unser Programm „Tracy Arm“. Um diesen Fjord aus den Küstengebirgen heraus zu hobeln brauchten Gletscher zweieinhalb Millionen Jahre, und was sie nach ihrem Rückzug siebzig Kilometer südlich von Juneau geschaffen hatten, war meisterhafte Arbeit: Vierzig Kilometer lang, 400 m tief und an beiden Seiten von bis zu eintausend Meter steilen Felswänden begrenzt, von denen Wasserfälle von Kante zu Kante über die Klippen springen. Am Ende des Tracy Arms setzt die 250 Meter hohe doppelzüngige Eiskante des Sawyer Gletschers eine endgültige Barriere, während der südliche Bruder, der mehr als eine halbe Meile bedeckt, fast immer kalbt und die zu Eis gefrorene Vergangenheit krachend in sich zusammenstürzen lässt. Eisig kalt, weiß bis mittelblau leuchtend und abweisend richtet sich die Abbruchkante des Gletschers auf. Davor schaukeln und treiben ungezählte Bruchstücke im Wasser, deren Tage gezählt sind und auf denen sich Hunderte von Harbour Seals wohlfühlen. Dieser, im Tongas National Forest an der Stephens Passage – einer Meerenge im Alexanderarchipel – liegende Tracy Arm wurde 1980, gemeinsam mit seinem parallelem Nachbar Endicott Arm und 2.640 Quadratkilometer Umgebung, zur „Tracy Arm-Fjords Wilderness Area“ erklärt, womit ihm die höchste Stufe amerikanischen Naturschutzes zuerkannt wurde.

Unterwegs nimmt unser Skipper auf der fast zehnstündigen Tour alles mit, was sich anbietet. Er fährt haarscharf an Wasserfälle heran, steuert zum Rand, wenn er dort Bergziegen oder Bären entdeckt, die auf dem Schwemmlandstreifen unterhalb der steilen Granitwände nach Muscheln suchen, stoppt unter Adlerhorsten oder nähert sich vorsichtig Robben und anderen Fotomotiven. An die beiden Gletscher schippert Steve Weber – auf seiner Brücke darf man Platz nehmen – seine 17 Meter lange „Adventure Bound“ nur so nahe heran, wie es die Sicherheit erlaubt. „Im Ziel“ schaltet der Steuermann dann die 625 PS-Motoren für eine Weile ab, damit seine Gäste dieses Stück Natur in aller Stille bestaunen können. Der Blick auf die beiden Gletscher ist ein großartiger und das Kalben wohl immer ein Erlebnis. Es beginnt mit Knistern und Knacken in der Wand des bläulich leuchtenden, zerklüfteten Eises, und wenn es wie Kanonendonner gewaltig knallt, dann hat sich bereits ein haushoher, zitternder Koloss von ihr abgelöst, reißt und platzt auseinander, in große und kleine Säulen, Platten oder kantige Gebilde. Diese ganze Masse fällt schließlich in sich zusammen und stürzt mit ungeheurer Wucht ins das grüne Wasser, das gewaltig und druckvoll nach oben ausweicht, an Kraft verliert und weiß schäumend wieder aufklatscht. Die Druckwellen, die sich schnell ausbreiten, lassen auch unser Schiff, auf dem die Motoren bereits wieder arbeiten, ordentlich schaukeln und spüren, wie viel Kraft in ihnen steckt. Mit dem Glacier Bay National Park steht dieser Fjord natürlich nicht auf gleicher Höhe, aber ein schlechter Ersatz ist er keinesfalls, sondern ein wunderschönes Erlebnis, das im Vergleich äußerst preiswert ist und auf das man in Juneau, neben den Bären auf Admiralty Island, keinesfalls verzichten sollte. Der Glacier Bay National Park, mit mehreren Gletschern, Regenwald mit riesigen Fichten, Wanderwegen, zahlreichen Tieren und von Gustavus aus zu erreichen, ist wesentlich größer und vielfältiger. Mit Standort Gustavus lässt sich auch gleichzeitig das grandiose Schauspiel in der Icy Strret ansteuern, wenn die Wale – die richtige Jahreszeit und etwas Glück vorausgesetzt – beim gemeinsamen Heringsfang mit offenen Mäulern aus dem Wasser schießen. Andererseits lässt sich der „Glacier“ auch mit einem Buschflugzeug ab Haines erkunden, und das kostet einen Bruchteil an Zeit und Geld dessen, was für eine Tour mit Standort Gustavus (sehr schöne Lodge) ab Juneau verlangt wird.

Für uns wird es auch Zeit, uns vom lustigen Leben in „Little San Francisco of the North“ zu verabschieden und die Lodge anzusteuern. Das „Wake-Up Call“ wird uns viertel nach ein Uhr schon wieder wecken, um rechtzeitig auf der Taku zu sein, die um vier Uhr morgens in Auke Bay ausläuft. Juneau kennen wir sehr gut, und deshalb fällt der Abschied von diesem hübschen 3.000-Einwohner-Ort, zu dem keine Straßen führen, auch nicht schwer. Wir haben hier schon alles abmarschiert, die viktorianischen und historischen Häuser oder die achteckige Kirche, die in Sibirien gebaut und 1894 hier wieder zusammengesetzt wurde. Wir kennen auch jene Straßen, die für Autos zu steil sind oder an Treppenstufen enden und haben seinen Gletscher wie den Hausberg Mt.Roberts besucht, zu dem sich die gleichnamige Seilbahn müht. Juneau hat vor der Haustür auch den schmalen Gastineau Channel mit den Kreuzfahrtschiffen fast im Zentrum, Elche in den Wäldern, 80 Kilometer Wanderwege, auf Admiralty Island die weltbekannten Bären und im Sommer, wenn Touristen aus aller Welt hier unterwegs sind, lockt das Eisfeld auch mit Hundeschlittenfahrten und Helikopterflügen auf das eiskalte Dach von Alaskas Hauptstadt. Gold legte einst den Grundstein. 1963 stieß das Alaska Marine Highway System die Tür in ein neues Zeitalter auf. Als das Öl 1977 durch die Trans-Alaska-Pipeline floss, wurde die Staatskasse gefüllt. Schließlich konnte die Steuerstruktur reformiert werden, und das Alaska Native Land Claims Gesetz zahlte den Eingeborenen fast eine Milliarde Dollar und gab ihnen 44 Millionen Acker Land zurück. In Juneau wurde die Nugget Mall eröffnet, der Egan Drive gebaut und das Mendenhall Valley entwickelt. Der Büro- und Hausbau boomte, das lokale Geschäft wuchs und internationale Handelsketten zogen ein. Ab 1990 hatten auch die Touristen die Stadt am Wasser entdeckt, und seit 2000 bringen Fähren und Kreuzfahrt-Luxusliner jährlich mindestens 600.000 davon auch nach Juneau. Eine einzige Sache müssen wir auf dem Weg zur Lodge aber doch noch erledigen: Einer Institution Adieu zu sagen, die, in Bronze gegossen, noch immer die Luxusliner an den Juneau Docks begrüßt, „Patsy Ann“. Der Terrier, der im Alter von 14 Jahren an Rheuma und Übergewicht starb, war der Liebling der Einheimischen. Sie fütterten ihn mit allem was es gab, und die Zeitungen druckten viele Geschichten über diesen Hund. Von den 1930er Jahren bis zu ihrem Tod 1942 hat die Hündin alle Schiffe begrüßt, die anlegten. Fuhren sie vorbei, soll sie nachgeschwommen sein, um ihr Ritual dennoch zu vollziehen. Auch im Dog hat sie sich angeblich niemals geirrt, höchstens die Menschen. Notfalls wartete Patzy Ann auch ganz allein, aber eben dort, wo das Schiff wirklich anlegte. Und vor dieser Legende, die in Juneau noch immer „lebendig“ ist, wollten wir ganz bewusst einen Augenblick verweilen.

 

Nach unserer kurzen Nacht gab’s gleich richtig Ärger, denn der Fahrer des Hotelbusses war zum Dienst nicht erschienen, das Ersatz-Taxi viel zu klein, und als endlich der gerufene Kleintransporter eintraf schlief ein dreimal von seiner Familie geweckter Sechszehnjähriger noch immer. Glücklicherweise war der Fahrer ein handfester Typ, der das „Please- Wait-Gejammere“ abwinkte und mit den übrigen Gästen Gas gab. Somit waren wir, wie später auch die Fähre, absolut pünktlich, und während sie in einen wunderschönen Morgen startet, richten wir uns in der Kabine 24 B ein. Neun Stunden bis Sitka, 30 bis Prince Ruppert wird das 107 Meter lange und 23 Meter breite Motorschiff brauchen, um 2.624 Tonnen Gesamtlast – 370 Personen und 420 Fahrzeuge inklusive – an sein Ziel zu bringen. Getrieben wird die in Seattle gebaute und 1963 in Dienst gestellte Taku von zwei 4.000 PS starken Mak-Dieselaggregaten. Die Fähre, die 18 Jahre später renoviert wurde, ist eins von neun Schiffen, die das Alaska Marine Highway System auf seiner 3.500 Meilen-Route im Dienst hat, um 33 Häfen anzulaufen. Was 1963 mit der kleinen M/V Chilkat zwischen Skagway / Haines und Prince Ruppert im Süden begann, schließt heute auch Kodiak Island, Kenai Peninsula, Prince Williams Sound und die Aleuten-Inseln ein, wie auch die Versorgung der Dörfer in Südost-Alaska. Die Inside Passage und die Süd-Ost-Routen verbinden aber nicht nur die Häfen, sondern auch das kontinentale Straßensystem, und in knapp 61 Stunden wird über Wasser auch das amerikanische Bellingham erreicht, von dem es nur noch ein Katzensprung bis nach Seattle ist. Wenn auch der Luxus eines Kreuzfahrtschiffes auf diesen Fähren nicht geboten werden kann – es ist ein öffentliches Transportsystem – und die Liegezeiten in den Häfen limitiert sind, so reist man doch recht angenehm und äußerst preiswert. Von Skagway (über Sitka) bis Prince Ruppert sind die 438 US-Dollar, die wir inklusive der Vierbettkabine, die unabhängig von der Personenzahl mit 114 Dollar enthalten ist, für zwei Personen keine teure Angelegenheit. Auch für alles andere bietet das Schiff mit Auto-, Kabinen-, Passagier- und Sonnendeck, was gebraucht wird: Lounges, Bar, Selbstbedienungs- und Bordrestaurant (hier wird auch das Frühstück serviert) mit Menüauswahl, Cafeteria, Snack Bars, Kinosaal, Duschen für Passagiere ohne Kabine, verschließbare Kofferfächer oder Souvenirladen.

Nach dem Erkundungsgang geht’s mit einem Becher heißen Kaffee an die Reling des Sonnendecks, wo uns frische Morgenluft empfängt, zarte Nebelschleier über dem glatten Wasser schweben und sich die Sonne am Horizont bemüht, der Berge unter sich zu lassen. Hinter der Taku schwingt ein breiter, weiß gekräuselter Streifen aufgewühlten Wassers in Dreiecksform auf und ab, eilt seitwärts weg und verliert sich, wie der Hafen von Juneau, in der Ferne. Unser Schiff stampft dabei gemächlich nordwärts, denn es muss dort, wo der einsame Leuchtturm am Point Retreat den Weg weist, um die Spitze von Admiralty Island herum, ehe es in südlicher Richtung durch das klare Wasser des Chatham Channels gleiten kann. Nach einigen Stunden wird die Fähre abrupt nach Westen drehen, sich von Bergen bedrängt durch die Perilstrait schleichen, danach, mit plötzlicher Kursänderung, wieder nach Süden schwingen und sich im Schritttempo durch die Sergius Narrows tasten. Nach einem Moment des freien Blicks auf den Pazifischen Ozean werden die Whitestone Narrows die Fahrrinne erneut in ein enges Korsett zwängen, ehe hinter einem Schärengürtel an der Westküste von Baranof Island Sitka „in Russisch Alaska“ auftaucht. Auf der weiteren Fahrt nach Süden muss die Fähre dann erst wieder zurück in die Chatham Strait und dabei die, zwischen den Inseln Chigagof und Baranof gelegenen gefährlich schmalen Narrows, als auch die Tongas-Enge erneut passieren. Erst dann kann sie über die südliche Chatham Strait und den Frederick Sound Petersburg anlaufen. Vor Wrangell zwingen die gleichnamigen Engen dann erneut zu behutsamer Navigation, und danach wartet Ketchikan auf das Schiff. Sechs Stunden wird es nach dem letzten Auslaufen dann noch dauern, bis die Taku den Revillagigedo Channel und Chatham Sound hinter sich gebracht und Prince Ruppert, wo für Sabine und mich diese Schiffsreise zu Ende gehen wird, erreicht hat.

Für uns ist es, nur entgegengesetzt, die zweite Reise auf dieser Route und eine mehr auf der Inside Passage, doch die erste bei richtig gutem Sonntagswetter. Und das ist in Alaskas Regengürtel niemals eine Garantie. Heute jedenfalls stimmt alles, um den Liegestuhl in Position zu rücken und die Situation zu genießen: Große Kreuzfahrtschiffe, Segler, Fischerboote, Schlepper, die unten auf dem Meer ausschauen, als würden sie ihre riesigen Baumstamm-Flöße durch ein Spielzeugland ziehen oder Berge, Wälder, Inselchen und herrlich klares Wasser. Es ist, als würde vor den Augen ein Film ablaufen, unbeschreiblich schön, dreidimensional und ohne Kunstgriffe. Und mit den Buckelwalen, die unterwegs ihre Bahn ziehen und mit ihrer warmen Atemluft ganz persönliche „Rauchzeichen“ setzen, ehe sie beim Abtauchen ihre gewaltigen Schwanzflossen aus dem Meer wippen lassen, wird die Choreographie perfekt. Zwei von ihnen schienen unterwegs zusammen zu spielen, wuchteten sich zweimal aus dem Wasser heraus, drehten sich und schlugen dann mit voller Wucht ins nasse Element zurück. „Erwischt“ haben wir sie leider nicht, weder mit der Kamera noch mit dem Foto. Aber irgendwann wird die große Flosse auf dem Foto schon einmal unten, statt oben erscheinen, denn es ist auch hierbei ein wenig wie mit den Elchen auch. Ein Bulle ist erst im Herbst, wenn er seine gewaltigen Schaufeln trägt, so richtig fotogen. Was nützt es dann, ihn im Sommer ganz nahe vor der Linse zu haben?

Meine Frühstücksbestellung im Café-Shop – Hash Browns mit Eier und Speck – war die falsche Wahl, denn die mit den Schweizer Rösti und dem deutschen Kartoffelpuffer verwandten Fladen sind ein matschiger Reinfall, und das wabbelige Graubrot lässt sich auch auf Walnussgröße zusammendrücken. Morgen gibt’s die gekürzte Version – Kaffee, Butter, Marmelade und Toast für 2.70 Dollar, mit der Sabine schon heute zufrieden ist, sich aber ein Grinsen wegen meiner „Habgier“ nicht verkneifen kann. Natürlich lasse ich mir nichts anmerken, aber das Unpassende „enjoy your meal“ wurmt mich schon, und das weiß sie. Kurz darauf muss ich aber lachen, und aus Sabines triumphierendem Blick wird ein fragender, denn jetzt bin ich es, der grinst und anfügt „schau mal nach rechts hinten“. Dort saßen zwei Damen, unter dreißig, aber sicher über 95, wenn man an Kilos denkt, die heute Morgen mit der Wasserflasche in der Hand 15 bis 20 Runden an der Reling entlang dackelten, und über die wir uns ein wenig lustig gemacht hatten. Jetzt aber gab es für die Sportlichen die Belohnung, und zwar im klassischen Stil. Mit aufgestützten Ellenbogen wird ein „Dreifach-Burger“ von den Fingern beider Hände jeweils bissgerecht zusammengedrückt, bevor die Zunge absolutes Wohlbefinden signalisiert und die Gesichter tiefe Zufriedenheit ausstrahlen. Der mit Ketchup beträufelte Weichling scheint aber nur die Ouvertüre zu sein, denn neben einer großen Portion Pommes wartet auf jedem Tablett auch noch ein doppelter Sandwich. Und weil Seeluft auch durstig macht, dürfen zwei halbe Liter Cola nicht fehlen. Der „Marsch“ heute Morgen war wohl doch sehr anstrengend, und der Tag ist noch lang …