P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben

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P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben
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Elsbeth Schneider ist am Niederrhein geboren und aufgewachsen und lebt seit 2005 mit ihrer Familie in der Nähe von Tübingen. Ursprünglich Ärztin, arbeitet sie seit Jahren als freie Autorin und hat u. a. unter dem Autorennamen Isabell Pfeiffer mehrere historische Romane und Jugendbücher veröffentlicht. Besonders interessiert sie sich für Geschichte, Politik und Psychologie.

www.elsbethschneider.de

ELSBETH SCHNEIDER

P wie Pole

EIN ROMAN AUS SCHWABEN


1. Auflage 2020

© 2020 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: BUCHFLINK

Rüdiger Wagner, Nördlingen.

Coverfoto: Zwangsarbeiter im

Auffanglager Görden 1942, @ akg-images /

Sammlung Berliner Verlag / Archiv.

Satz und Layout: Sabine Düde,

César Satz & Grafik GmbH, Köln.

Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.

Druck: CPI books, Leck.

Printed in Germany.

ISBN 978-3-8425-2293-0

eISBN 978-3-8425-2334-0

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Inhalt

Über den Autor

1942

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

1943

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

1945

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Danksagung

Dies ist eine erfundene Geschichte, denn alle handelnden Personen hat es nie gegeben, genauso wenig wie das Dorf Laifingen. Dies ist eine wahre Geschichte, denn während des Zweiten Weltkriegs gab es im Deutschen Reich rund acht Millionen ausländische Zwangsarbeiter, darunter knapp zwei Millionen Polen. Acht Millionen Schicksale, acht Millionen Geschichten – wie sollte man da etwas erfinden können, das es nicht gegeben hat?

1942

1

Der Marktbetrieb war schon in vollem Gange, als Tomasz gegen neun Uhr am Morgen den Kercelak-Platz erreichte. Käufer und Verkäufer drängten sich zwischen den hölzernen Buden, lärmten, schubsten, feilschten; Eimer voller Kartoffeln, getragene Herrenanzüge, Kochgeschirr, französisches Parfum, Kristallvasen, gefälschte Papiere wechselten den Besitzer, zerlumpte Kinder sammelten heruntergefallene Abfälle auf oder bettelten. Wie konnte es sein, dass nach gut zweieinhalb Jahren Besatzung immer noch so viele Leute kostbare Dinge besaßen, die sie auf dem Schwarzmarkt verscherbelten?, überlegte Tomasz, während er sich seinen Weg bahnte. Und woher konnte das französische Parfum stammen, wenn nicht durch die Hände der Wehrmacht direkt aus dem besetzten Paris? Mittlerweile hatte er Barteczko erreicht, der ihm immer einen Platz neben sich freihielt. Der Alte hob grüßend die Hand.

»Und, Tomasz? Keine Schwierigkeiten heute Morgen?«

Tomasz stellte seinen Rucksack ab und klopfte Barteczko leicht auf die Schulter. »Nein, alles war ruhig. Die einzige Schwierigkeit war das Aufstehen.«

Barteczko lachte leise. Früher, in einem anderen Leben, war er Dozent für Kunstgeschichte an der Universität Warschau gewesen, ein Feingeist, der stundenlang über das kulturelle Leben im Florenz der ausgehenden Renaissance diskutieren konnte, heute war er ein verhärmter Wicht in einem verschlissenen Wollmantel, der auf einem Klapptisch antiquarische Bücher anbot. Er hatte immer noch gute Verbindungen in die ehemalige akademische Welt oder was davon noch übrig geblieben war, so dass sein Zustrom an Erstdrucken und anderen interessanten Druckerzeugnissen unerschöpflich schien. Tomasz und Barteczko hatten sich im Arbeitsamt kennengelernt, als sie für eine Arbeits-Kennkarte anstanden und überrascht feststellten, dass sie beide eine Stelle als Nachtwächter gefunden hatten, Tomasz bei einem Eisenbahndepot, der Professor beim Fernmeldeamt – Stellen, die sich mühelos mit einer Tätigkeit auf dem Schwarzmarkt verbinden ließen.

»Hast du ’ne Zigarette für mich?«

Unwillig beugte sich Tomasz über seinen Rucksack, holte die letzten beiden Zigaretten aus dem Seitenfach, hielt Barteczko eine hin und steckte die andere wieder zurück.

»Hier, mehr gibt’s nicht … Ich hoffe, ich kann heute ein paar Packungen eintauschen, Wolski hat mir den ganzen Rucksack mit Selbstgebranntem vollgepackt. Mein Gott, wenn du dessen Bude sehen könntest, das ganze Chaos auf diesem Hof! Irgendwann fliegt er mit seiner gesamten Destille mal in die Luft.«

»Ist vielleicht kein schlechtes Ende«, sinnierte Barteczko und nahm einen gierigen Zug. »In einer Schnapswolke zum Himmel aufsteigen.«

»Ich dachte, du bist ein Freigeist und glaubst nicht an den Himmel?«

Der Professor kniff die Augen zusammen. »Hab meine Meinung geändert. Da es meiner Erfahrung nach an der Existenz der Hölle keinen vernünftigen Zweifel mehr geben kann«, er vollführte eine Handbewegung, die den ganzen riesigen Platz, vermutlich sogar die ganze Stadt Warschau mit einschließen sollte, »stehen die Chancen auf einen Himmel vermutlich gar nicht so schlecht.«

»Immer noch der alte Optimist! Kann ich meinen Fusel mit zu deinen Sachen stellen?« Auf Barteczkos Nicken hin packte Tomasz seinen Rucksack aus und stellte ein paar Literflaschen Wodka hinter die fleckigen Bände einer polnischen Literaturgeschichte.

»Wenn du früher kommen würdest, könntest du dein Zeug leichter loswerden«, bemerkte Barteczko, drückte die halb gerauchte Zigarette an seiner Schuhsohle aus und schob den Rest bedauernd in seine Hosentasche. »In der Dämmerung trauen sich auch die Deutschen aus ihren Löchern und stöbern hier herum. Die besten Geschäfte machst du mit denen, bevor es hell wird.«

»Vielleicht will ich ja gar keine Geschäfte mit denen machen? Vielleicht bin ich ja ganz zufrieden damit, wie es jetzt läuft? Ich brauche nicht viel.«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Eine ehrenwerte, aber schwachsinnige Haltung.«

Tomasz schob sich die Mütze in den Nacken, gähnte und rieb sich die Augen. »Verdammt, ich bin einfach hundemüde. Gestern Abend war ich erst um zwölf von Wolski zurück, und heute Morgen bin ich schon um halb sechs wieder aufgebrochen.«

»Ich dachte, du hast ein Fahrrad?«

»Ja. Aber es ist mir zu gefährlich, damit in die Stadt zu fahren. Wenn irgendeiner von denen auf die Idee kommt, es zu beschlagnahmen, bricht mein Geschäftsmodell zusammen. Ich brauche das Fahrrad, um zu meinen Bauern zu fahren.« An zwei, manchmal auch an drei Tagen in der Woche fuhr Tomasz seine Runde ab zu den Bauern, die er noch aus den Anfangsjahren seiner Zeit als Reporter kannte, bevor er seine Liebe zum Sportressort entdeckt hatte. Als Grünschnabel der Redaktion war er für das Warschauer Umland zuständig gewesen und hatte regelmäßig über die Fortschritte in der Schweinezucht, die Jahrmärkte und die Pflege dörflicher Traditionen geschrieben. Damals hatte er das langweilige Einerlei gehasst, heute kamen ihm seine Kontakte zugute. Er hatte sich auf den Alkoholschmuggel spezialisiert, weil die Flaschen, die er bei einer Tour auf seinem Fahrrad transportieren konnte, ein Vielfaches von dem einbrachten, was etwa mit Kartoffeln oder Gemüse zu verdienen war. Die Bauern verkauften an ihn, weil sie ihm trauten, und waren froh, dass er sie dafür mit Zigaretten und Nachrichten aus der Hauptstadt versorgte.

 

»Du könntest bei uns einziehen, das weißt du ja, dann hättest du es nicht so weit. Wir haben in der Küche doch das Schlafsofa stehen. Antonia würde sich freuen, nicht immer nur mit mir zu streiten.«

»Nein«, antwortete er, ohne den Professor anzusehen. Zurück nach Warschau? Wo sie gemeinsam gewohnt hatten. Wo jede Straße, jeder Park an sie erinnerte, die süße Juniluft und der Herbstwind und die ersten Schneeflocken, die quietschenden Türen der Straßenbahnen und das Läuten der Glocken und das Klappern der Milchkannen am Morgen. Zurück nach Warschau.

»Auf keinen Fall. Ich komme zum Markt hierher, das reicht. Und ich wohne gut bei Andrzej, er käme ohne mich gar nicht mehr zurecht.«

Barteczko zog die Augenbrauen hoch. »Hattest du nicht gesagt, du schläfst dort im Treppenhaus? Auf einem Teppich? Und du brauchst eine Stunde, um bis zu deinem Arbeitsplatz zu kommen?«

»Na und! Dafür ist es ruhiger dort, und ich bin schneller auf dem Land draußen! Außerdem kann ich im Depot schlafen.«

»Ist ja gut. Brauchst dich nicht aufzuregen, ich versteh schon.«

Es war nicht richtig, dass sich all seine Wut plötzlich auf Barteczko richtete, einen alten, freundlichen Mann, dessen einziges Verbrechen darin bestand, dass er mit seiner Antonia immer noch in einer winzigen Wohnung im Warschauer Stadtzentrum wohnte. Es war nicht richtig. Tomasz holte tief Luft und versuchte sich zu entspannen. »Wie geht’s Antonia?«

»Geht so. Die Bronchitis hat sie irgendwie überstanden, aber sie ist fast wahnsinnig vor Sorge wegen Halina. Wir haben jetzt wochenlang nichts von ihr gehört, und Antonia stellt sich immer das Schlimmste vor.«

Das Schlimmste. Was für Antonia wohl das Schlimmste war? Ihre Tochter Halina lebte mit ihrem russischen Mann in Moskau und war mit ihrem ersten Kind schwanger; seit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion hatten sie nur sehr sporadisch von ihr gehört.

»Ist gar nicht gesagt, dass es sich unter sowjetischer Herrschaft schlechter lebt als unter deutscher«, sagte Tomasz. »Ich zumindest kann’s mir nicht vorstellen.«

»Und ich dachte immer, als Journalist braucht man Fantasie«, bemerkte Barteczko trocken.

In dem Augenblick spürte Tomasz, wie in dem Markttreiben um sie herum eine eigenartige Unterströmung einsetzte, eine Bewegung ohne Ziel und Richtung. Dann hörte er das Geräusch schwerer Maschinen, Schritte, die im gleichen Rhythmus näher kamen, gebrüllte Befehle, zu weit entfernt noch, um ein Wort zu verstehen. Der ganze Markt wurde von einer Art Fieber erfasst; Händler rafften in größter Hast ihre Waren zusammen, Frauen zerrten ihre Kinder hinter sich her, jemand schrie, und die Ersten begannen zu laufen.

»Hast du das gehört, Tomek? Was ist da los?« Barteczko war bleich geworden, bleich und grau wie alter Schnee.

»Die Deutschen«, antwortete Tomasz. »Sie machen eine Razzia auf dem Kercelak.«

Mittlerweile waren die Soldaten unübersehbar aufmarschiert, die Waffen im Anschlag, und riegelten den Platz ab. Eine Gewehrsalve knatterte zu ihnen herüber, gefolgt von panischem Geschrei; Menschen rannten wild durcheinander, versteckten sich in den hölzernen Buden, drückten sich in Kellereingänge, versuchten sich an den Fenstern der umliegenden Häuser hochzuziehen. Wenn es noch eine Chance zu entkommen gab, dann jetzt, sofort. Er wusste das, aber ein Gefühl der Lähmung hatte ihn überfallen; es war, als ob nicht er selbst dort am Rande des Platzes stünde, sondern jemand anderer, den er dabei beobachtete: ein schlecht rasierter kräftiger Mann in einem schäbigen Armeemantel, daneben Barteczko, der sich an seine Bücher klammerte. Er wollte dem alten Mann den Arm um die Schultern legen und ihm etwas Tröstliches ins Ohr flüstern, einen Satz voller Zuversicht und Tiefe, aber ihm fiel nichts ein, nicht ein Wort.

»Es hat uns erwischt, alter Freund«, sagte er schließlich. Kurz schoss es ihm durch den Kopf, dass er die letzte Zigarette doch hätte rauchen sollen. Stattdessen griff er zu einer der Wodkaflaschen, schraubte sie auf und hielt sie Barteczko hin. »Auf Warschau!« Barteczko nahm die Flasche und nickte. Tränen liefen ihm über das Gesicht und ließen ihn aussehen wie einen kindischen Greis. Er trank einen Schluck und reichte die Flasche zurück.

»Auf Warschau.«

Soldaten und Sicherheitspolizisten drängten die panischen Menschen jetzt in Richtung Lesznostraße, wo eine Reihe von Lastwagen vorgefahren war. Barteczko fing an, hektisch in seinen Jackentaschen herumzuwühlen.

»Meine Arbeitskarte … Wenn sie sehen, dass ich eine Arbeitskarte habe und eine legale Stelle, dann lassen sie mich laufen, bestimmt lassen sie mich laufen, oder, Tomasz? Was meinst du? Das Fernmeldeamt ist doch wichtig, oder? Verdammt wichtig ist das. Sie werden doch niemanden mitnehmen, der dafür sorgt, dass sie ihre Scheißtelegramme rechtzeitig auf den Weg schicken können …« Mit zitternden Fingern zog er schließlich die Papiere hervor, die im besetzten Warschau mehr wert waren als Tausendmarkscheine: die Kennkarte und die Arbeitsbescheinigung. »Hier, ich habe sogar einen Sonderausweis, weil ich beim Fernmeldeamt bin … und den Ausweis, ich habe noch meinen alten von vor dem Krieg, schau, auf dem Foto da, so habe ich damals ausgesehen …« Der alte Professor redete unentwegt, als könnte er auf diese Weise verhindern, dass die Polizeikräfte näher rückten. Tomasz griff nach den Wodkaflaschen und ließ sie eine nach der anderen auf dem Boden zerschellen. Besser so, als dass sie den Deutschen in die Hände fielen. Seine eigenen Papiere brauchte er nicht zu suchen – er trug sie immer in seiner Gesäßtasche mit sich.

»He, ihr, rüber da! …« Deutsche Kommandos, Schlagstöcke, Stiefeltritte; das klapprige Tischchen fiel in den Dreck. Barteczko schrie auf und bückte sich nach seinen Büchern; Tomasz gelang es gerade noch, ihn an seiner Jacke wieder hochzuzerren, bevor die zurückweichende Menge über sie hinwegschwappte und sie mit sich riss. Heute hatten sie nicht einmal die Papiere kontrolliert, schoss es ihm durch den Kopf, während er schon zu einem der wartenden Lkws gedrängt wurde, den schluchzenden Barteczko hinter sich herziehend.

»Ich hab sie verloren … Gerade hatte ich sie doch noch, und jetzt sind sie nicht mehr da!« Der Professor starrte ungläubig auf seine leeren Hände, die vor wenigen Minuten noch die rettenden Papiere gehalten hatten. »Was soll ich denn tun, wenn die mich festhalten? Was soll denn aus Antonia werden? O Gott, Antonia denkt doch, ich bin heute Abend wieder zu Hause …« Der alte Reflex hatte ihn überwältigt; die Unfähigkeit, seine geliebten Bücher im Dreck liegen zu lassen, hatte ihn eine entscheidende Sekunde lang die Papiere vergessen und sich schützend nach der Literaturgeschichte bücken lassen. Eine Sekunde lang, in der er wieder der war, als den seine Familie, seine Studenten ihn kannten: ein bibliophiler Gelehrter und schrulliger Feingeist anstelle eines abgerissenen Schwarzmarkthändlers …

Tomasz biss die Zähne zusammen, um nicht auf ihn einzubrüllen, während der Laster sich in Bewegung setzte. »Reiß dich zusammen, Bartek! Die nehmen deine Personalien auf und schicken dich zurück nach Hause. Du bist zu alt fürs Lager.« Vielleicht stimmte es sogar. Oder vielleicht hatte Antonia noch einen Pelz oder ein Schmuckstück retten können, um ihren Mann damit freizukaufen. Mit Wertsachen war immer noch vieles möglich.

Tomasz wandte sich ab und suchte unter den anderen Verhafteten nach einem bekannten Gesicht, aber niemand außer Barteczko kam ihm vertraut vor. Einige der Leute auf dem Wagen winkten und riefen den Passanten zu, sie sollten ihre Familien benachrichtigen, aber die meisten schienen viel zu schockiert zu sein und klammerten sich nur stumm aneinander. Ein kleines Mädchen schrie aus Leibeskräften, bis eine ältere Frau es hochhob und sein Gesicht gegen ihre Brust drückte. Lesznostraße, Tłomackiestraße, Bielańskastraße, Theaterplatz; Senatorska, Zamkowyplatz, Nowyzjazd. Vor der Kierbedziabrücke gab es einen Aufenthalt; eine Fahrradrikscha war umgekippt und blockierte die Straße. Die Polizisten brüllten auf den unglücklichen Fahrer ein, aber der Mann blutete aus einer Wunde am Kopf und war offensichtlich zu benommen, um sein Fahrzeug allein wieder auf die Räder zu stellen. Ein SS-Mann gab ihm einen Stoß vor die Brust, dass der Mann ins Taumeln geriet, rief dann einen anderen Uniformierten zu Hilfe und schob mit ihm zusammen das Gefährt aus dem Weg. Für ein paar Sekunden war die Aufmerksamkeit der Polizisten abgelenkt. Jetzt. Die Entschlossenheit, die Tomasz eben gefehlt hatte, war plötzlich wieder da, ließ ihn über die Reling hechten und auf die Straße springen. Es gab noch eine Rettung, wenn er nur schnell genug war, schnell genug in einer Seitenstraße verschwinden und sich in irgendeinem Kellerloch verstecken konnte …

Er war noch nicht ganz gelandet, da traf ihn schon der Schlag eines Gewehrkolbens in den Rücken, so dass er aufstöhnte vor Schmerz. Der nächste Schlag ließ ihn zusammensacken wie eine Stoffpuppe.

»Du Hurensohn, Scheißpolack, glaubst du, du kannst uns hier Ärger machen? Warte …« Er hob die Arme vors Gesicht, versuchte sich zu schützen. Dann eine andere Stimme.

»Papiere.« In seinem Kopf war ein Dröhnen; er schmeckte Blut und fuhr sich mit der Zunge über die geplatzte Lippe. Wie im Nebel nestelte er die Papiere heraus. Ein Polizist riss ihm die Arbeitsbestätigung aus der Hand.

»Nur das hier. Den Rest kannst du behalten.« Der Mann warf einen Blick auf die Bescheinigung, grinste und riss sie dann in Fetzen. »Wieder aufsteigen, los.«

Tomasz konnte sich nicht erinnern, wie er wieder auf den Wagen gekommen war, aber plötzlich schwebte Barteczkos Gesicht über ihm wie ein bleiches Gespenst. »Tomek, mein Junge, kannst du mich hören? Ich fürchte, das war eine Dummheit, ich glaube nicht, dass sie dich jetzt noch laufen lassen …« Tomasz nickte stöhnend. »Kannst du aufstehen? Komm schon, ich helfe dir. Wir sind gleich in der Skaryszewskastraße.«

Das Durchgangslager in der Skaryszewskastraße – es gab keinen Warschauer, der es nicht kannte. Es war ein klotziges, vierstöckiges Gebäude mit einer Mauer darum, in dem vor dem deutschen Einmarsch eine höhere Schule untergebracht gewesen war. Vor dem deutschen Einmarsch, bevor alle höheren Schulen und Universitäten von den Besatzern geschlossen worden waren. Wenigstens hatte Tomasz sagen hören, dass man von der Skaryszewskastraße nicht ins Konzentrationslager, sondern zur Zwangsarbeit geschickt würde. Er stolperte mit den anderen zusammen durch ein Spalier von Bewaffneten zum Tor.

Gleich am Eingang wurden die Papiere kontrolliert. Zusammen mit anderen, die ebenfalls keine Arbeitspapiere vorzeigen konnten, wurde Tomasz weiter in das Gebäude gedrängt; er hörte die Menschen um sich herum stöhnen und schreien und eine Frau, die man ebenso wie ihn der Gruppe der Festgehaltenen zugeteilt hatte, laut und energisch protestieren.

»… ich arbeite in einer Armeebäckerei, ich bin unabkömmlich! Ihr könnt mich hier nicht festhalten! Ich habe meine Arbeitskarte, ich kann mich ausweisen! Lasst mich gehen, ihr Schweine …« Ein dumpfer Schlag und ein Schrei beendeten die Tirade. Hatte sie wirklich ihr Schweine gesagt, fragte sich Tomasz, und wenn ja, war es dumm gewesen oder mutig? Oder beides?

»Frauen nach rechts, Männer nach links, macht schon!« Uniformierte trieben sie durch die Flure in einen großen Raum, der vielleicht einmal ein Zeichensaal gewesen war. »Ausziehen und die Kleider ordentlich um die Schuhe zusammenrollen! Alles dahinten an den Durchgang legen! Die Kleidung wird desinfiziert. Und dann rüber zum Duschen!« Was vor wenigen Minuten noch eine Gruppe unterschiedlicher Männer gewesen war mit unterschiedlicher Lebensgeschichte – Handwerker, Berufsschüler, Geistliche, Beamte, Schieber –, verwandelte sich in eine Masse nackter, zitternder Leiber. Tomasz steckte seinen Brustbeutel in die Jackentasche und hoffte, dass er ihn später wiederfinden würde. Der Beutel enthielt ein paar wenige Dinge, die ihn mit seiner Vergangenheit verbanden – ein Exemplar seines ersten veröffentlichten Artikels; ein kleines Stückchen Bernstein. Und natürlich das Foto von Agnieszka und Jan, als der Kleine gerade drei Monate alt gewesen war.

 

Die Wachen drängten ihre Gefangenen in Richtung einer großen Flügeltür; es war sinnlos, sich zu widersetzen. Die Berührung von fremder nackter Haut war unangenehm, und Tomasz bemerkte, wie ein Gefühl der Scham sich über sie alle legte und daran hinderte, sich in die Augen zu sehen, ja überhaupt ein Zeichen zu geben, dass sie sich gegenseitig wahrgenommen hatten. Als könne man so wenigstens eine Illusion von Würde bewahren.

Der Nebenraum war so groß wie der, in dem sie ihre Kleider ausgezogen hatten, kahl und fensterlos und mit einigen Dutzend Duschköpfen ausgestattet, die an Rohren unter der Decke montiert warten. Keiner unter ihnen, der nicht schon von den Duschen gehört hatte, keiner. Tomasz spürte, wie sein Herz sich weigerte weiterzuschlagen, wie es ihm den Atem nahm, jetzt schon den Atem nahm. So war es also, so würde es sein … Er stolperte barfuß über den kalten Betonestrich, suchte Halt an seinem Vordermann, an der gefliesten Wand. Plötzlich traf ihn ein Stück grauer Seife an der Schulter; die Wachen warfen sie wahllos zu ihren Gefangenen hinein, harte, graue, billige Seife, die doch nur bedeuten konnte, dass sie weiterleben durften, dass es eine Zukunft gab, dass das noch nicht das Ende war. Das kalte Wasser war wie eine Erlösung, die Taufe am Beginn eine neuen Lebens.

Handtücher gab es nicht. Obwohl es draußen ein milder Frühsommertag gewesen war, zitterte Tomasz am ganzen Körper, als sie noch nass aus einer anderen Tür wieder hinausgetrieben wurden und sich in einem Gang in einer Reihe aufstellen und die Hände über den Kopf heben mussten. Zwei junge Sicherheitspolizisten – fast Kinder noch, dachte Tomasz, so jung, so jung! – liefen mit einer Art Pumpe an ihnen vorbei und sprühten eine widerlich stinkende Flüssigkeit auf ihre Haare, auf den Kopf, unter die Achseln, auf die Genitalien. Tomasz schloss die Augen, nicht nur, um sie vor der aggressiven Chemikalie zu schützen. Er wusste, dass er niemals die Gesichter der Männer vergessen würde, die er in diesem Zustand gesehen hatte; die ihn in diesem Zustand gesehen hatten. Dass er in Zukunft in jedem fremden Gesicht danach suchen würde, ob es dabei gewesen war. Dass er in diesem Moment aufgehört hatte, der alte Tomasz zu sein, und von jetzt an darum kämpfen musste, wenigstens ein Mensch zu bleiben, mit Leidenschaften und Schwächen, mit Träumen, Plänen, Geheimnissen. Wenigstens hatte er den Professor gleich am Eingang schon aus den Augen verloren.

Nach Desinfektion und Entlausung wurden sie an einer Kommission vorbeigeführt, immer noch nackt, die Haare feucht vom Desinfektionsmittel. Es waren drei Leute hinter einem Behördenschreibtisch, eine Frau und zwei Männer, alle in Uniform, alle mit einem gelangweilten Ausdruck im Gesicht. Tomasz konzentrierte sich darauf, nur ihre Schuhe anzuschauen, die schwarzen Stiefel der Männer, die flachen Halbschuhe der Frau. Er hob die Arme, wie ihm befohlen wurde, drehte sich, öffnete den Mund, ließ sich in den Hals sehen, in die Ohren. Tief einatmen, Luft anhalten, tief ausatmen. Knie beugen. Kopf drehen. Vergiss, wer du warst. Vergiss deine Pläne.

Nach der Untersuchung durften sie sich ihre Kleider aus einem großen Haufen wieder heraussuchen; alles war noch feucht und stank. Tomasz war erleichtert, den Beutel mit seinen persönlichen Dingen wiederzufinden. Sowohl seine Hose als auch seine Jacke waren bei der Behandlung eingelaufen und jetzt zu kurz; die Schuhe hatten sich verfärbt, waren aber noch tragbar. Er empfand ein demütigendes Gefühl von Dankbarkeit deswegen.

Die nächsten Tage verbrachten sie in ehemaligen Klassenräumen, schliefen auf Pritschen aus Drahtgittern, fünfzig, sechzig Leute in einem Raum. Dreimal am Tag wurde Essen ausgegeben, wässriger Kaffee, wässrige Suppe, Brot, Marmelade. Familien kamen wieder zusammen, Freunde trafen aufeinander, bildeten kleine Grüppchen, diskutierten. Gerüchte entstanden und verbreiteten sich wie schlechte Luft: Man werde sie alle in die Steinbrüche des Lagers Rosen bringen, sie würden zu Schanzarbeiten nach Osten an die Front verschickt, die Deutschen suchten Freiwillige für medizinische Experimente – nichts schien unmöglich, nichts zu weit hergeholt. Nachdem er vergeblich versucht hatte, Barteczko zu finden, blieb Tomasz für sich. Vielleicht war der Professor wirklich zu alt und nach Hause geschickt worden, er hoffte es wenigstens. Vielleicht würde Bartek dann Tomasz’ Familie in Kraków darüber informieren, was aus ihm geworden war. Wobei der Alte vermutlich gar nicht wusste, dass Tomasz’ Familie in Kraków wohnte. Niemand wusste das, und auch er selbst hatte es ja schon halb vergessen.

Nach vier Tagen wurden sie in Kolonnen die zwei Kilometer zum Arbeitsamt in der Kawęczyńskastraße geführt. Tomasz verstand nicht, wie es möglich war, aber offenbar wussten einige Angehörige der Internierten schon vorher darüber Bescheid, hatten am Straßenrand auf sie gewartet und versuchten jetzt, ihren Lieben Lebensmittel oder warme Kleidung zuzuwerfen. Soweit Tomasz beurteilen konnte, gelang es nur in den seltensten Fällen; das meiste landete in den Taschen der Bewacher oder im Dreck. Fast war er froh, dass er nicht damit rechnen musste, irgendjemand würde versuchen, ihm etwas mitzugeben.

Im Arbeitsamt wurden sie in eine Halle mit verschiedenen Schaltern geführt, registriert und mit einem Transportschein ausgestattet. »Ludwigsburg (Württemberg)« stand auf Tomasz’ Schein. In einem Raum in der Skaryszewskastraße hing noch eine alte Karte, und nach einigem Suchen hatte er den Ort gefunden: Er war im Südwesten des Reichs, fast schon in der Schweiz, mehr als tausend Kilometer von Warschau entfernt.