Steinschlag

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Steinschlag
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Foto Marco Volken

Emil Zopfi, geboren 1943, studierte nach einer Berufslehre Elektrotechnik und arbeitete als Computerfachmann und Erwachsenenbildner für Informatik und Sprache. Autor von Romanen, Hörspielen, Kinder- und Jugendbüchern sowie Bergmonografien. Er lebt heute als Schriftsteller in Zürich. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem King Albert Mountain Award und dem Glarner Kulturpreis. Im Limmat Verlag sind seit 1977 zahlreiche Bücher erschienen, u.a. die Andrea-Stamm-Trilogie «Steinschlag», «Spurlos» und «Finale».

«Emil Zopfi ist DER deutschsprachige Bergschriftsteller der Gegenwart. Er erreicht mit seinen Werken nicht nur Bergsteiger, sondern auch das breite Publikum.» King Albert Mountain Award

Emil Zopfi

Steinschlag

Roman


ALLES PLÖTZLICHE IST BÖSE,

UND DAS GUTE SCHLEICHT LANGSAM.

JOSEPH ROTH, HIOB

1

Nach einer Stunde fanden sie die Frau. Sie lag auf einem Felsabsatz in der Runse unterhalb des Wegs, den Kopf an der Kante nach hinten geneigt, den Körper ausgestreckt auf abschüssigen Platten. Ihr Gesicht war bleich und unversehrt, die schmalen Lippen blutlos. Eine Haarsträhne klebte auf ihrer Stirn und verdeckte ein Auge. Das andere blickte glasig in den Nebel, der dem Hang entlangstrich.

Andrea hatte sie zuerst gesehen, vom Fusspfad aus, der die Runse an einer abschüssigen Stelle durchquerte. Sie hatte im Nebel einen violetten Farbfleck entdeckt, den Ärmel einer Faserpelzjacke. Es war der linke Arm der Frau, der eigenartig verkrümmt über die Felsbank hinausragte, als habe sie im Sturz ihren Kopf schützen wollen.

Amstad kletterte vorsichtig über glitschigen Fels und nasse Graspolster hinab, Andrea folgte ihm. Er beugte sich über die Frau, die auf dem Felsabsatz lag, als ob sie sich zum Schlafen niedergelegt hätte, ergriff ihr Handgelenk, liess es jedoch gleich wieder los. «Tot. Schon ein paar Stunden.»

Dann strich er ihr die Haarsträhne mit einer fast zärtlichen Bewegung aus dem Gesicht. «Tot. Nichts mehr zu machen.» Er biss sich auf die Lippen, wischte sich mit dem Ärmel seiner Windjacke über die Stirn.

Amstad kannte sich aus. Ein erfahrener Bergführer, seit vielen Jahren Obmann der Rettungskolonne. Es war gewiss nicht die erste Leiche, die er bergen musste. Andrea dagegen hatte noch nie einen toten Menschen gesehen. Sie war oberhalb des Felsabsatzes stehen geblieben, hielt sich an einem Felsblock fest, der aus dem Steilhang vorsprang. Blickte auf die Frau hinab, die da lag, als ob sie jemand hingebettet hätte, den Kopf an der Kante zur Seite geneigt, den Körper ausgestreckt, die Beine übereinander geschlagen.

So liegt man nicht, wenn man gestürzt ist, war Andreas erster Gedanke. Das Stirnband, im gleichen Violett wie die Faserpelzjacke, war der Toten über einem Ohr hochgerutscht. Blut war durch die Haare gesickert und im Schotter zu einer dunklen Kruste geronnen. Amstad stand neben ihr, die Hände ineinander verklammert, in Schweigen versunken. Vielleicht betet er, dachte Andrea. Vielleicht ist es hier der Brauch, dass der Führer ein Gebet spricht, wenn er am Berg einem toten Menschen begegnet.

«Was denkst du, wie ist es passiert?», fragte sie nach einer Weile, um das Schweigen zu brechen. Amstad trat einen Schritt zurück, zündete sich eine Zigarette an. Sein Gesicht wirkte grau und müde.

«Steinschlag», stiess er hervor. Das Wort klang so hart, als sei es selber ein Stein, der sich löst, fällt und aufschlägt. Sein linkes Augenlid zuckte, als er es aussprach.

«Steinschlag?»

Andrea zog den Kopf ein und warf einen Blick den steilen Hang hinauf. Es war Sommer, doch in den Schluchten der Felswand, die sich über ihnen im Nebel erhob, lagen noch Schneereste. Schmelzwasser konnte Steine mitreissen und sie über die Schutthalden bis auf den Fusspfad schleudern. Durch die Runse rauschte ein Bach, sodass man ihr Aufschlagen kaum rechtzeitig hören und sich in Sicherheit bringen konnte.

«Steinschlag? Sie ist also auf dem Weg getroffen worden. Wie ist sie denn auf das Felsband gekommen? Gestürzt? In dieser Lage liegen geblieben? Wie stellst du dir das vor?»

Er hob die Schultern.

«Getroffen, gestürzt. Ihr Ehemann hat das so geschildert. Es wird wohl so sein. Er war ja dabei.»

Amstad hatte am späten Nachmittag angerufen. Andrea stand unter der Dusche. Sie hatte am Morgen eine Wandergruppe übers Joch geführt, ein paar Stunden Fussmarsch durch dicken Nebel. Hatte sich auf einen ruhigen Abend eingestellt. Spaghetti kochen. Fernsehen oder Musik hören. Nackt und nass eilte sie zum Telefon. «Amstad.» Die Rettungskolonne sei aufgeboten, Helikopter könnten nicht fliegen bei dem Nebel. Fussarbeit also. Ob sie bereit sei, ihn zu begleiten.

Es war ihr erster Einsatz, bisher hatte man sie übergangen. Die junge Bergführerin. Neu im Ort. Neu im Beruf. Amstad erklärte, die andern Führer seien unterwegs, und allein wolle er den Job nicht machen. «Wahrscheinlich Leichenbergung», hatte er mit dumpfer Stimme beigefügt. «Kommst du?»

Natürlich kam sie. Fühlte sich sogar etwas geehrt, obwohl sie sich auch fürchtete vor diesem «Job», wie er das Suchen und Bergen einer Leiche bezeichnete. Der Rettungschef bot sie auf, man nahm sie also ernst. Man nahm sie auf in den Kreis. Sie musste zusagen. Und nun stand sie an dem steilen Abhang und blickte auf die tote Frau mit dem wächsernen Gesicht und dem schmalen Körper. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Um die fünfzig etwa.

Andrea wartete, dass Amstad entscheiden würde, was zu tun sei. Er zog einen ausgebleichten Biwaksack aus seinem Rucksack.

«Wir packen sie ein. Morgen holt sie der Helikopter.»

«Sollten wir sie nicht so liegen lassen?»

«Über die Nacht? Damit sie der Luchs frisst? Oder die Dohlen ihr die Augen auspicken?»

«Wird es nicht eine Untersuchung geben?»

«Wozu? Ist doch alles klar. Ein Unfall.»

«Ich dachte nur …»

«Was?»

«… das sei vielleicht Vorschrift.»

«Du schaust zu viel Krimis.»

Das stimmte wohl. Wäre sie nicht hier, dann würde sie vor dem Fernseher sitzen. Sie wohnte allein, im Ort hatte sie noch kaum Bekannte, in die Stadt war es zu weit nach einem anstrengenden Tag.

«Von dem Steinschlag müsste man doch Spuren sehen. Frische Steinsplitter. Einschläge.»

«Wahrscheinlich war es nur ein einziger Stein.»

«Hat der Mann die Polizei informiert?»

«Ich denke schon.» Amstad begann den Biwaksack zu entrollen. «Wir müssen vorwärts machen.»

Er war der Obmann, er hatte entschieden. Er riss einen Reissverschluss auf, breitete den Sack neben der Toten auf dem Felsabsatz aus, so gut es ging.

Andrea zog ihr Handy aus einer Innentasche ihres Faserpelzes. Sah auf dem Display, dass an diesem Ort kein Empfang möglich war. Ihr Vater war ihr eingefallen. Vielleicht hätte der pensionierte Polizist einen Rat gewusst. Durfte man die Tote anfassen, bevor Spuren gesichert waren? Was war die Vorschrift? Bei ihr bleiben während der Nacht, Totenwache halten? Oder hatte der Bergführer Recht, der schon Dutzende von Leichen geborgen hatte? Sicher hatten sie das korrekte Vorgehen bei Unfällen im Führerkurs behandelt, aber in diesem Augenblick erinnerte sie sich nicht mehr.

Sie steckte das Mobiltelefon ein.

«Halt ihre Füsse fest, sonst rutscht sie ab.» Amstad hüllte die Tote ein, zog den Reissverschluss zu und verknotete Bänder. Dann holte er aus dem Rucksack eine Reepschnur, schlang sie um den Felsblock, fädelte ihre Enden durch die Ösen des Biwaksacks. Nun hing die Tote da wie eine gelbe Raupe, die sich an einen Stein geheftet hat, um sich zu verpuppen.

«Das wärs dann.» Amstad zupfte an den Schnüren, um sich zu vergewissern, dass sie gut befestigt waren. Dann zündete er sich nochmals eine Zigarette an. «Rauchst du?» Er streckte Andrea die Packung hin.

Sie schüttelte den Kopf.

«Wen wolltest du anrufen? Polizei?»

«Nicht eigentlich.»

«Was heisst das?»

«Meinen Vater. Er ist früher Polizist gewesen. Pensioniert.»

«Verstehe.»

Amstad trat einen Schritt näher, stützte sich mit einer Hand auf den Felsblock. Sein Gesicht war hager, die Haut bildete Furchen, in denen Bartstoppeln sprossen. Ein Gesicht wie eine Felswand, dachte sie.

«Es ist wohl deine erste …?» Er suchte nach Worten. Seine Stimme klang heiser. Als Andrea ihn das erste Mal getroffen hatte, hatte sie geglaubt, er sei erkältet.

«Es ist deine erste Bergung, nicht wahr?»

Sie zog mit der Spitze des Bergschuhs eine Rinne in den Schutt, schaute zu, wie sie sich mit Wasser füllte. Spürte ein Würgen im Hals.

«Man muss sich daran gewöhnen. Als Bergführer.» Er gab ihr einen leichten Stoss an die Schulter. «Oder als Bergführerin. Es gehört zu unserem Beruf.»

Andrea zupfte ein Papiertaschentuch hervor, wischte sich übers Gesicht und schnäuzte sich.

«Gehen wir?» Er hob seinen Rucksack auf. «Danke noch, dass du mich begleitet hast.»

Sie wechselten einen Blick. Seine Augen waren hell und kalt, als ob sie zu einem anderen Menschen gehörten. Das linke schielte ein wenig, und das Lid zwinkerte, als ob er sich über etwas lustig mache, das die Tote nicht hören durfte. Er spürte, dass sein Tick Andrea irritierte, drehte den Kopf und begann, zum Weg aufzusteigen.

 

Es war dunkel geworden. Der Nebel verwischte alle Formen. Sie folgte der leicht vornübergebeugten Gestalt des Bergführers auf dem Pfad, der die Runse durchquerte, einem Felsband folgend, dann über Geröllhalden und Weiden hinab zur Alp. Sie schritten rasch, in Gedanken versunken und ohne weitere Worte zu wechseln.

2

Sie stolperte, versuchte sich festzuhalten, griff ins Leere, fiel gegen die Wand und schlug mit dem Ellbogen auf einen Pickelhammer, der am Boden lag. Der Schmerz zuckte wie ein elektrischer Schlag durch ihren linken Arm. Sie schrie auf. Dann lag sie am Boden, mit dem Rucksack am Rücken, und rieb sich das Gelenk. Sie hatte noch keine Zeit gefunden, im Korridor eine Lampe zu montieren. Alles war provisorisch in ihrem Leben. Beruf, Beziehungen, Finanzen. Die Wohnung ein Chaos, der Korridor eine Abstellkammer für Seile und Säcke, Schuhe, Eispickel, Steigeisen, Bündel von Karabinern und Schlingen und Klemmkeilen.

Morgen ist Sonntag, sagte sie sich, Nebel und Regen. Sie würde Zeit finden, um aufzuräumen, Ordnung in ihre Dinge und ihr Leben zu bringen. Einen Augenblick blieb sie im Dunkeln liegen, massierte mit dem Daumen den schmerzenden Sehnenansatz am Ellbogen. Sah die tote Frau vor sich, wie sie auf dem Felsabsatz lag, den Arm schützend über dem Kopf.

Andrea spürte den Schweiss des raschen Auf- und Abstiegs auf der Haut prickeln. Sie befreite sich vom Rucksack, rappelte sich hoch und tastete sich zur Tür des Zimmers, in dem sie eine Art Büro eingerichtet hatte. «Andrea Stamm, Rock’n’ Ice.» Das war ihr Label. Ein Wortspiel, Fels und Eis, hübscher Fels. Es erinnerte an Rock’n’ Roll, an Musik, an Amerika.

Die rote Lampe des Beantworters blinkte. Sie machte Licht, drückte auf die Taste, zog den Faserpelz aus und hängte ihn an einen Kleiderhaken, während sie der gespeicherten Stimme zuhörte. «Daniel Meyer. Hätten Sie Zeit, eine Klettertour zu führen, Montag. Rufen Sie doch bitte zurück. Ich bin bis Mitternacht erreichbar.»

Sie notierte die Nummer auf einen Zettel, klemmte ihn aufs Magnetbrett. Dann duschte sie, rieb sich den Ellbogen mit Salbe ein, machte sich ein Käsesandwich, hockte im Schneidersitz auf den Futon und zappte durch die Programme. Sie döste ein, der Lärm von Schüssen schreckte sie auf. Über den Fernsehschirm flimmerte eine Verfolgungsjagd durch eine amerikanische Stadt, Reifen quietschten, Sirenen wimmerten. Es war kurz vor Mitternacht. Sie schaltete aus, ging nochmals ins Büro, wählte die Nummer.

«Stadtspital, Sie wünschen?»

Eine verschlafene Frauenstimme. Andrea glaubte, sie sei falsch verbunden.

«Sie wünschen?», wiederholte die müde Stimme.

«Ich suche einen Daniel Meyer.»

«Sie haben Doktor Meyers Nummer gewählt. Er ist im Augenblick nicht erreichbar. Worum geht es?»

«Er hat auf meinen Beantworter gesprochen. Ich soll zurückrufen.»

«Ist es privat?»

«Nein, geschäftlich.»

Die Frau schien nachzudenken, sagte schliesslich: «Ich lasse ihn suchen. Wen darf ich melden?»

«Andrea Stamm. Kletterschule Rock’n’ Ice.»

«Wie bitte?»

Andrea wiederholte. Dann schlug ihr misstönende Musik ins Ohr. Sie wartete.

«Meyer.»

«Rock’n’ Ice, Andrea Stamm. Ich soll Sie zurückrufen.»

«Die Bergführerin?»

«Die bin ich.»

«Ich habe Montag meinen freien Tag. Möchte die Sila klettern.»

«Die Sila?» Für einen Augenblick fand Andrea keine Worte. Die Sila wäre der erste anspruchsvolle Auftrag. Nicht bloss eine Wanderung mit Senioren, ein Klettersteig oder ein bescheidener Grat. Die Sila wäre der Durchbruch.

«Hätten Sie Zeit?», fragte der Mann. «Der Wetterbericht klingt nicht schlecht.»

«Ich kenne Sie ja nicht.»

«Natürlich nicht. Aber Sie kennen den Berg. Sie sind mir als Führerin empfohlen worden.»

«Von wem?»

«Stefan Weyermann.»

«Ach Stef!»

Stef hatte sie empfohlen. «Dann, ja dann …» Sie machte den Satz nicht fertig. Dachte: Warum? Was will Stef damit? Schob die Frage weg, verschob sie auf später. Sie musste jetzt zusagen, Ja sagen, zum zweiten Mal an diesem Tag. Ja zum Tod, ja zum Leben. Beides gehörte zum Beruf, den sie gewählt hatte. Sie musste alles vergessen, was vergangen war. Nur nach vorn blicken. «Ja, dann Montag, die Sila», sagte sie.

«Super», sagte Meyer. Er war Arzt, liess sie seine Ungeduld spüren. «Sie seien eine hervorragende Kletterin, hat mir Stefan versichert. Sie nähmen an Wettkämpfen teil. Die Sila sei für Sie Peanuts.»

«Welche Route?», fragte Andrea.

«Die klassische Westwand. Ich kenne sie von früher. Eine Nostalgietour sozusagen.»

«Die Route ist saniert, mit neuen Haken und Abseilringen ausgerüstet.»

«Was kostet der Trip?»

«Die Westwand, Moment mal …» Andrea tat, als müsse sie in einer Liste nachsehen. Sie war es noch nicht gewohnt, klar und ohne zu zögern den Preis einer Bergtour zu nennen. Kam sich dabei vor, als ob sie etwas verkaufe, was sie eigentlich verschenken sollte. Doch es musste sein. Auch Ärzte hatten ja ihren Tarif. Sie nannte die schöne runde Zahl, die ihr mehr Eindruck machte als die Wand selber. Wenn es klappte, würde sie ein paar Rechnungen bezahlen können.

«Okay», sagte der Arzt. «Montag also.»

Sie vereinbarten Zeit, Treffpunkt. Andrea legte auf. Trat auf den Balkon. Noch immer lag Nebel. Vom Wohnblock auf der andern Strassenseite drangen die Lichter gedämpft herüber. Ein Auto fuhr vorbei. Dann war es wieder still, die Welt in schwarze Watte gehüllt.

3

Sonntag. Sie machte sich daran, ihre Wohnung aufzuräumen. Trug Rucksäcke ins Büro, dann wieder in den Korridor zurück. Ordnete Klemmkeile und Friends nach Grösse, klickte sie an Karabinerhaken, stopfte das Klettermaterial in Säcke, leerte sie wieder aus. Das Klirren des Metalls erregte sie, steigerte ihre Unruhe. Der Nebel war zum Ersticken.

Sie schob eine CD in den Player, Joe Cocker, «Need your love so bad …» Die schwülstige Stimme des alten Mackers trug sie nach Sheffield, an sein Konzert nach dem Kletterwettkampf in der Foundry. Cocker stammte aus der alten Industriestadt am Rand des Peak Distrikts. Sheffield war das Mekka der britischen Kletterszene. Da wimmelte es von verrückten Typen, die nichts im Kopf hatten als «rock, fuck and shit». Andrea war gut geklettert, hatte sogar Weltcuppunkte geholt. Und anschliessend ein paar Tage in den Wänden des Peaks am körnigen Gritstone geschnuppert. Mit Stef.

Sie schaltete den Computer ein, klickte sich ins Netz und betrachtete die Wetterkarte. Es würde aufhellen am Nachmittag, Föhn aufkommen am Montag, die Temperatur steigen. Sie wählte Amstads Nummer. Seine Frau nahm ab. Der Bergführer sei mit Rolf Frick von der Kletterschule nochmals hinaufgestiegen.

«Hinauf?»

«Zu der Toten.»

«Wird man sie heute bergen? Muss ich helfen?»

«Nicht nötig. Morgen fliegt der Helikopter.» Die Stimme der Frau klang spröd und abweisend.

Andrea vermied es, sie mit Du anzusprechen.

«Ich habe einen Gast morgen.»

«Es ist alles organisiert. Die Männer schaffen das gewiss alleine.»

Sie hängte auf. Alles klar. Man brauchte sie nicht. In der Stimme der Frau schwang ein Unterton. Misch dich nicht ein! Tote bergen ist Männersache. Wie der Berg überhaupt. Im Führerkurs waren am Anfang solche Bemerkungen gefallen. Ein Witz wurde herumgeboten: Dich hat man nur aufgenommen, weil Andrea auch ein Männername ist und du auf der Foto mit deinem Bürstenschnitt wie ein Bub aussiehst. Sie fand das widerlich, zahlte es den Männern heim im Fels, wo sie am stärksten kletterte. Schon bald waren die Bemerkungen verstummt.

Sie startete das Mailprogramm. Tippte: «Lieber Stef». Löschte. Ersetzte das «Lieber» durch «Hallo». Dann war auch schon Ende. Sollte sie ihm danken, dass er sie empfohlen hatte? Ein Zeichen geben: Wir könnten doch wieder Freunde sein. Du gehst deinen Weg, ich den meinen. Wir hatten doch auch gute Zeiten zusammen. Am Computer konnte man nicht am Bleistift nagen, deshalb knabberte sie am Daumennagel.

Joe Cocker säuselte und stöhnte und krächzte, wie damals im Stadion in Sheffield, im Flutlicht der Scheinwerfer, umhüllt von einer Wolke von Haschischrauch. «What do I tell my heart? …»

Weisst du noch, Stef? Unser Peak! Schafherden auf kargen Weiden, umgeben von Trockenmauern, Eichenwälder im Herbstlaub, dunkelbrauner Gritstone, der sich in kilometerlangen Felsbändern dahinzieht. Kletterer krabbeln über raue Platten und durch Risse hinauf wie bunte Ameisen, die in der Sonnenwärme ihren unsichtbaren Duftspuren folgen.

Andreas Gesicht spiegelte sich im Bildschirm. Schemenhaft das dunkle Stoppelhaar, das ihre abstehenden Ohren so richtig zur Geltung brachte. Die Nase mit der viel zu breiten Wurzel machte auch der gepiercte Diamant nicht edler. Sie sah wirklich aus wie ein Rotzjunge, fehlten nur noch die Pickel.

«Du machst dich absichtlich hässlich», hatte Stef gelegentlich bemerkt. Wenn er nicht seine zärtliche Anwandlung hatte und sie die schönste Frau der Welt fand mit dem stärksten Busen und den tiefsten Augen. Bloss eine Spur zu klein, um als Model Karriere zu machen. Mit einer neckischen Neigung zur Rundheit, wie sie Männer so lieben. Scheissmänner! Sie war jedenfalls gross genug, um in der Wand Griffe zu erreichen, mit elastischen Zügen, die der hochgeschossene Lackel niemals packte. Sie war klein, stark, ein Kraftpaket, eine gespannte Feder. Schön oder hässlich, es war einerlei.

Andrea ging ins Bad, rieb den Ellbogen mit Salbe ein. Er schmerzte noch immer. «Bergführerin in ihrer Wohnung abgestürzt!» Sie stellte sich die Schlagzeile in der Sonntagszeitung vor. Echt zum Grölen. Doch in der Zeitung stand wohl eine andere Nachricht. «Frau auf Wanderung von Stein erschlagen!»

Die Wohnung war ein Käfig geworden, in dem sie ziellos umhertigerte. Wohin sie auch schaute, sie sah die Frau auf ihrem kalten Totenbett liegen. Gross, schlank, mit rötlich schimmerndem Haar und teuren Kleidern, Marke Kleeblatt. Eine schöne Frau. Sie wusste nicht einmal ihren Namen.

4

An der Kaffeebar der Autobahnraststätte sassen nur wenige Leute, rauchten, lasen Zeitung. Sie bestellte einen Espresso und einen Brioche, blätterte durch die Sonntagszeitung, fand nichts über den Unfall. Dann rief sie ihren Vater an.

«Bist du unterwegs?», fragte er. «Ich verstehe dich kaum.»

«Auf dem Weg zu dir.»

«Nicht auf einem Berg?»

«Schlechtes Wetter.»

«Ist das Wetter schlecht, dann ist der alte Papa recht.» Er lachte über den Reim, den sie ziemlich blöd fand. Sie vernahm eine Stimme aus dem Hintergrund. Im Rauschen des Mobiltelefons hörte sich seine Antwort an wie holpriges Englisch.

«Hast du Besuch?»

«Mein Schutzengel ist da.»

Sein meckerndes Lachen ging ihr auf den Geist. Sollte sie wieder umkehren? Auf eine der Damen, die er auf Carreisen oder Tanznachmittagen anbaggerte, hatte sie nicht die geringste Lust. «Meine Zuckerpuppe» nannte er sie. «Mein Haussegen, meine Dulcinea». Diesmal war es sein Schutzengel. «Seit wann sprechen Schutzengel Englisch?», fragte Andrea.

«Engel sprechen Englisch. Darum heissen sie Engel.

«Sehr witzig.»

«Spiel nicht die beleidigte Tochter. Kommst du zum Essen?»

«Hab keinen Hunger.»

«Also du kommst», sagte er. «Beeil dich. Es gibt was Besseres als Leberwurst.» Er hatte ein Flair für Damen, die gut kochten.

Auf dem Parkplatz waren zwei Männer vor ihrem Jeep stehen geblieben. Er fiel auf. «Rock’n’ Ice» prangte auf beiden Seiten in Graffitischrift. Ein Farbverlauf von Gelb nach Blau sollte die Verbindung von Fels und Eis darstellen. Darunter stand ihre Webadresse: www.rocknice.com.

«Sieht geil aus», hörte sie einen der Männer sagen, bevor sie weitergingen. Der Jeep war die Investition ihres Vaters ins Unternehmen. «Von deinem Erbteil.» Das hatte er wohl ironisch gemeint, wie so vieles. Es war ein älteres Modell, das schon etwas Rost angesetzt hatte bei Fahrten durch Gebirge und Wüsten. Robert hatte den Wagen für einen guten Preis einem bekannten Garagenbesitzer abgeschwatzt. «Der war mir noch was schuldig. Von früher.»

Auf der Autobahn rauschte sie auf der Überholspur an den Sonntagsfahrern vorbei, summte zu einer CD von Laurie Anderson und zum Zischen der Reifen auf dem feuchten Asphalt. «You’re walking. And you don’t always realize it, but you’re always falling …»

Sie parkte an der Quartierstrasse vor dem Reihenhaus mit dem kleinen Garten. Eine Siedlung für städtische Angestellte, Strassenbahner, Arbeiter des Wasserwerks, Polizisten. Hier war sie aufgewachsen, doch fühlte sie sich nicht mehr zu Hause in dieser Welt von Ruhebänken, Rosenbeeten, Gemüse und Gartenzwergen. Sie stiess das Gartentor auf, schritt über den Plattenweg zum Haus. Das Rasenviereck im Garten war nicht gemäht, die Johannisbeersträucher mit Brennnesseln durchwuchert, die Gemüsebeete voller Unkraut, ein paar Salatköpfe aufgeschossen. Keine Bohnen, kein Rosenkohl, kein Lauch waren gepflanzt. Die Erdbeerstöcke verdorrt, die Mutter immer sorgfältig mit Holzwolle unterlegt hatte. Andrea schob die Erinnerungen weg und klingelte.

 

Robert öffnete, drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange. «Warum klingelst du? Komm doch rein.» Er duftete nach Rasierwasser und trug ein orangefarbenes Polohemd mit blauen Segelschiffen, das sich über seinem Bauch spannte. Die obersten Knöpfe standen offen, eine Kette mit einer Silbermünze baumelte an seinem Hals über den weissen Brusthaaren.

«Ich wollte nicht stören.»

«Du störst doch nie. Du bist hier zu Hause, Tochter.»

Es war einmal, dachte sie. Ein Duft von exotischen Gewürzen erfüllte den Korridor und befremdete sie. Durch die Milchglasscheibe der Küchentür sah sie einen Schatten am Herd hantieren, hörte Öl zischen und Pfannen klappern. Der Schutzengel kochte.

«Es gibt Thai-Food, original.»

Robert deutete mit einer Handbewegung zur Sitzgruppe am Fenster. «Einen Apéro?»

«Wenn du Orangensaft hast.»

«Noch immer abstinent?»

Andrea nickte: «Immer.»

Er seufzte, ging hinaus.

Das Wohnzimmer sah ordentlicher aus als bei früheren Besuchen. Keine Zeitungen lagen auf den Sesseln und dem Clubtisch herum, keine Wäsche türmte sich auf der Sitzbank am Tisch. Die Kacheln und die Messingtür des Ofens glänzten.

Robert brachte ein Glas Orangensaft aus der Küche. «Frisch gepresst.» Aus dem Schrank holte er eine Flasche Scotch, schenkte sich ein. Sie prosteten sich zu. «Schön, dich wieder einmal zu sehen, Tochter.»

«Sag nicht immer Tochter, bitte.»

«Du bist nun halt mal meine Tochter.» Er nahm einen Schluck, blickte zur Tür, stellte das Glas ab und fuhr sich mit beiden Händen über den grauen Haarkranz. Auf seiner Glatze standen Schweisstropfen.

«Gehts dir gut?», fragte Andrea.

Robert blickte in sein Glas, liess die Eiswürfel kreisen. «Gut, ja. Eigentlich ganz gut. Und dir?» Er griff nach ihrer Hand. «Du kaust noch immer Nägel?»

Sie zog die Hand zurück. «Sie brechen ab beim Klettern.»

Nach geraumer Zeit ging die Tür, eine zierliche Frau trat über die Schwelle, blieb stehen, nickte Andrea zu und lächelte schüchtern. Mein Gott, eine Thai, schoss ihr durch den Kopf. Sie hatte eine Dame in Roberts Alter erwartet, nun stand ein Mädchen mit einem Engelsgesicht neben ihm, das ihm knapp über die Schulter reichte. Er legte seinen Arm um ihre Taille und schob sie sacht ins Wohnzimmer. «Andrea, this ist Ning.»

Er wich ihrem Blick aus, wandte sich zu Ning: «I would like to introduce you to my daughter Andrea.» Er presste den Satz hervor, als hätte er ihn für eine Prüfung auswendig gelernt.

Andrea ergriff eine schmale Hand, die ihren Druck kaum erwiderte und sich gleich wieder entzog. Das war also der Schutzengel. Ein Mädchen mit Grübchen in den Wangen, schmalen Augen, dunklen, nach hinten gesteckten Haaren und einem arglosen Lächeln im Gesicht. Ning aus Thailand. Aus welchem Himmel bist du gefallen in dieses kleinkarierte Quartier, in dieses trostlose Haus. Sie rang sich ein «Glad to meet you» ab.

«Glad to meet you», zwitscherte der Engel aus dem Fernen Osten, betonte das «You», huschte hinaus und kehrte mit einer Platte zurück, auf der sich Frühlingsrollen türmten. Sie verschwand gleich wieder, brachte einen Topf Suppe, eine grosse Schüssel Reis, kleinere mit Auberginen, Bambussprossen und gebratenem Geflügel, Büchsen und Flaschen mit Austern- und Kokossauce.

Robert schnipselte an der Kappe einer Flasche Barolo, zog den Zapfen, roch an ihm, rümpfte die Nase, schenkte sich ein, kostete mit dem ernsten Gesicht des Kenners. Er unternahm alles, um Andreas Blick und ihren Fragen auszuweichen. «Ich nehme Englischstunden an der Volkshochschule. Im Alter muss der Geist beweglich bleiben.»

«Im Alter, ja.» Andrea setzte sich, griff sich mit zwei Fingern eine Frühlingsrolle. Sie schmeckte frisch und knusprig.

«Ich fürchtete anfangs, ich müsse mit Stäbchen essen», sagte Robert.

«We use sticks only for noodles», erklärte Ning.

Andrea wunderte sich, dass er das scharfe Essen überhaupt antastete. Er behauptete sogar, es schmecke ihm, obwohl es ihm Schweissperlen auf die Stirn trieb.

«Robert has told me a lot about you», sagte Ning. «You are a mountain guide, aren’t you.» Ihr Englisch war gut.

«Yes, I am.»

«Oh, I would very much like to see the mountains. The goats, the meadows, where Heidi lives.»

«I show you the mountains», sagte Robert. «We make trips. See Matterhorn, Jungfraujoch, Säntis.» Er trank hastig, schenkte sich Wein nach, obwohl das Glas noch halb voll war.

«Heidi is only a fiction», warf Andrea hin und bereute es sogleich.

Doch Ning strahlte sie an. «I saw Heid in the movies in Thailand. It was so terrific and I dreamed to see the mountains once in my life.»

«I show you the mountains if you like», sagte Andrea. «The real mountains.»

«Oh, I would like so much. You are so kind. People here are so kind», sagte Ning mit dem immer gleichen Lächeln, von dem man nicht wusste, welche Gefühle und welche Geschichte es verbarg.

Andrea bot sich an abzuwaschen, doch Ning liess es nicht zu. «Next time you can help.»

Sie erwartete also ein nächstes Mal. Das hiess, sie wollte bleiben.

Robert setzte sich in einen Sessel, steckte sich eine Zigarre an. «Ning ist ein Geschenk des Himmels», sagte er mehr zu sich als zu Andrea.

«Und wie kommt man zu so himmlischen Geschenken?»

Er blickte gedankenverloren in den Rauch, blieb aber stumm. Ning servierte Kaffee und Plätzchen, schwebte wieder in die Küche zurück.

Andrea begann von der Bergung der Toten zu berichten.

«Wie heisst die Frau?»

«Ich weiss nicht …» Amstad hatte ihr erzählt, der Mann habe Alarm geschlagen. Er sei ausser sich gewesen, habe nicht einmal den Unfallort genau beschreiben können. Amstad musste den Namen der Frau kennen, hatte vergessen, ihn zu erwähnen, oder aus irgendeinem Grund verschwiegen.

«Er hat vielleicht befürchtet, du gebest den Namen an die Presse weiter.»

«Kann sein. Oder ich habe ihn überhört in der Aufregung.»

«Wie hat er den Alarm bekommen? Von wo aus hat der Mann telefoniert? Wohin ist er anschliessend gegangen?»

Andrea zuckte die Achseln. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie nichts gefragt hatte und nun nicht Bescheid wusste. Sie war einfach Amstad gefolgt. «Siehst du, ich wäre eine schlechte Polizistin geworden.»

Robert ging nicht auf die Anspielung ein. Als sie nach dem Gymnasium nicht studieren wollte, hatte er ihr die Polizeischule vorgeschlagen. Sie war nicht sicher, ob er es wirklich ernst gemeint hatte. «Bergführer ist doch kein Beruf für eine Frau», hatte er ihr vorgehalten. «Gefährlich, schlecht bezahlt, keine soziale Sicherheit, immer mit einem Bein im Abgrund.»

Dann erst recht!, war ihre Reaktion gewesen. Dabei zweifelte sie manchmal selber. War es ihr Beruf? Oder nur der Traum, ihre Leidenschaft zu leben? Durch den Nebel stapfen mit einem stummen Kollegen, um eine Tote zu finden und einzupacken, war gewiss nicht das, was sie sich erträumt hatte.

«Gibt es eine Untersuchung? Hat man Spuren gesichert?»

«Es war eine Bergung, kein Polizeieinsatz.»

«Es muss eine Untersuchung geben. Das ist Vorschrift. Ein Bergführer sollte das wissen.»

«Wahrscheinlich hat Amstad die Polizei benachrichtigt. Er hat genug Erfahrung.»

«Wahrscheinlich ist keine Antwort, Tochter. Ich werde der Sache nachgehen.» Sein Polizeiinstinkt erwachte. Das Thema war ihm offensichtlich angenehmer als Fragen nach seinem Schutzengel.

«Ihr hättet die Leiche nicht anfassen dürfen, bevor eine Amtsperson vor Ort gewesen ist.»

«Amstad meinte, die Luchse würden sie fressen.»

«Unsinn! Man hätte einen Untersuchungsrichter aufbieten müssen.»

«Bei jedem Unfall?»

«Nicht bei jedem. Aber bei diesem. Es gibt keine Zeugen. Es könnte sich ja um Mord handeln.»