Problemzone Ostmann?

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Inhalt

Geleitwort von Matthias Platzeck

Der Ostmann ist anders und will es auch bleiben!

1. Der Ostmann ist durch 40 Jahre DDR geprägt, sein Erfahrungsvorsprung aus beiden deutschen Systemen macht ihn nachhaltig.

Ich bin ein ziemlich sozialer Mensch mit einem Faible für Gerechtigkeit

»Meine Kugel ist tausendmal schneller als ihr rennen könnt.«

FDJ* – diese drei Buchstaben gehören zu meinem Leben wie Vater und Mutter

Seit meiner Schulzeit lege ich als DJ Musik auf

Wenn wir uns streiten, streitet sie und ich höre geduldig zu

Die Seele der Demokratie ist die Liebe zum Kompromiss

Geschäft und Geld sind im Westen immer das Wichtigste

Was andere in der DDR nicht machen konnten, konnten wir machen

2. Die Arbeit ist für den Ostmann Sinn des Lebens, ein kulturelles Gut und nicht nur Mittel zum Geldverdienen. Der Betrieb war für ihn Lebensmittelpunkt. Aufgrund der Mangelwirtschaft lernte er gut zu improvisieren. Der Verlust von Arbeit führte zu Brüchen männlicher Identitäten.

Heute sehe ich die Plattenbauten positiv

Das Schicksal meint es wohl nicht gut mit ostdeutschen Männern

Der Westen kriegte gute Leute, die er sehr billig einkaufen konnte

Das Arbeitsamt meinte: »Eigentlich können wir Sie nicht vermitteln!«

Ich war nie für den Westen, obwohl ich gerne Whisky trinke

Vieles am Bildungssystem der DDR hätte man bewahren sollen

3. Für den Ostmann ist Familie selbstverständlich. Obwohl er Gleichberechtigung anerkennt, ist der Familienalltag im Wesentlichen weiterhin klassisch patriarchalisch organisiert.

Das sind Ossis, die können nichts

Mein großer Vorteil ist, in zwei Systemen gelebt zu haben

Ich hatte so viele Verwandte im Westen, aber keiner nahm mich auf

Für uns war die Familie am wichtigsten

Hartz IV hat mich manchmal in schiere Verzweiflung gebracht

Man musste immer gut mit den Konsumfrauen können

Ich habe nie Unterschiede zwischen meinem eigenen Kind und dem meiner Frau gemacht

4. Die Nichtanerkennung der Bildungsabschlüsse, Arbeitslosigkeit und entwürdigende Kämpfe um Arbeitsplatz, Einkommen und Rente führten zu anhaltenden Verletzungen.

In dieser neuen Gesellschaft kannst du nur als Einzelkämpfer bestehen

Dem Ostmann fehlt nicht die Individualität

Nimm nur die Kämpfe auf, die Aussicht auf Erfolg haben, wenn nicht, verlasse die Situation

Gott hat uns hierher gestellt, und wir wollen unsere Rolle wahrnehmen

Ich brauche zu Hause kein Heimchen, das auf meine Heimkehr wartet

Kontakt zu den Westverwandten wollte ich nicht abbrechen – mein Karriereende

Meine Eltern waren strenger als wir Eltern heute

Wenn wir gewonnen hätten, wäre es schlimmer gekommen

5. Die Erinnerung an die Armeezeit spaltet die Ostmänner. Für einen Teil war sie verbunden mit beruflicher Entwicklung, für einen anderen mit Demütigungen.

Ich wollte mit achtzehn die Enge meines Zuhauses unbedingt verlassen

»Wenn Ihre Frau nicht Mitglied der Partei ist, können Sie nicht Kommandeur werden.«

Wenn damals die Amerikaner nicht aus Thüringen abgezogen wären, wäre ich heute ein Wessi

Ich will keine Heldenbrust

Meine 16 Reisepässe hab ich nach der Wende im Tresor der Reisestelle gefunden

Ich bin ein Flüchtlingskind

6. Für die Mehrheit der Ostmänner ist die AfD keine Alternative. Sie verstehen, dass viele Ostdeutsche frustriert sind. Das Vertrauen in die Politik und parlamentarische Demokratie ist erschüttert.

Zum Glück ist Strom unpolitisch und farbenblind

Ich war der Mann für alles: Reinigung, Reparaturen, Gartenarbeit

Ich bin DDR-kritisch erzogen worden

In meinem Leben spielte Artistik immer die Hauptrolle

»Mit Risiken und Nebenwirkungen«: Ostmännliche Positionen zu Schwangerschaftsabbruch und Vaterschaftstest

»Problemzone Ostmann?« Plädoyer für eine Differenzierung des Diskurses über ›den Osten‹ im Allgemeinen und ›den ostdeutschen Mann‹ im Besonderen

Literaturverzeichnis

Glossar

ibidem Verlag, Stuttgart

Geleitwort

Ein spannendes Buch mit vielen offenen und versteckten Botschaften und Erkenntnissen. Nach den Unerhörten Ostfrauen nun die Männer – in großer Vielfalt und mit völlig unterschiedlichen Lebensentwürfen und Lebensläufen. Und hier liegt für mich eine der wichtigen Botschaften dieses Buches versteckt. Für viele westdeutsche Landsleute ist der Blick auf den Osten bis heute davon bestimmt, oder besser getrübt, dass oft relativ eintönige und einheitliche Biografien erwartet werden. Was soll es im Osten schon Spannendes gegeben haben? Welch ein Irrtum!

Zum zweiten finde ich es immer wieder interessant, wie viel Bestimmtheit für gelebtes Leben doch in den jeweiligen Ausgangssituationen und daraus resultierenden Motivationen enthalten ist. Immer wieder schimmert aus den Schilderungen sehr deutlich, dass die DDR eine Arbeitsgesellschaft war – vieles, auch im privaten Leben, rankte sich um den Betrieb, die Brigade.

Das Buch macht nochmal sehr deutlich, dass wir einem Irrtum unterliegen, wenn wir denken, dass 1989/90 eine neue Zeitrechnung bei null für alle begonnen hat. Es war eine politische und gesellschaftliche Zäsur, aber die Lebensläufe, die Biografien schrieben sich fort. Was nach diesem Einschnitt passierte, hing oft eng mit den Jahrzehnten davor zusammen – im Guten wie im Schlechten.

Man bekommt beim Lesen der einzelnen Geschichten eine Ahnung davon, was unser Bundespräsident Steinmeier meint, wenn er sagt, dass einen solchen Umbruch in seiner Wucht und Tiefe, wie ihn alle Ostdeutschen erlebt haben und verarbeiten mussten, kein Westdeutscher nach dem Zweiten Weltkrieg durchgemacht hat.

Auch deshalb ist es gut, was hier aufgeschrieben wurde – vielleicht wächst damit mehr Verständnis füreinander. Es sind zeitgeschichtliche Dokumente von bleibendem Wert.

Matthias Platzeck,

Ministerpräsident des Landes Brandenburg a.D.,

im Februar 2021

 

Der Ostmann ist anders und will es auch bleiben!

Was man über Ostmänner wissen sollte:

1. Der Ostmann ist durch 40 Jahre DDR geprägt, sein Erfahrungsvorsprung aus beiden deutschen Systemen macht ihn nachhaltig.

Norbert, Jahrgang 1955 | 4 Kinder, verheiratet in zweiter Ehe

Ost: Rinderzüchter, Baugeräteführer, West: Bauunternehmer, Wildtierzüchter

Kraftfahrer, Bauleiter, Haupttechnologe

Ich bin ein ziemlich sozialer Mensch
mit einem Faible für Gerechtigkeit

Ich lebte nicht allzu lange bei meinen Eltern. Sie trennten sich gerade. So kam ich zu meiner Großmutter in ein kleines Dorf bei Magdeburg. Meine Mutter studierte in dieser Zeit an der Universität. Das Dorf hat mich geprägt, die Sehnsucht nach dem weiten Land und nach Stille kommt vielleicht schon aus dieser Zeit. Meine Großmutter war ein einfaches Weiblein, mein Großvater arbeitete im Straßen- und Tiefbaukombinat in Magdeburg. Die Großmutter hatte früher bei der Post die Briefe ausgetragen. Das war nicht mehr notwendig. Sie hatte einen Hektar Spargelfeld, sich vier große Gärten aus irgendwelchen Schrebergärten ergaunert, dazu noch vier alte Häuser erworben, nichts Tolles, alte Bauernhäuser, die sie vermietet hatte. Sie war ein absoluter Spartyp. Mit dem Großvater ging es jeden Tag in die Gärten oder auf die Felder. Bei der Ernte gab's kein Abhauen. Erst nach dem Mittagessen kamen viele Freunde. Eine unbeschwerte Kindheit mit Wäldern und Feldern und Seen. Die enge Beziehung blieb bestehen, auch als ich in Berlin lebte. So fuhr ich in allen Ferien, bis ich 16 oder 17 Jahre alt war, allein mit dem Zug von Berlin-Schöneweide nach Magdeburg. Dort wurde ich abgeholt. Ich war einfach gerne bei meinen Großeltern. Die Tatsache, dass meine Großmutter mich mehr als ihren Sohn denn als ihren Enkel sah, begeisterte meine Mutter sicherlich nicht. Meinen Vater kannte ich nicht. Den lernte ich erst kennen, als ich 28 Jahre alt war. Inzwischen hatte er noch vier Kinder aus verschiedenen Beziehungen und einer Ehe. Nur mit einem Bruder pflege ich engeren Kontakt. Die anderen sehe ich gelegentlich, es ist nett und höflich.

Mein Dorfleben endete abrupt zu Beginn meiner Schulzeit. Diese begann ich in der neuen Familie in Berlin-Adlershof. Ich wusste gar nicht, dass meine Mutter mit einem neuen Mann verheiratet war. Und plötzlich hatte ich eine jüngere Schwester. Das Verhältnis zu meinem Stiefvater war von Anfang an etwas schwierig. Wir fanden nie zueinander. Beide Eltern waren beruflich sehr beschäftigt. Sie bemühten sich um uns. Aber miteinander gespielt wurde nie. Die Arbeit stand an erster Stelle.

Meine Schulzeit war für mich sehr interessant. Ich war zu Anfang ein ganz guter Schüler. Allerdings führte meine Aufmüpfigkeit in der Schule zu großen Konflikten in der Familie, sodass meine Mutter mir antrug, wegen der Neigung zum Land und zur Landwirtschaft einen solchen Beruf zu ergreifen. Dies war mit einem Umzug in ein Internat verbunden. So weit weg zu sein war wohl das Richtige für die ganze Familie. Ich war schon ziemlich renitent. So zog ich in eine kleine Stadt in der Nähe Berlins, um den Beruf des Rinderzüchters oder des Zootechnikers, verbunden mit dem Abitur, zu erlernen. So war die Familienzeit für mich mit 15 Jahren wieder vorbei.

Damit startete 1971 die große Freiheit. Eine wunderbare Zeit war dies in unserem Lehrlingsinternat mit einer Truppe von circa 200 Leuten. Wir wurden gute Freunde und unternahmen gemeinsam unheimlich viel, hatten ausgiebig Spaß, wohnten zusammen, tanzten viel. Wir erlernten einen interessanten, aber körperlich schweren Beruf. Wir 16-Jährigen arbeiteten in Zwölf-Stunden-Schichten. Die Kühe mussten ja regelmäßig gemolken werden. Die drei Jahre flossen schnell dahin. Allerdings hatte ich Schwierigkeiten mit dem Abitur. Mit 18, 19 Jahren wurde Schule zur Nebensache, zumal ich eine wunderhübsche Freundin hatte. So erlebte ich das letzte Vierteljahr vor dem Abitur gar nicht mehr in der Schule. Das führte dazu, dass man mich ausgiebig prüfte. Alle anderen wurden zweimal, ich wurde fünfmal geprüft. Und in Biologie fiel ich durch. Ausgerechnet in Biologie, wo ich vorher sehr gute Noten hatte, und nun wusste ich nicht, wie sich die Farne und Moose vermehrten. Vier Wochen später hat es funktioniert. Bei mehreren Besuchen der Lehrerin konnten wir die Lücken nacharbeiten, sodass ich das Abitur noch ablegen konnte.

Mir war klar, dass Rinderzüchter oder Milchproduzent nichts für mich ist. Das galt vor allem für die Zwölf-Stunden-Schichten, auch Weihnachten und Silvester. Zunächst musste ich aber noch anderthalb Jahre zur Armee. Erst sollte oder wollte ich zum Wachregiment der Stasi. Dann aber nicht mehr, und es gelang mir, mich dort zu entpflichten. Stattdessen wurde ich in die Nähe von Neuseddin eingezogen. Ich war kein guter Soldat, bin sehr oft nachts über den Zaun geklettert und nach Berlin zum Tanzen gefahren. Alles Militärische war mir immer sehr fremd. Ich habe nie verstanden, warum man es zu seinem Beruf machen kann, Leute totzuschießen.

Insofern ist mir der Antifaschismus deutlich näher. Faschisten und Militaristen halte ich mit ihrem politischen Ansatz einfach für schwachsinnig. Nach der Armeezeit kam ich kurz zurück in die Familie, wollte aber nicht mehr zu Hause wohnen. Da meine langjährige Freundin das auch nicht wollte, kamen wir zusammen. Sie wurde schwanger. Mit Kind bekamen wir in Adlershof eine Wohnung. So konnte ich mit 21 Jahren die Familie wieder verlassen. Die erste Ehe war nicht die große Liebe.

Da ich als Rinderzüchter nicht arbeiten wollte, suchte ich mir eine Arbeit auf dem Bau. Ich wurde Bauhelfer bei den großen Kränen. Beim Anhängen großer Lasten wurde ich schwer an der Nase verletzt, als der Kranführer nicht ganz aufmerksam war. Der Bauberuf wurde trotzdem der richtige. Es gab sehr viele Möglichkeiten, sich zu qualifizieren. Das nutzte ich und wurde Baugeräteführer. Bei Ladearbeiten auf dem Gelände des späteren Unfallkrankenhaus Berlin traf ich eine wilde Horde von Kraftfahrern. Die gehörten zum Tiefbaukombinat. Und sie überzeugten mich beim Frühstück, Kraftfahrer zu werden, weil man dort das Doppelte verdienen konnte. Ab 1976 arbeitete ich acht Jahre als Kraftfahrer. Immer öfter kamen leitende Leute auf mich zu und schlugen mir vor, Brigadier und Mitglied der SED* zu werden. Eine Brigade zu übernehmen bedeutete immerhin, 60 Leute in zwei Schichten mit 30 Fahrzeugen zu führen. Die Aufgabe klang interessant, aber zu diesem Zeitpunkt war ich an einer Mitgliedschaft in der SED überhaupt nicht interessiert. Das hätte wahrscheinlich zu Verwerfungen im Freundes- und im Kollegenkreis geführt, weil man so eine Sache kommunizieren muss. Bis dato war ich nicht durch große politische Aktivität aufgefallen. Allerdings war ich immer ein sehr sozialer Mensch. Ich sehe Ungerechtigkeiten sehr deutlich und engagiere mich. Mein soziales Gewissen ist stark ausgeprägt.

Partei- und Betriebsdirektor versuchten mich immer wieder zu überzeugen. Ich fand die sympathisch und ihre Argumente waren so überzeugend, dass ich mich nach bestimmt acht ergebnislosen Werbungsversuchen doch entschloss, die Parteizentrale aufzusuchen und zu sagen: »Okay, ich mache das.« Wenn ich mich entschließe, etwas zu machen, dann aus vollem Herzen und mit Leidenschaft. Wir waren kein einfacher Verein, sondern ein wilder Haufen mit unterschiedlichsten politischen Einstellungen. Mit der Brigadeleitung musste es unbedingt klappen. Die 60 Leute durften keinesfalls weniger Geld verdienen. Nach dem bisherigen System verdienten sie 1.100 Mark. Das klappte aber nur durch Betrug. Man hätte 18-mal sieben Kilometer durch Berlin hin- und herfahren müssen, was in acht Stunden nicht möglich war, aber jeden Tag auf den Zetteln stand. Alle wussten das. Mit meiner Entscheidung, die Brigade zu übernehmen und in die Partei einzutreten, war für mich klar, dass ich diese Methode nicht fortführen würde. Von diesem Tag an wurde nur noch das auf dem Arbeitsschein vermerkt, was wirklich geleistet wurde.

Ich hatte aber auch viele neue Ideen, um sinnlose Fahrten zu unterbinden. So schlug ich vor, eine kleine Zentrale in der Nähe der Baustelle aufzubauen, bestehend aus zwei oder drei Wohnwagen und einem Sanitärwagen. Ich übernahm die Arbeiten vor Ort und schlug vor, unsere Fahrzeuge mit Hängern auszurüsten, um nicht nur zwölf, sondern 20 Tonnen auf einmal zu transportieren. Später bat ich die Technologen, einmal auszurechnen, wie lange man denn für so eine Baugrube eines Hochhauses brauchen würde. Wenn wir es ein, zwei oder drei Tage schneller schafften, könnte man den Gewinn in DDR-Mark ausrechnen und vergüten. So entstanden für das Tiefbaukombinat ganz neue Objekt- und Brigadeverträge mit der Folge, dass meine Leute viel mehr Geld verdienten. Natürlich ging das nicht ohne Widerstände. Die Truppe war nicht homogen. Es gab schon Sprüche: »Du rote Sau, ich häng dich auf.« Es war ganz schön wild. Aber wir erhielten die höchste Auszeichnung der FDJ* auf einem Jugendfest – den Ernst-Zinna-Preis, verbunden mit 30.000 Mark Prämie. Das war das überzeugendste Argument. Danach waren wir eine echte Truppe, über ganze drei Jahre lang.

Parallel dazu wollte ich mein vergammeltes Abitur aufbessern. So habe ich mich zwei Jahre aus eigenem Antrieb in die Abendschule gesetzt, um die beiden Vieren in Biologie und Chemie zu verbessern. Mit Zweien bewarb ich mich für einen Studienplatz im Fernstudium an der Technischen Hochschule Leipzig in der Fachrichtung Technologie der Bauproduktion Tiefbau. Ich wurde angenommen. Dann begann etwas ganz Kurioses: Man bekam, wenn man im Betrieb arbeitete und studierte – das wäre heute unvorstellbar – 56 Studientage zur freien Verwendung, ohne dass jemand gefragt hätte, was man an diesem Tag genau machte. Ich war immer noch der Brigadier und jede sechste Woche war ich die ganze Woche in Leipzig oder in Berlin an der Uni. Und das viereinhalb Jahre lang, verbunden mit einem Kaderentwicklungsplan. Ich sollte nach Abschluss des Studiums Produktionsdirektor des Tiefbaukombinats werden. Mein Grundstudium absolvierte ich in Leipzig, das Fachstudium in Berlin an der Humboldt-Universität. Das waren noch einmal drei Jahre unbeschwerte Zeit mit 56 Studientagen, die schon mal Badetage wurden. In Vorbereitung meiner späteren Tätigkeit als Produktionsleiter wurde ich als Bauleiter eingesetzt, zuständig für die Verkehrsbauten des neuen Stadtbezirks Berlin-Hohenschönhausen. Der Verdienst ging damit von 700 auf 1.100 Mark hoch, was natürlich nicht so viel war, wie die Kraftfahrer bekamen. 1982 erreichte mich die Anfrage, ob ich nicht die Streckenbauabteilung für die Tatrastraßenbahnen*, einem Betrieb der Deutschen Reichsbahn, übernehmen wollte. Das schlagende Argument waren 340 Mark mehr Gehalt. Das hat mich interessiert, zumal ich ohnehin nicht Produktionsdirektor werden wollte. So wurde ich 1984 der Bauleiter für die Tatrabahnen.

Zu diesem Zeitpunkt zerbrach meine erste Ehe mit zwei Töchtern. Sie war aus meiner Sicht zerrüttet. Sicherlich trug dazu bei, dass ich mich kurz vorher in eine Kommilitonin verliebt hatte. So stellte ich für meinen Eintritt in die Tatra-Bauleitung die Bedingung, dass sie dort auch tätig sein kann. Sie wurde Disponentin und ich Bauleiter. Wir bauten zusammen die Tatrastraßenbahn von Berlin-Springpfuhl bis zur Wendeschleife Ahrensfelde. Als die Aufgabe der Verkehrserschließung des Wohngebiets in Berlin-Hellersdorf für 80.000 Leute anstand, wurde ein neuer Betrieb der Deutschen Reichsbahn gegründet. Auftrag war der Neubau der U-Bahn-Strecke nach Hönow, ein 800 Millionen DDR-Mark Projekt. Dort wurde ich Haupttechnologe, verantwortlich für die Koordinierung aller dort eingesetzten 48 Kreisbaubetriebe aus der ganzen DDR. Die hätten lieber im Vogtland oder an der Küste in ihrem eigenen Kreis gearbeitet als Stellwerke oder Bahnhofsgebäude in Berlin zu bauen. Und alles stand unter Zeitdruck. Diese Strecke in nur zwei Jahren zu planen und zu bauen wäre heute undenkbar. Wir hielten den Termin. Pünktlich eröffnete die neue U-Bahn-Strecke am 30. Juni 1989. Danach suchte ich nach einer neuen Herausforderung, zumal zu dem Zeitpunkt meine Ex-Frau und meine beiden Töchter per Ausreiseantrag das Land in Richtung Westberlin verlassen hatten. Das traf mich schwer. Ich nutzte nun alle meine inzwischen guten Beziehungen, um für den Umbau des Bahnhofs Zoo in Westberlin zuständig zu werden. Der unterstand der Deutschen Reichsbahn der DDR. Zwischen Juli 1989 und Januar 1990 überprüfte man meine Kaderakte. Das Thema war mit der Wende erledigt.

Mit dem 9. November änderte sich für mich eigentlich alles. Endlich konnte ich meine Töchter wiedersehen. Inzwischen hatten meine zweite Frau und ich zwei Söhne miteinander. Mit ihr bin ich jetzt seit 36 Jahren verbunden. Gewohnt haben wir damals in Berlin-Hellersdorf in einer Neubauplattenwohnung mit 86 Quadratmetern für 80 Mark. Und das in sehr schöner Umgebung direkt am Stadtrand mit sehr vielen jungen Leuten. Meine Frau hatte einige Verwandte im Westen, unter anderem einen sehr netten Patenonkel, einen Braunschweiger Gynäkologen. Bei unserem ersten Besuch umarmte er mich und erklärte mir, dass ich doch blöd wäre, wenn ich weiterhin als Angestellter arbeitete. Viel besser wäre es, selbst eine Baufirma zu gründen. Vieles war zu bedenken. Ich war entschlossen, quittierte meinen Job und begab mich auf die Suche nach einem Grundstück. Das brauchte man, um Maschinen abstellen zu können. So fuhr ich nach A., das ich 1974 nach dem Abitur verlassen hatte. Dort hatte gerade ein junger, 28-jähriger Bürgermeister aus der DDR-CDU seine Arbeit aufgenommen. Er war sofort bereit, mir eine Fläche zuzuweisen. Den amtlichen Vermerk für meine Tiefbaufirma gab mir der Kreisbaudirektor. Er setzte den DDR-Stempel auf einen DDR-Kopfbogen. So war meine Firma für Tief- und Straßenbau am 9. Februar 1990 etabliert. Mein Nachfolger bei der Bahn überließ mir einen alten kleinen Bagger und einen Radlader und ein paar Aufträge. Nur Arbeitskräfte fehlten mir. Es gab nämlich keinen Arbeitsmarkt. Also suchte ich und fand einen notorischen Trinker und zwei Stasileute, die früher auf der Autobahn die Fahrzeuge kontrolliert hatten. Einen Mitarbeiter aus der alten Firma überzeugte ich auch. Mit vier, fünf Leuten und unserer Hände Arbeit begannen wir, unser Geld zu verdienen. Nach dem ersten Monat stand auf unserer Rechnung ein wahnsinniger Betrag von 88.000 Mark. Das war ein Erfolg. Dann hörten wir im Radio von einem Kredit, einem Sonderprogramm für ostdeutsche Betriebe. Wir gingen zur Dresdner Bank. Man erklärte uns, dass Baubetriebe gefördert würden, und fragte, wie viel Geld wir denn haben wollten. Da schoss ich sofort heraus: 400.000 DM. Und die Sachbearbeiterin: »Ja, das ist in Ordnung. Kommen sie morgen früh um 8:00 Uhr das Geld abholen.« Davon kauften wir sofort vernünftige Arbeitsgeräte. Im Nachbardorf machte mich eine junge Bürgermeisterin darauf aufmerksam, dass die Oberfinanzdirektion in Cottbus Gelder für Bauprojekte verteilte. Ich überzeugte sie, für ihr Dorf eine Entwässerungsanlage zu bauen. Die Projektunterlagen lagen seit Jahren im Dorfarchiv. Damit fuhren wir beide nach Cottbus. Wir saßen zusammen mit 50 Bürgermeistern. Dort hieß es, dass nur der Geld erwarten könne, der bereits ein fertiges Projekt hätte. Das konnte die Bürgermeisterin des Nachbardorfs vorlegen. Das Projekt wurde für gut befunden. Auf die Frage, was das denn koste, rutschte mir raus: »2,6 Millionen.« Sie bekam die Bewilligung. So bauten wir die Entwässerung und unsere kleine Baufirma entwickelte sich, bis ich eines Tages in Berlin meinem alten Vorgesetzten, dem Vizepräsidenten der Reichsbahn Baudirektion, begegnete. Er wäre jetzt der Sprecher der Planungsgesellschaft Bahnbau Deutsche Einheit, obwohl er ein Absolvent der Parteihochschule Moskau war. Er schlug mir vor, meine Aktivitäten wieder mehr auf Eisenbahn-Bauarbeiten zu verlegen. Wir waren nun inzwischen 60 Leute und bauten von 1994 bis 2002/2003 in ganz Deutschland Eisenbahnstrecken. Zur Jahreswende 2002 wurde die Sache komplizierter. Es kam zu sehr vielen Insolvenzen. Meine Firma musste geschlossen werden, weil wir leichtsinnigerweise an einem Großprojekt, der Schnellverbindung München-Nürnberg, beteiligt waren, die wegen technischer Fehler in der Projektierung anderthalb Jahre auf Eis lag. Die auflaufenden Kosten beliefen sich auf erhebliche Größenordnungen. Meine Tätigkeit im Bausektor stellte ich 2006 endgültig ein.

 

Dazu muss man wissen, dass meine Frau ab 1990/91 eine eigene Baufirma gegründet hatte. Eine Reihe meiner Erfahrungen konnte sie nutzen. Arbeit gab's genug. Diese Firma gibt es bis heute. Sie ist sehr erfolgreich, gerade auch als verlässlicher Partner der Deutschen Telekom bei der Erschließung in Berlin und im ganzen Bundesgebiet. Meine Frau führt diese Firma immer noch. Ich aber beschloss, mich mit 51 Jahren aus diesem Sektor zu verabschieden.

Es war mir körperlich und seelisch zu viel geworden. Ich hatte nervliche Probleme wegen des Stresses: Von früh bis in die Nacht, fast jeden Tag in der Woche nur unterwegs zu sein und die Familie nicht zu sehen, das war zu viel. Wir hatten Baustellen in ganz Deutschland, die ich täglich aufsuchen musste. Wir bauten den Bahnhof Bitterfeld, die Strecke Rostock-Wismar, Nürnberg-Ingolstadt, diverse Brücken im Raum Leipzig, in Mecklenburg-Vorpommern, in Frankfurt oder Berlin, insgesamt mehr als 400 bis 450 Kilometer Eisenbahnstrecke. Für mich war es einfach genug. Bei einem Urlaub 2006 eröffnete ich meiner Frau, dass ich eine Farm für die Zucht wilder Tiere gründen wollte. Das war zu diesem Zeitpunkt, wahrscheinlich, weil ich es mir leisten konnte, die beste Entscheidung. Ich kam zurück zu dem, was ich ursprünglich mal gelernt habe und was ich eigentlich nie wieder machen wollte. So führe ich seitdem einen Wildzuchtbetrieb hier ganz in der Nähe, der mich sehr befriedigt.

Wir haben vier Kinder, zwei aus erster Ehe. Nachdem die beiden Töchter nach Westberlin verschwunden waren und die Grenze 1989 geöffnet wurde, gab es für mich eigentlich nichts Wichtigeres, als diese Kinder wiederzusehen. Alles andere hat mich wenig interessiert. Nach kurzem Streit unter Androhung von Rechtsmitteln klappte das. Eine Tochter war inzwischen dreizehn Jahre alt. Als sie sieben war, hatte ich meine Frau verlassen, als sie dreizehn war, haben wir uns wiedergefunden. Die andere war inzwischen sieben Jahre alt. Wir konnten das nachholen, was wir in den sechs Jahren versäumt hatten. Heute ist es ein wunderbares Verhältnis, auch mit und zu meinen beiden Söhnen aus der zweiten Ehe. Drei haben ihren Weg gemacht. Einer der Söhne ist mit 34 Jahren in die Firma meiner Frau eingestiegen und wird sie in fünf bis sechs Jahren selbst weiterführen. Mein zweiter Sohn sucht noch seinen eigenen Weg.

Ich erwähnte bereits, dass ich ein ziemlich sozialer Mensch mit einem starken Faible für Gerechtigkeit bin. Das betrifft nicht nur das Zwischenmenschliche. Meine Frau, ich und unsere Kinder haben an einigen Orten in der Welt Freundschaften entwickelt, die auch damit zu tun haben, dass wir helfen. Wenn wir zum Beispiel in den Urlaub fahren – wir reisen seit vielen Jahren nach Kenia oder Südafrika –, bauen wir jedes Mal in dem Dorf unserer Freunde ein Haus. Das ist nicht teuer. Es kostet 1.000 Euro. Ich bin nicht bereit, 1.000 Euro an irgendwelche obskuren christlichen Organisationen zu spenden, weil ich nicht möchte, dass sich das christliche Missionieren verfestigt oder dass sie sich davon ihr Auto finanzieren. Wir spenden direkt. Da weiß ich, dass die Spende glücklich macht.

Ich habe eine sehr selbstständige Frau. Wir leben zusammen in einer tiefen Einigkeit und Verbundenheit. Wir haben aber nie die Absicht gehabt, uns gegenseitig zu kontrollieren. Wenn ich morgen sagen würde, dass ich für drei Wochen in die Antarktis fahre, ist das keine Frage der Diskussion, sondern dann habe ich mich bestenfalls mit ihr abzustimmen, dass wir nicht zur gleichen Zeit fahren, damit einer den Hund versorgt. Man muss in einer Beziehung in politischen Dingen übereinstimmen. Man kann zu vielem unterschiedliche Meinungen haben. Wenn man sie kultiviert vorträgt, ist das okay: Aber im unmittelbaren Familienbereich gebe ich mir alle Mühe, die Ideen und Gedanken, die mich prägen, weiterzugeben. Mit meiner Frau bin ich mir darüber einig. Sie führt eine große Firma und hat zum Beispiel – und das sagt schon vieles ,– als in Brandenburg am 8. Mai 2020 noch kein Feiertag war, ihren 36 Angestellten einen bezahlten Feiertag gewährt. Sie hängt zwar nicht die rote Fahne raus, aber in den großen politischen Zusammenhängen denken wir gleich. Ich bin der Überzeugung, dass es ein besseres Gesellschaftsmodell geben muss als den ausufernden Kapitalismus, weil die Lebensgrundlagen durch Maßlosigkeit und ständiges Wachstum von Menschen selbst zerstört werden. Ein auf sozialen Ausgleich orientiertes weltweites System muss sich etablieren.