Polizeidienst en français

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Polizeidienst en français
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Inhalt

Impressum 4

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99131-210-9

ISBN e-book: 978-3-99131-211-6

Lektorat: Volker Wieckhorst

Umschlagfoto: Elko Laubeck

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

1.

„Mensch, Pocher, Sie können doch leidlich Französisch“, platzte Schmidt in das Büro des Kriminalhauptkommissars. „Da hätte ich eine ganz spezielle Aufgabe für Sie.“ Gerd Pocher drehte sich nichts Gutes ahnend um und blickte seinen Vorgesetzten etwas verdutzt an. Er antwortete erst einmal ganz bescheiden, „Na ja, es geht so. Es reicht, um beim Schlachter fünf Scheiben Schinken zu bestellen, cinq tranches de jambon.“

Was ihn aber verblüffte und etwas verunsicherte, war, dass es Schmidt war, der sich nun ihm gegenüber vor seinem Schreibtisch aufbaute. Er war nicht sein unmittelbarer Vorgesetzter, sondern saß noch eine Etage darüber, er war die rechte Hand des Polizeidirektors, der für Personalangelegenheiten zuständig war und in engem Kontakt stand mit dem Innenministerium.

„Also“, holte Schmidt aus, „wir nehmen da an einem Austauschprogramm teil. Wir bekommen Verstärkung von einem französischen Kollegen. Dafür sollen wir einen Mitarbeiter nach Frankreich entsenden. Das ist die Chance, Pocher.“

War es eine Überlegung, um Pocher aus dem Bereich der Kölner Polizeidirektion loszuwerden, oder waren es Lob und Auszeichnung? Pocher musste einen Augenblick überlegen. Ihm ging es durch den Kopf, dass er vor zwei Jahren unter großem Erfolgsdruck bei zwei Mordfällen nicht den richtigen Riecher gehabt hatte, um den Mördern auf die Spur zu kommen, und wochenlang den falschen Mann im Verdacht gehabt hatte. Er hatte um Versetzung in ein anderes Dezernat gebeten. Es hatte wohl auch mit den Kollegen, vor allem mit einem, zusammengehangen und mit seiner privaten Lebenssituation. Er hatte sich beruflich nicht mehr gut im Kollegenkreis aufgehoben gefühlt, nach zwei ungeklärten Mordfällen, und privat auch nicht mehr in seiner Familie. Seine Frau und er hatten sich auseinandergelebt. Da war einfach nichts mehr gelaufen. Sie hatten sich nur noch wegen jeder Kleinigkeit in die Haare gekriegt, und die Kinder waren ja fast erwachsen.

Er war vor drei Jahren zu Hause ausgezogen und ein Jahr später in die Drogenabteilung gewechselt und hatte dort immerhin an einem größeren Polizeierfolg mitgewirkt, sodass er wieder Vertrauen in seine kriminalistischen Qualifikationen gewonnen hatte. Seine Ermittlungen hatten am Ende sogar zur Sprengung eines größeren internationalen Dealer-Rings beigetragen. Es hatte eine Razzia auf einem Kreuzfahrtschiff auf dem Rhein gegeben, die ziemlich großes Aufsehen erregt hatte, nicht nur, weil rund 100 Fahrgäste an Bord der MS Aroma festgehalten worden waren, sondern auch, weil in einer Kabine tatsächlich 25 Kilogramm reines Kokain sichergestellt werden konnten. Der Prozess war gerade abgeschlossen worden. Pocher hatte als Zeuge vor der Großen Strafkammer des Landgerichts ausgesagt. Insgesamt konnten 15 Personen ermittelt werden, die damit in Zusammenhang gestanden hatten, Hauptdrahtzieher und Weiterverkäufer zwischen Rotterdam und Basel. Die Beweislast hatte ausgereicht, um das Gericht von der Schuld zu überzeugen. Am Ende hatte es Haftstrafen zwischen 3 und 8 Jahren für alle gegeben, bis auf zwei Minderjährige, die noch mal mit Arbeitsstunden davongekommen waren.

 

„Ich gebe ja zu, dass ich gerne Urlaub in Frankreich mache, aber meine Französischkenntnisse reichen doch nicht, um da zu arbeiten, und dann in einer doch recht verantwortungsvollen und hoheitlichen Position“, stellte Pocher seine tatsächlichen Sprachkenntnisse unter den Scheffel.

„Das Austauschprogramm läuft ja bundesweit. Da kommen französische Beamte aus allen Regionen für zunächst drei Monate nach Deutschland. Es geht um Einblicke in die tägliche Arbeit, Erfahrungsaustausch und so. Für unsere Direktion wurde unter anderem ein Beamter aus Montpellier avisiert. Der fehlt dann natürlich in seinem Gebiet. Und den sollen Sie für die Zeit vertreten.“

„Montpellier?“

„Es können ja nicht alle nach Paris gehen.“

„Klar“, stimmte Pocher zu.

„Mensch Pocher, das ist, glaube ich, am Mittelmeer. Sie arbeiten quasi da, wo andere Urlaub machen.“

„Das tue ich doch auch hier in Köln“, lästerte Pocher.

„Hier in Köln?“

„Beim Städtetourismus ist Köln doch eine der beliebtesten Destinationen der Welt. Alle wollen den Dom sehen …“

Irgendwie beeindruckte Schmidt Pochers Schlagfertigkeit, und er ergänzte: „… und am Abend bei Früh ein Kölsch trinken.“

„Fünf bis zehn Kölsch“, korrigierte Pocher.

„Also, überlegen Sie es sich.“ Schmidt schritt um den Schreibtisch herum und klopfte Pocher auf die Schulter. „Außerdem weiß ich von Ihnen, dass Sie überzeugter Europäer sind, und das Austauschprogramm dient nicht zuletzt dazu, das Verständnis über die Grenzen hinweg zu verbessern“, verfiel er in einen ansatzweise hörbaren regionalen Akzent, „den europäischen Jedanken mit praktischem Leben zu erfüllen, jenau wie Sie jesacht haben, sogar in verantwortungsvoller und hoheitlicher Position.“

Da hatte Schmidt allerdings sein Herz getroffen, die Grundfesten all seiner politischen Einstellungen. In der Tat fühlte sich Pocher als Europäer, und seit seiner Jugend war er von dem Gedanken eines grenzenlosen Miteinanders fasziniert, obschon er gerade in der Drogenabteilung die Erfahrung gemacht hatte, dass Kriminelle die Grenzöffnung und Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union schamlos ausnutzten, davon profitierten, und die Polizeiarbeit durch nationale Zuständigkeiten eher behindert wurde. Mithin wäre genau eine intensivere, grenzüberschreitende Zusammenarbeit der nationalen Sicherheitskräfte die Antwort darauf gewesen, zusätzlich zu Frontex, Interpol oder Europol.

„D’accord“, sagte Pocher zustimmend nickend, „ich werde es mir überlegen.“

Schmidt hatte ein freundliches Lächeln aufgelegt. „Jut, kommen Sie morgen um neun Uhr in mein Büro. Da besprechen wir alles Weitere.“

Pocher wendete sich wieder seiner Arbeit zu, Routineangelegenheiten, Verfassen von Vernehmungsprotokollen, die Zuordnung aussagefähiger Fotos und eines Ausschnitts der Videosequenz einer Überwachungskamera an der U-Bahn-Station Neumarkt, auf der zu erkennen war, wie ein 17 Jahre alter Junge, er war inzwischen als Jürgen Pullheim identifiziert und vernommen worden, einem etwa 30 Jahre alten Mann Geldscheine in die Hand drückte und danach einen Beutel entgegennahm und in die Tasche steckte. Wie doof kann man nur sein, dachte Pocher, einen Drogendeal an einem Ort zu vollziehen, der bekanntermaßen von Kameras überwacht wird. Wie sich später herausgestellt hatte, waren in dem Beutel tausend Ecstasy-Pillen gewesen. Sie hatten den Jungen geschnappt, suchten aber immer noch nach dem vermeintlichen Verkäufer.

In Gedanken war Pocher mit einem Mal woanders. Er stellte sich vor, seinen Job an der südfranzösischen Küste auszuüben, befristet zwar, aber das hatte schon etwas Verlockendes! Ein solcher Tapetenwechsel würde ihm vielleicht guttun, ihn nach vorne bringen, ihm neue Lebensimpulse geben, er fühlte sich in einer emotionalen Sackgasse. Er machte mehr oder weniger Dienst nach Vorschrift, gab zwar sein Bestes, um Licht ins Dunkel der Kölner Unterwelt zu bringen, aber nach Feierabend zog er sich mehr und mehr zurück, vernachlässigte den Kontakt zu seiner Familie, den es trotz räumlicher Trennung immer noch gab. Er war zum Einzelgänger geworden, widmete sich seiner Musik, um nicht gänzlich zu veröden in seiner Isolation, suchte nach Auswegen aus der gefühlten Einsamkeit, obschon es immerhin noch Kontakte und Begegnungen gab mit seiner Familie und den Geschwistern und Eltern von Barbara. Seine eigene Lieblingsschwester, zu der er ein sehr vertrautes Verhältnis hatte, lebte in Neuseeland und hatte gerade selbst arge Probleme damit, dass ihr Mann einen heftigen Schlaganfall erlitten hatte. Und seine Kollegen wollte er nicht damit behelligen, dass er unter einem gewissen Leidensdruck stand, denn seit der Trennung von Barbara war er so gut wie nicht mehr mit dem anderen Geschlecht zu einer zufriedenstellenden Berührung gekommen.

Es hatte zwischenzeitlich nur eine Fast-Affäre gegeben, ausgerechnet mit einer Kollegin, aber kurz bevor er dazu bereit gewesen war, ihr ernsthafte Avancen zu machen, hatte sie sich versetzen lassen, ausgerechnet nach Düsseldorf!

Er war später in seiner kleinen Wohnung in Mülheim, in einem ziemlich heruntergewirtschafteten und unscheinbaren Mehrfamilienhaus auf der anderen Rheinseite. Die Mehrheit der Mieter, schätzte er, waren türkische Familien. Er ging im Wohnraum auf und ab und rief Barbara an, seine Noch-Frau. Nach mehrmaligem Tuten nahm jemand am anderen Ende der Leitung den Hörer ab. „Hallo?“, vernahm er die Stimme seiner Tochter.

„Hier ist der Papa. Ist die Mama da?“

Er hörte seine Tochter rufen: „Mama! Papa ist am Telefon!“ Außerdem vernahm er übliches Geschirrklappern, Musik und das Gerede seines Sohnes im Hintergrund. Es hörte sich an, als wenn noch mehr Leute im Haus wären. Dann gab es ein kratzendes Geräusch.

„Schön, dass du anrufst“, sagte Barbara, „hast du vergessen, dass du versprochen hattest, Jens vom Training abzuholen? Wer hat ihn wohl abgeholt? Ich natürlich. Außerdem hast du gesagt, dass du am Wochenende die Steuererklärung fertig machen wolltest. Und wo bist du geblieben? Ich sitze auf dem ganzen Scheißkram und warte vergeblich, dass du ein Lebenszeichen von dir gibst. Die Kinder brauchen dich, Mensch, die schlagen hier völlig über die Stränge. Jens weigert sich, seine Hausaufgaben für die Schule zu machen, Jasmin sitzt seit dem Abitur hier herum und weiß nicht, was sie nun anfangen soll. Du kriegst ja gar nichts mehr mit. Weißt du überhaupt, dass sie ein Bewerbungsgespräch beim Stadtanzeiger einfach hat platzen lassen? Und Jonas war neulich hier. Da habe ich ihn gebeten, ein paar Dinge einzukaufen. Nö, war die Antwort. Jonas hat ja eine Bude in Tübingen, aber ich habe ihn schon zurechtgestutzt, dass er hier auch im Sinne der Gemeinschaft Dinge zu erledigen hat, wenn er in Köln ist. Und wer räumt die Spülmaschine ein, wenn wir gegessen haben? Was meinst du? Alles bleibt an mir hängen. Und du verpisst dich einfach in deine Arbeit. Ich hasse dich! Vor zwei Wochen hattest du versprochen, dich um die kaputte Regenrinne zu kümmern. Was ist passiert? Nichts!“

„Ich hatte einen Sondereinsatz“, versuchte Pocher, dazwischenzukommen.

„Deine Sondereinsätze kannst du dir in die Haare schmieren. Wenn du dich nicht mehr um deine Kinder kümmerst, dann sind die weg vom Fenster. Jasmin ist einfach noch zu unentschlossen und weiß nicht, ob sie nicht doch lieber studieren möchte. Aber Jens ist am schlimmsten. Der hat alle Chancen und nutzt sie nicht. Statt Schularbeiten zu machen und sich aufs Abitur vorzubereiten, ist der nur noch am Chatten und Chillen. Ich halte das nicht mehr aus. Ich habe Jens gesagt, er soll zu dir ziehen. Darauf hat er mich nur angegrinst und gesagt, okay, dann ziehe ich zu Papa. Willst du das? Willst du, dass aus Jens ein Versager wird, ein Totalverweigerer?“

„Nein“, wendete Pocher ein. „Natürlich nicht.“

„Wo bleibst du denn, um aus den Kindern fröhliche, erfolgreiche Menschen zu machen? Immer wieder muss ich erleben, dass deine Versprechen nicht eingehalten werden, dass du mit Jens Hausaufgaben machen willst, dass du mich unterstützt bei der Bewältigung des Alltagskrams und bei der Erziehung der Kinder. Das sind doch auch deine Kinder! Kannst du Jens nicht mal sagen, dass er jetzt seine Hausaufgaben erledigen soll?“

„Gib mir Jens ans Telefon“, sagte Pocher, obgleich er eigentlich etwas anderes mitteilen wollte. Nach einer Weile sprach er seinem Sohn ordentlich ins Gewissen, er versuchte es wenigstens. Und er bekam ihn in der Tat dazu, seine Freunde nach Hause zu schicken, der Sohn versprach, danach sich noch auf die Englischarbeit am nächsten Tag vorzubereiten. „Du weißt, wenn du nicht machst, was ich sage, schicke ich die Polizei“, fügte er noch scherzhaft an. „Gibst du mir noch einmal die Mama?“

Dann griff Barbara nach dem Telefonhörer: „Ja!“

„Ich bin versetzt worden“, fügte Pocher nach einer Kunstpause hinzu, und es gelang ihm nicht, es ganz sachlich auszudrücken, sondern er schlug unbewusst einen Neid weckenden Ton an. „Nach Südfrankreich!“

„Was? Du verpisst dich auch noch aus Köln? Wie soll ich das verstehen? Gut, Jens‘ Freunde sind gerade weg, und vielleicht macht er noch eine halbe Stunde Englisch. Du wirst hier gebraucht, verstehst du? Und jetzt sagst du mir, dass du nach Südfrankreich gehst.“

„Es ist eine Dienstreise, Anweisung von oben“, sagte Pocher.

„Geh doch dahin, wo der Pfeffer wächst!“

Er konnte durch den Telefonhörer spüren, dass seine Noch-Frau den Tränen nahe war, vor Wut und Verzweiflung.

„Verpiss dich doch, du Arschloch!“, sagte sie und legte den Hörer auf. Er hatte noch ein Kitzeln im Ohr, das er immer bekam, wenn er lange mit seiner Noch-Frau telefoniert hatte.

2.

Am nächsten Morgen klopfte Gerd Pocher pünktlich um neun Uhr an der Bürotür von Polizeioberrat Schmidt. „Ich mache das“, sagte er.

„Jut“, sagte Schmidt, „sehr gut.“ Er deutete Pocher an, Platz zu nehmen. „Sie helfen uns gewissermaßen aus der Verlegenheit. Wir hatten schon lange einen Kollegen für den Austausch vorgesehen. Aber der ist kurzfristig abgesprungen, gesundheitsbedingt.“ Schmidt beugte sich vor und ergänzte leise und ernsthaft. „Angeschossen.“

„O, tut mir leid, ist es ernsthaft? Wen hat es getroffen?“, fragte Pocher nach.

„Er wird durchkommen, Kriminalhauptkommissar Klaus-Peter Gimnich.“

Während Pocher etwas erschrocken und betroffen dreinschaute, Gimnich war nämlich der wesentliche Grund gewesen, um seinerzeit in die Drogenabteilung zu wechseln, kehrte Schmidt zum eigentlichen Thema zurück.

In fünf Wochen, Ende Juli, sollte es nämlich schon losgehen. „Wir werden die Kollegen in Montpellier informieren. Pocher, Sie machen diese Woche normal Dienst und Übergabe, die letzten Berichte und so weiter. Ab kommender Woche sind Sie freigestellt. Wir haben einen Crashkursus in Französisch für Sie gebucht und am 31. Juli einen Flug nach Montpellier. Dort wenden Sie sich bitte an eine Frau Lapin bei der Polizei Judizi-ähm …“

„D’accord“, sagte Pocher. „Police judiciaire, auf Deutsch: Kriminalpolizei.“

„Sie können ja doch mehr Französisch als fünf Scheiben Schinken“, lachte Schmidt. In Pochers Personalakte war freilich vermerkt gewesen, dass er während seines am Ende abgebrochenen Jurastudiums zwei Semester in Frankreich gewesen war.

Es war purer Zufall gewesen, dass Pocher im Treppenhaus in dem heruntergekommenen Mietshaus in Mülheim jenem Mann begegnet war, den er als den Ecstasy-Verkäufer vom Neumarkt identifizieren konnte. Er hatte unverzüglich seine Dienstwaffe gezückt, den offensichtlich überraschten Mann festgenommen und über Funk Verstärkung angefordert. Der Mann hatte offenbar in seiner Wohnung ein Labor zur Herstellung synthetischer Drogen betrieben. Für Pocher war der Fall abgeschlossen, und er hatte auch die Kollegen darüber informiert, dass er dafür jetzt nicht mehr zuständig sei.

Eine Woche später drückte er in Hürth die Schulbank, paukte Fachvokabular wie Mord und Totschlag, Struktur der Nationalpolizei, juristische Terminologie, was für ihn aber nur wie eine Wiedererinnerung an seine Zeit an der Uni von Nizza war, Verhörmethoden und aktuelle Politik. Zur Abwechslung gab es zwischendurch französischsprachige Krimikomödien zu sehen, unter anderem einen Filmklassiker mit Louis de Funès als Gendarm von Saint-Tropez.

 

Seine Noch-Frau hatte sich inzwischen offenbar damit abgefunden, dass er für drei Monate ins Ausland gehen würde. Die Kinder waren wieder etwas besser drauf. Inzwischen hatten auch für Jens die Sommerferien begonnen. Er wollte zusammen mit seiner Mutter und einem ihrer Arbeitskollegen an die Nordseeküste. Er dürfe auch einen Freund mitnehmen. „Wir haben in Büsum ein Appartement gebucht“, sagte Jens, als die Kinder an einem Wochenende bei ihm zu Besuch und sie zum Döner im Nachbarhaus gegangen waren. „Nächsten Samstag, glaube ich, geht es schon los. Und danach habe ich noch eine Woche Trainingslager im Sauerland.“

Jasmin und Jonas wussten noch nicht so genau, was sie mit den Sommerferien anfangen sollten. Nach Büsum wollten sie jedenfalls nicht. Pocher bot Jasmin an, dass sie so lange sein Auto, einen silberfarbenen Toyota, haben könnte. Sie müsse ihn dafür aber am Montag zum Flughafen bringen, zum Flughafen nach Hahn, ergänzte er. Offenbar hatte es von Köln aus keine passende Verbindung gegeben. Die Polizeidirektion hatte die Entfernung zu dem Flughafen im Hunsrück für zumutbar gehalten, und von dort gab es freitags und montags Direktflüge nach Montpellier, die zudem preisgünstig waren.

3.

Pocher ließ sich entspannt in den Sessel sinken, als die entsprechenden Zeichen zur Anschnallpflicht mit einem Signalton erloschen. Wenigstens versuchte er, sich zu entspannen. Der Kriminalhauptkommissar schwebte hoch über Europa einem neuen Aufgabengebiet entgegen. Er hatte keine Ahnung, was ihn dort erwartete. Es war schon einige Jahre her, dass er zuletzt in Frankreich gewesen war. Barbara, die Kinder und er hatten sich ein Wohnmobil gemietet und waren drei Wochen lang durch die Provence gefahren und an der Côte d’Azur entlang. Sie waren in Grasse gewesen, in Nizza, Cannes, Saint-Tropez und Sanary-sur-Mer.

In den vergangenen Jahren war er aber nicht mehr dazu gekommen zu verreisen. Seit er sich von seiner Frau getrennt und eine eigene Wohnung auf der anderen Rheinseite gemietet hatte, herrschte chronischer Geldmangel. Er hatte es sich einfach nicht mehr leisten können, innerhalb von zwei oder drei Wochen ein paar tausend Euro zu verjubeln. Außerdem unterstützten sie ihre anspruchsvollen Kinder finanziell, um ihnen einen angenehmen Start ins eigene Berufsleben, also unter anderem ein Studium, zu ermöglichen. Dazu waren die Kinder in einem Alter, in dem sie ohnedies nicht mehr mit den Eltern Urlaub machen wollten. Deshalb wunderte es ihn allerdings, dass Jens dann doch noch mal mit Barbara an die Nordsee gefahren war. Eine Notlösung vielleicht, dachte er, nach dem Motto: besser Nordseeurlaub als Köln wie immer.

Pocher ließ sich einen Kaffee einschenken, für den die Stewardess gleich 4,80 Euro abkassierte, und stellte den Becher auf das Ablagebrett. Er schaute aus dem Fenster. Mittlerweile mussten sie schon über Frankreich sein. Er versuchte, sich zu orientieren anhand der Flüsse und Autobahnen, die er ausmachen konnte. Die Wolkendecke war inzwischen aufgerissen, und Richtung Süden war leidlich klare Sicht.