Finale

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Emil Zopfi, geboren 1943, studierte nach einer Berufslehre Elektrotechnik und arbeitete als Computerfachmann und Erwachsenenbildner für Informatik und Sprache. Autor von Romanen, Hörspielen, Kinder- und Jugendbüchern sowie Bergmonografien. Er lebt heute als Schriftsteller in Zürich. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem King Albert Mountain Award und dem Glarner Kulturpreis. Im Limmat Verlag sind seit 1977 zahlreiche Bücher erschienen, u.a. die Andrea-Stamm-Trilogie «Steinschlag», «Spurlos» und «Finale».

«Emil Zopfi ist DER deutschsprachige Bergschriftsteller der Gegenwart. Er erreicht mit seinen Werken nicht nur Bergsteiger, sondern auch das breite Publikum.» King Albert Mountain Award

Emil Zopfi

Finale

Roman


SENZA PARLAR IO SON INTESO

SENZA RUMOR L’ORA PALESO

OHNE ZU SPRECHEN WERD’ ICH VERSTANDEN

OHNE ZU LÄRMEN ZEIG’ ICH DIE STUNDEN

Motto auf einer Sonnenuhr

Piazza Garibaldi, Finalborgo, Finale Ligure

1

Der Morgen war grau. Satte Wolken zogen vom Meer her über den Felsrücken, der sich vom Dorf Orco gegen Süden erstreckt. Der Wind roch nach Salz und Regen.

Andrea parkte ihren Cherokee bei der Kirche, blieb am Steuer sitzen und wartete. Es war der letzte Tag der Kletterwoche in Finale Ligure, einer schwierigen Woche. Insgeheim wünschte sie sich Regen, dann würden sie packen und nach Hause fahren. Sie fühlte sich unwohl, der Cappuccino beim Frühstück in der Bar Centrale in Finalborgo hatte ihr widerstanden, die Brioche lag ihr auf dem Magen. Nach ein paar Jahren gerät jeder Bergführer in die Krise, hatte ihr einmal ein Kollege vorausgesagt. Der Beruf wird zur Routine. Ende des Traums.

Ein Camper mit rot-weiss karierten Vorhängen parkte neben ihrem Jeep. Volker und Sabine stiegen aus, ein deutsches Paar. Die drei andern folgten im Volvo, der Felix gehörte, einem älteren Herrn. Er, Tom und Hina logierten in einem Hotel in Finalborgo. Andrea informierte kurz. Eine Dreiviertel Stunde Anmarsch zur Falesia del Silenzio, einem interessanten Sportklettergebiet. «Löchriger Kalk, etwas für starke Finger. Nehmt Tape mit.»

«Super!» Tom klopfte sich auf die Schenkel. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Hard Rock Café, hatte den Rucksack schon auf den Schultern, ein Seil aufgeschnallt. Während die andern Klettergürtel, Karabiner und Expressschlingen sortierten, Windjacken, Proviant und Wasserflaschen einpackten, balancierte er über das Metallgeländer der Mauerbrüstung am Rand des Parkplatzes.

«Willst du jetzt schon abstürzen?», rief ihm Sabine zu. Hinter der Mauer fiel der Hang steil ab zur Autobahn, die in zwei Tunnelröhren unter dem Bergdorf durchführte.

«No problem. Ich bin im Gleichgewicht.»

«Angeber!» Volker warf die Hecktür des Campers zu. «Können wir endlich los?»

Hina kniete am Boden, wo ihre Ausrüstung verstreut herumlag, durchwühlte ihren Rucksack. «Ich finde meine Kletterschuhe nicht.»

Die andern standen herum, Hände in den Hosentaschen.

Sie richtete sich auf, zupfte ihre Stulpen. «Ich hab sie im Hotel gelassen.»

«Wir holen sie.» Felix trat zu seinem Wagen. «In einer halben Stunde sind wir wieder da.»

«Und wir erfrieren hier inzwischen?» Tom hüpfte vom Geländer herunter.

«Du kannst ja noch etwas Zirkus spielen.» Volker zog den Rotz hoch, spuckte ins Gebüsch.

Andrea zwang sich, ruhig zu bleiben. «Ich gebe dir ein Paar von meinen Kletterschuhen. Die sollten dir passen.»

Hina zog einen Schmollmund, stopfte ihre Sachen in den Rucksack zurück.

Andrea schritt auf dem Schotterweg voran, der dem Friedhof entlangführte. Das Gittertor in der Mauer gab den Blick auf eine Wand mit Gräbern frei. Ein lichtes Gehölz folgte, das vor Jahren abgebrannt war. Einige Föhren hatten überlebt, die angekohlten Stämme dick mit Harz verklebt. Kastanien wuchsen nach, Ginster und Dornengestrüpp wucherte. Tom ging neben ihr, erkundigte sich nach Routen und Schwierigkeitsgraden.

Sie mochte nicht reden und war froh, als sie den Steinmann erreichten, bei dem der Pfad abzweigte, der auf die Höhe des Felsrückens führte. Durch dichtes Gebüsch mussten sie hintereinandergehen. In der Nacht hatte es geregnet, die Blätter waren nass, das Laub auf dem Weg glitschig.

Hinter Andrea folgte Felix, ein Senior mit drahtigem Körper, das schüttere Haar leicht angegraut. Ein Anfänger, so hatte er sich vorgestellt, pensionierter Lehrer. Für sein Alter kletterte er recht gut. Er bedankte sich, als sie einen Zweig festhielt, damit er ihm nicht ins Gesicht schlug. An einer Stelle, wo neben dem Weg das Laub aufgewühlt war, bemerkte er: «Wildschweine. Sie suchen Morcheln.»

«Du kennst dich aus?»

«Mein Schwiegervater war Italiener. Wir sammelten oft Pilze, wenn wir ihn besuchten.»

Auf der Höhe des Felsrückens lichtete sich das Gebüsch, ein Tal öffnete sich gegen das Meer: Val Cornei. Durch die bewaldeten Steilhänge auf beiden Seiten zogen sich Felsbänder aus grauem Kalk. Die Terrassen eines Olivenhains schlossen das Tal an seinem oberen Ende ab. Unter Windstössen wallten die Zweige und Blätter wie silberne Gischt. Irgendwo knatterte eine Motorsäge, ein Hund bellte.

«Das ist Italien», sagte Felix. Seine Stimme hatte einen melancholischen Klang, doch Andrea mochte nicht fragen. Sie liebte diese Felsen über dem Meer, den Geruch von Pinienharz und Eukalyptus. Sie liebte die Kletterwochen in Finale. Doch an diesem Morgen wünschte sie sich, sie wären schon auf dem Rückweg. War es die Krise, die schwierige Gruppe, der Streit mit Daniel vor der Abreise?

Schweigend warteten sie auf der Höhe, bis alle aufgeschlossen hatten. Tom schwatzte auf Sabine ein, Volker stapfte missmutig hinterher. Hina folgte mit einigem Abstand, eingehüllt in Faserpelz und Windjacke, eine Wollmütze mit Ohrklappen auf dem Kopf.

Sie hauchte in die Hände. «Scheisskälte.»

«Unter der Wand der Falesia del Silenzio sind wir im Windschatten», erklärte Andrea. «Vorsicht, der Abstieg ist etwas heikel.»

Sie folgten dem Felsrücken, bis ein Stück Seil, an einen Baum geknotet, den Einstieg in eine senkrechte Wandstufe wies. Hina trat auf die Kante zu, hielt sich an dem Stamm fest: «Da hinunter?»

«Es sieht schlimmer aus, als es ist.»

Andrea griff nach dem Seilstück, hangelte hinab bis zu einer Reihe von Eisenklammern, die in den Fels zementiert waren. Sie schaute nach oben, winkte Hina, sie solle folgen. Ein leichter Schwindel ergriff sie bei dieser Bewegung, ein Gefühl, als ob die Wand schwanke im Wind. Mit beiden Händen hielt sie sich an einer Eisenklammer fest, spürte ihr Herz klopfen. Sie atmete tief durch, überzeugte sich, dass ihre Schuhe nicht rutschten. Das Tal, der Wald, die Felsstufe, alles stand fest. Die Brioche vom Frühstück stiess ihr auf, liess einen sauren Geschmack in ihrem Mund zurück.

«Hilf mir.» Hina tastete mit dem Fuss nach einem Tritt. Andrea packte ihren Schuh, setzte ihn auf eine Eisenklammer. Stufe um Stufe kletterten sie so hinab.

Ein Pfad führte die Felswand entlang, steiler Kalk mit Löchern, Leisten und Sintersäulen unter gelben Überhängen. Bei einer Gruppe junger Eichen stellte Andrea den Rucksack ab. «Hier geht’s los.»

Am Fuss der Wand waren sie geschützt vor dem Wind, der in Wellen über die Büsche und Bäume in der Höhe strich. Andrea erklärte die Kletterrouten, die im Abstand von wenigen Metern die Wand hochführten, gut gesichert mit Bohrhaken.

Sie ass einen Apfel und fühlte sich wieder besser.

2

Felix knüpfte das Seil mit einem Achterknoten an den Gürtel, zwängte seine alten Füsse in die Kletterschuhe. Wenn sie nicht schmerzen, sind sie nicht eng genug, hatte der Verkäufer im Sportgeschäft gesagt. Alles war anders als einst. Zu seiner Zeit hatte man das Seil um Bauch oder Brust gebunden, Wollsocken getragen, Bergschuhe mit Profilsohle.

Hina sass auf ihrem Rucksack, putzte mit der Spitze einer Nagelschere ihre Fingernägel, von denen der schwarze Lack blätterte. Einige Fingerglieder hatte sie mit Tape umwickelt. Den ganzen Vormittag waren sie zusammen geklettert. Jetzt fühlte er sich schlapp, der Mittagsschlaf fehlte ihm, und ein guter Kaffee. Trotzdem wollte er nochmals anpacken, die letzte Route. Er reichte Hina das Seil, damit sie ihn sichere.

«Augenblick noch.» Sie griff in ihren Rucksack, zog eine schmale Bandschlinge heraus. «Häng die bitte oben ein für mich.» Dann stand sie auf, klinkte das Seil ins Sicherungsgerät an ihrem Gürtel. «Na, dann los.»

Felix hängte sich die Schlinge über die Schulter, warf einen Blick auf das Grigri, mit dem sie sicherte, und vergewisserte sich, dass sie das Seil richtig eingelegt hatte. «Pass gut auf.»

«Ist doch klar, oder?» Ihre Stimme klang beleidigt. Mit einer Hand hielt sie das Grigri locker, mit der andern gab sie Seil aus.

Felix begann zu klettern. Die Route setzte steil an, der Fels war grau und löchrig. Einst Klippe im Meer, dachte er, zernagt vom Wellenschlag von Jahrtausenden. Die Löcher waren trügerisch, einige scharfkantig, boten guten Griff, andere stumpf, die Finger glitten ab. Er versuchte, während des Kletterns regelmässig und tief zu atmen, sich ruhig und kontrolliert zu bewegen. Nie hätte er sich träumen lassen, noch einmal Fels zu berühren, harten festen Fels. Er klinkte eine Expressschlinge vom Gürtel, hängte den einen Karabiner in den ersten Bohrhaken, das Seil in den andern, schaute hinab. Hina lehnte an einem Baum. Ihre roten Pulswärmer schimmerten hell im Zwielicht unter den Bäumen.

 

«Hab eingehängt.»

«Ich pass schon auf.»

Es ärgerte ihn, dass sie nicht heraufblickte. Immer den Kletterer beobachten beim Sichern, hatte ihnen die Bergführerin eingeschärft. Hina hielt sich nicht daran, sie bekomme Nackenschmerzen, wenn sie ständig nach oben schaue. Eine eigenartige Frau, oft zickig und abweisend, dann suchte sie wieder Nähe, drängte sich an ihn und kicherte wie ein Teenager. Ihr Körper war schmal und knochig, als wäre sie magersüchtig. Er traute ihr nicht zu, zuverlässig zu sichern, kletterte bedächtig, prüfte jeden Griff, versicherte sich bei jedem Tritt, dass er nicht rutschte. Gelegentlich griff er ins Magnesiasäcklein am Gürtel und puderte seine Finger ein. Er folgte der Hakenreihe, die sich die Wand hochzog bis zu einem Überhang und darüber zur Kette der Umlenkung. Die neue, sportliche Art des Kletterns hatte ihn vom ersten Tag an begeistert. Er fühlte sich wieder jung, wollte mithalten mit den andern, mit Tom und mit den Deutschen, die gut kletterten. Die Bergführerin bewunderte er, in seinem früheren Leben hatte er viele Kletterer gesehen, aber ihre Leichtigkeit, ihre Sicherheit, das war ein ganz neuer Stil. So zu klettern musste ein Wunschtraum bleiben. Er war achtundsechzig, seine Zeit ging zu Ende.

Der Überhang war gelb und griffig, Sinterfels, ein Spreizschritt nach links brachte ihn zur Kante zu einem Haken. Früher hätte er sich daran festgehalten, doch nun wollte er die Stelle frei schaffen. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, zog sich an einer Leiste hoch und erreichte an guten Griffen die Kette. Mit einem Schraubkarabiner hängte er das Seil ein, die Bandschlinge mit einem zweiten Karabiner daneben und rief Hina, sie solle ihn hinunterlassen. Wieder am Boden, band er sich los, zog das Seil ab. Seine Handgelenke schmerzten, die Fingerkuppen waren nach der Woche durchgeklettert, die Knöchel aufgeschürft. Er war müde, es war die letzte Route, und er hatte sie geschafft, sechster Grad, eine stolze Leistung für den Anfänger, als den er sich ausgab. Opa nannten ihn die andern, obwohl er nie erwähnt hatte, dass er wirklich Grossvater war.

«Du kannst gehen.» Er griff nach dem Seil.

Hina zog ihre Schultern hoch, blickte zu Boden. «Mit diesen Schuhen schaff ich das nicht.»

«Komm schon, für dich ist das ein Klacks.»

«Ich mag jetzt nicht, ich friere.»

Noch immer trug sie den Faserpelz und die Wollmütze. Eigentlich kletterte sie besser als er, ihre Bewegungen waren geschmeidig, sie hatte von Joga erzählt, Aerobic und Jazztanz, doch verlor sie im Vorstieg oft die Nerven und blieb hängen.

«Jemand muss nochmals hoch, das Material herunterholen.»

«Für das haben wir doch eine Führerin.» Hina zog einen Beutel aus ihrem Rucksack, schüttete Tabak auf ein Papier, feuchtete es mit der Zunge an, legte einen Filter ein und rollte sich eine Zigarette. Klemmte sie sich zwischen die Lippen, die mit zwei Piercings geschmückt waren, liess ein Feuerzeug aufschnappen. Die Flamme spiegelte sich in ihren dunklen Augen.

«Du rauchst zu viel.» Das hatte Felix oft zu seiner Tochter gesagt. Sie war in Hinas Alter, hatte zwei Kinder und lebte in Kalifornien. Seit dem Tod seiner Frau hatte er sie nie mehr gesehen. Seine Enkel würde er nicht mehr kennen.

Hina nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch durch Mund und Nase aus, schnippte die Asche auf den Boden. Dann begann sie zu kichern.

«Was ist?»

«Ach, nichts.»

Felix setzte sich auf einen Baumstumpf, trank den letzten Schluck Wasser aus seiner Flasche. Es war kühl geworden. Die Sonne schimmerte durch fahles Gewölk über dem Felsrücken jenseits des Tals, hinter dem das Meer lag. Er war müde, Hände und Glieder schmerzten, doch er war zufrieden. Er war gut geklettert, hatte wieder Tritt gefasst.

3

Tom nervte. Er war der stärkste Kletterer der Gruppe, trainierte in der Kletterhalle und im Fitnessstudio. Das gab er den andern zu spüren. Hina hatte sich geweigert, mit ihm zu klettern. Ich hasse diesen Werbefuzzi, hatte sie gesagt. Selbständiger Grafiker, hatte er sich vorgestellt, ein Typ mit Pferdeschwanz und Dreitagebart, der Anschluss suchte. Kurz zuvor von seiner Partnerin getrennt, hatte er verkündet. Am Abend in einer Pizzeria hatte er sich an Andrea gedrängt und auf sie losgequatscht. Ihre Website sei bieder und verstaubt. Er würde ihr einen trendigen Redesign machen. Als er mit der Hand ihren Rücken berührte, hatte sie ihn weggeschoben.

Jetzt balzte er um Sabine, sie schien es zu geniessen, wetteiferte und flirtete mit ihm. Volker hockte abseits, stopfte Wurstbrote in sich hinein. Er war der Geniesser, ein gemütlicher Schwabe, Sozialarbeiter in Karlsruhe. Sabine dagegen ehrgeizig, eine angehende Juristin. Andrea versuchte, die Gruppenspiele zu ignorieren. Ich bin Bergführerin, nicht Psychologin, sagte sie sich. Vielleicht war der Brechreiz am Morgen ein Zeichen, dass sich etwas ändern muss. Wie lange führe ich nun schon? Wie viele Male bin ich schon in Finale gewesen mit einer Gruppe wie dieser, in der es oft ein zerstrittenes Paar, einen eingebildeten Schwätzer, eine frustrierte Single und einen melancholischen Alten gibt? Der Tag ging zu Ende, sie war froh darüber.

Hina rief nach ihr. Sie kletterte mit Felix an einer Wand nebenan und winkte ihr. «Holst du uns die Express runter?»

Auch das noch. Andrea beherrschte sich. «Willst du es nicht versuchen? Ich geb dir Tipps.»

«Ich mag nicht mehr, ich friere.» Hina hielt Andrea das Seilende hin. Zwischen ihren Lippen klebte eine selbstgedrehte Zigarette.

«Na dann.» Andrea seilte sich an, es war ihr Job. Die Kundin war Königin, auch am Berg.

«Ich steig dann toprope nach. Bitte fädle ein an der Umlenkung, die Schlinge hängt schon.»

Bequemer geht’s nicht mehr, dachte Andrea. Hina kletterte nicht schlecht, sie war gelenkig und leicht, im Vorstieg eher ängstlich, launisch und oft unkonzentriert am Fels. Sie rauchte viel und kiffte gelegentlich. Erst kurz vor der Kletterwoche hatte sie sich per Mail angemeldet, ein Entschluss aus dem Bauch heraus. Sie war im Zug angereist, weil ihr auf einer langen Autofahrt schlecht werde.

«Ich muss schnell verschwinden.» Hina warf die Zigarette auf den Boden, trat sie aus, reichte Felix das Seil zum Sichern. «Hast du ein Grigri?»

«Ich mach’s mit Halbmastwurf.» Er klinkte den Bremsknoten in den Karabiner an seinem Gurt, schraubte ihn zu.

Andrea setzte den Helm auf, wie sie das von den Teilnehmern verlangte. Sie prüfte Felix’ Bremsknoten. «Gut so.»

Dann stieg sie vor, eine mittelschwere Route, mit Bohrhaken gut gesichert. Steil erst, dann plattig, zum Schluss ein kleiner Überhang, etwas abgespeckt die Griffe. Sie kletterte routiniert, dabei wanderten ihre Gedanken. Daniel. Seit ihrem Streit vergangene Woche war Schweigen, kein Anruf, keine sms. Auch sie bockte. Ihre Beziehung brauchte Veränderung. Am Stand hängte sie sich die Bandschlinge in den Karabiner an ihrem Gürtel. Sie sah hinab. Felix stand zum Sichern dicht an der Wand, schaute herauf. Ein zuverlässiger Mann. Hina war verschwunden.

Andrea hob den Daumen. «Stand!»

Sie zog ein Stück Seil nach, klinkte es mit einem Mastwurf in den Schraubkarabiner, band sich los und fädelte das Seilende durch den Ring der Umlenkung, lehnte sich dabei zurück. Unvermittelt glitt ihr das Seil durch die Finger, sie fasste nach, spürte, wie es über ihren Handballen streifte, sich in die Haut brannte. Dann ist es weg, sie schnappt danach, greift ins Leere. Ihr Herz macht einen Sprung, als habe es Flügel bekommen. Die Wand kippt nach hinten, die Wolkenschlieren am Himmel drehen sich, Baumwipfel purzeln kopfüber bis zum Grund des Tales, und es ist, als gleite sie schwerelos auf sie zu. Ich stürze, ich falle. Wo bleibt der federnde Widerstand des Seils? Schatten von Fels und Gebüsch wirbeln vorbei, gelb und grün und grau. Ein Gedanke zuckt durch ihren Kopf. Nein! Nur nicht jetzt, nur nicht hier! Sie schreit, spürt einen Schlag auf ihr linkes Bein, prallt mit einer Hand auf den Fels, zieht ihren Kopf ein, krümmt sich zusammen, hört ein Zischen und Kratzen und einen dumpfen Aufschlag.

Ein Bild blitzte auf. Sie sah ihren Körper neben dem Weg liegen, als schwebe sie über ihm. Sie sah sich selber, ohne die Augen zu öffnen. Sekunden nur, dann stürzte sie weiter in die Tiefe, in Dunkelheit und Stille. Sie lag in einem Feuer aus Kälte und Schmerz, ihr Leib brannte.

4

Die Müdigkeit hatte Felix für einen kurzen Moment übermannt, als ein kratzendes Geräusch in der Wand seinen Blick nach oben riss. Ein Schatten stürzte auf ihn zu, in einem Reflex duckte er sich. Ein Block ist ausgebrochen, schoss es ihm durch den Kopf. Er hörte einen dumpfen Aufprall, das Klirren von Karabinern, die auf den Fels schlugen. Es war kein Stein, es war ein Körper, der stürzte. Wie eine Stoffpuppe schleuderte ihn der Aufprall von der Wand weg. Felix’ Hände krampften sich ums Seil, er erwartete den Ruck, der seine Haut aufriss, seine Handflächen verbrannte. Doch das Seil blieb schlaff. Der Körper krachte ins Gebüsch dicht neben ihm, Zweige knickten und barsten, Laub regnete herab. Es schien, als bleibe er im Buschwerk hängen, doch dann drehte er sich kopfüber, schlug mit dem Helm auf den Weg. Ein hohler, hässlicher Ton. Dann Stille.

Felix kauerte am Einstieg, das lose Seil in Händen, das noch immer durch die Karabiner der Expressschlingen die Wand hochzog. Er verstand nicht, was geschehen war. Ein Tier ist vom Grat gestürzt oder ein Wanderer hat sich verirrt und einen Fehltritt gemacht, dachte er. Er schaute hinauf, suchte die Bergführerin, die eben noch an der Umlenkkette hantiert hatte. Dann erst begriff er. Sie war gestürzt.

Er klinkte den Sicherungskarabiner vom Gürtel, richtete sich langsam auf, sah ihren Körper neben dem Weg liegen. Starrte ihn an, gelähmt vom Schock. Der blaue Helm, das hellbraune T-Shirt, die schwarzen Hosen. «Ich träume», stammelte er, seine Hände begannen zu zittern, immer heftiger. Ich träume, wie damals am Eiger. Ich will träumen, weil das, was ich sehe, nicht wahr sein darf. Die Bergführerin lag auf der Seite, den Kopf auf einem Arm, ein Blutstreifen zog vom Mundwinkel über ihre Wange. Ein Bein angezogen, das andere ausgestreckt, der Fuss seltsam verdreht und nackt. Der Aufprall hatte den Kletterschuh weggerissen. Sie friert, dachte er, ich muss sie wärmen. Sie darf nicht so daliegen, so ungeschützt, so verletzlich. Sonst war sein Kopf leer.

«Verdammt, was geht hier ab?» Felix fuhr zusammen. Tom stand neben ihm, warf ihm einen Blick zu, als habe er ihn bei einer schlimmen Tat ertappt. Als sei er schuld an Andreas Absturz. Eine Bergführerin stürzt nicht einfach so. Tom kniete nieder, neigte seinen Kopf über ihr Gesicht, lauschte, griff nach ihrem Handgelenk, fühlte den Puls. «Sie atmet, sie lebt. Gott sei Dank.»

Felix’ Mund war trocken, als er hervorpresste: «Sie ist gestürzt. Ganz plötzlich.»

«Das gibt’s nicht», schleuderte ihm Tom entgegen, «sie war doch am Seil!»

Felix sah auf seine Hände. Keine Brandspuren vom Seil, keine Hautabschürfung. «Das gibt’s nicht», wiederholte er tonlos. Es war kein Traum. Andrea lag da, das T-Shirt war über dem Klettergürtel hochgerutscht und zerfetzt, ihr Rücken war zerkratzt und blutete. Der Busch hatte den Sturz gedämpft, sonst wäre sie jetzt tot. Felix sah auf ihrer Schulter einen blauen Schmetterling eintätowiert. Bleib hier, dachte er, flieg nicht weg.

«Du hast Scheisse gebaut beim Sichern!» Tom schrie.

Felix biss sich auf die Lippen. Ihm fehlte jede Vorstellung, wie der Unfall geschehen konnte. Andrea war am Seil, er hatte korrekt gesichert, glaubte er. Hatte keinen Ruck, hatte nichts verspürt. Ihm, dem grossen Alpinisten von einst, musste das passieren.

«Wach auf, Opa!» Tom griff ihn an der Schulter, schüttelte ihn. «Wir müssen was unternehmen. Ein Helikopter muss her, subito. Hast du ein Handy, eine Notfallnummer?»

«Vielleicht im Kletterführer …»

«Und wo ist der?»

«In Andreas Rucksack, denke ich.»

Tom eilte davon.

Felix beugte sich über die Verletzte. «Andrea, hörst du mich? Hast du Schmerzen?»

Sie gab keine Antwort. Ihr Gesicht war leichenblass, mit schweren Atemzügen rang sie nach Luft. «Andrea, wir sind da. Hab keine Angst. Es wird schon wieder.»

Er ergriff ihre Hand, sie war so kalt, dass ihn schauderte. Tom hatte recht. Sie mussten etwas unternehmen. Aber was? Andrea jedenfalls auf der Seite liegen lassen, nicht bewegen, falls ihr Rücken verletzt war. Bei ihr bleiben, mit ihr reden, sie warmhalten. Vor Jahrzehnten hatte er einen Nothelferkurs besucht, Seitenlagerung und Mund-zu-Mund-Beatmung geübt und Herzmassage. Nun war alles weg, keine Erinnerung mehr, Blackout. Noch immer heftig zitternd, wankte er zu seinem Rucksack, holte sein Mobiltelefon aus der Deckeltasche. Schaltete ein. Es verlangte den Code, doch sein Gedächtnis versagte auch jetzt. Vier Ziffern, von 1111 bis 9999, also 8888 Möglichkeiten. Stimmt das nach dem Gesetz der Permutation? Oder waren es 8889? Das lernte man im ersten Semester am Gymnasium. Jahrzehntelang hatte er Mathematik unterrichtet, er liebte sein Fach, das Spiel mit Zahlen und Zeichen, doch die Schüler begriffen das nicht. Sie hassten Mathematik, und sie hassten ihn, weil er seine Begeisterung nicht weitergeben konnte. Was denke ich für einen Unsinn, ich rechne und überlege und sollte doch etwas tun. Wenn Andrea überleben soll, kommt es auf jede Minute an. Sein Code wollte ihm nicht einfallen. Der brillante Mathematiker scheiterte an vier Ziffern.

 

Tom eilte atemlos herbei, hinter ihm die Deutschen. Sabine kniete nieder, strich Andrea Haare aus der Stirn, sprach leise auf sie ein. Dann stand sie auf, Tränen im Gesicht.

«Hast du die Bergwacht angerufen?», fragte Volker.

«Am Meer gibt’s keine Bergwacht.»

«Dummkopf!», schrie Tom. «Es muss eine Rettungsorganisation geben.»

«Hast du die Nummer gefunden?»

«Andrea hat die Notnummern bestimmt in ihrem Handy gespeichert.»

«Und wo ist das?»

«Keine Ahnung.»

Tom hatte Andreas Rucksack angehängt, warf ihn auf den Boden, durchwühlte ihn, fand eine Taschenapotheke, aber weder den Kletterführer noch ein Telefon.

«Der hat ja sein Handy in der Hand.» Volker packte Felix am Ärmel. «Mann, versuch doch den Euronotruf, 112.»

«Akku leer», murmelte Felix. Er lehnte sich an einen Baum, zermarterte sein Hirn. Tausend mathematische Formeln purzelten durch seinen Kopf, Matritzen, Differentialgleichungen, Eulersche Zahl, Binominalkoeffizienten, nutzloses Schubladenwissen, mit dem er ein Leben lang seine Studenten gequält hatte. Er schlug mit der Stirn gegen den Baumstamm, als ob er seine grauen Zellen wachrütteln könnte. 8889 Möglichkeiten gab es, doch die vier Ziffern des Codes waren aus seinem Gehirn gelöscht.

«Hina hat doch ein Handy dabei.»

«Wo steckt sie denn?» Tom sah sich um. Rief nach ihr, bekam keine Antwort.

«Ich lauf mal der Wand entlang, bestimmt sind noch andere Kletterer in der Nähe.» Sabine hatte sich gefasst, Volker eilte ihr nach.

Felix holte seine Sturmjacke aus dem Rucksack. «Wir müssen Andrea warm halten.»

Tom half ihm, die Jacke vorsichtig unter ihren Körper zu schieben. Mit Watte und Merfen aus der Apotheke tupften sie ihren zerschundenen Rücken ab, bedeckten ihn mit ihrer Regenhaut und dem Faserpelz. Felix zog ihr den Helm aus, löste den Klettverschluss des Kletterschuhs, streifte ihn vorsichtig von ihrem rechten Fuss, der unversehrt schien. Der linke war blauschwarz unterlaufen, mehrfach gebrochen wohl. Er redete leise auf sie ein. So, wie er manchmal mit seiner Frau sprach, wenn er sich vorstellte, sie sei noch am Leben. Einmal glaubte er, Andrea krümme die Zehen des unverletzten Fusses, gebe ihm ein Zeichen, dass sie ihn höre, dass seine Stimme ihr versunkenes Bewusstsein erreiche. Laut sprach er sie an, und erneut krümmte sie fast unmerklich die Zehen. Die Bewegung liess hoffen, dass ihr Rückenmark nicht oder doch nicht schwer verletzt war. Felix holte ihre Socken aus den Turnschuhen, die sie zum Klettern ausgezogen hatte, streifte sie ihr über die Füsse, zog dann ihren leeren Rucksack darüber. So hatte er es am Eiger gemacht, als er allein auf einer Eisstufe biwakierte, nachdem sein Freund abgestürzt war. Tausend Meter, und da war kein Busch gewesen, der seinen Sturz aufgefangen hätte.

Tom begann am Kletterseil zu zerren, das noch immer in der Wand hing. Er schüttelte es, die Karabiner der Expressschlingen klirrten.

«Es ist verklemmt. Irgendwas stimmt da nicht.»

Stimmen näherten sich, zwei junge Kletterer eilten herbei, fragten auf Italienisch, was geschehen sei. Felix deutete zur Wand. «È caduta.»

«Habt ihr Alarm durchgegeben?»

Felix schüttelte den Kopf. Einer der beiden zog sein Mobiltelefon aus der Tasche, stellte eine Nummer ein, redete schnell, gab Erklärungen in einem lokalen Dialekt, den Felix nicht verstand.

«Die Feuerwehr schickt einen Helikopter von Savona.»

«Die Feuerwehr?»

Der Junge schnitt ein Gesicht. «Hier ist die Feuerwehr für Rettungen zuständig. Mi dispiace.»

«Was heisst das?»

«Das wirst du schon noch sehen.» Der Kletterer deutete mit dem Daumen nach unten.

«Du sprichst gut Italienisch», bemerkte der andere.

«Meine Frau stammte aus der Toscana.»

«Ist sie das da?» Der Kletterer deutete mit der Spitze seines Turnschuhs auf Andrea.

«Nein, das ist unsere Bergführerin.»

«Mamma mia. Wie konnte das passieren? Habt ihr nicht richtig gesichert?»

Felix hob die Schultern.

«Die meisten Unfälle passieren hier beim Sichern.»

Sabine und Volker kehrten zurück in Begleitung von zwei Italienern. Sie gaben ihre Faserpelzjacken her, um die Verletzte zuzudecken. Mehr konnten sie nicht tun, bis der Hubschrauber eintraf.

Nach einer Weile tauchte Tom auf. Er habe Hina gefunden, völlig ausser sich kauere sie am Fuss der Eisenleiter, heule und sei kaum ansprechbar. «Steht unter Schock. Hat wohl zugesehen, wie Andrea gestürzt ist.»

Sabine wollte sich um sie kümmern, nahm Andreas Taschenapotheke mit. Vielleicht brauche Hina ein Beruhigungsmittel. Volker begleitete sie.

«Sie soll eins kiffen», rief ihnen Tom nach. «Das hilft.»

Volker drehte sich um, tippte mit dem Finger an die Schläfe.

«Mein Ernst», gab Tom zurück. «Cannabis beruhigt. Das ist wissenschaftlich erwiesen.»

Vom Meer her schoben sich Wolkenbänke über den Grat jenseits des Tals. Felix schaute auf die Uhr, später Nachmittag, doch es schien schon zu dämmern. Die Kälte nahm zu. In seinem Rucksack fand er Dörrfrüchte, bot den Italienern an. Sie erzählten, drüben an der Rocca di Corno hänge eine Gedenktafel für einen jungen Deutschen. «Dirk Voigt, 1995.» Sein Kollege habe die Sicherung gelöst und ihn fallen lassen, weil er glaubte, Dirk seile sich selber ab von der Umlenkung. Ein fatales Missverständnis. Sie schauten Felix an, als ob sie von ihm eine Erklärung erwarteten. Er kaute eine gedörrte Aprikose und schwieg.

Einige Zeit später drang aus dem Tal das Wimmern von Sirenen herauf.

«Ambulanz und Polizei», bemerkte einer der Italiener. «Ich sause mal hinab.»

«Wo bleibt der Helikopter?»

Die Jungen zuckten die Schultern.

«Subito, haben sie gesagt. Aber was heisst das schon in diesem Land.»