Mann und Frau und Reisehunger

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Mann und Frau und Reisehunger
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MANN UND FRAU UND REISEHUNGER

KÜCHENGESCHICHTEN UND SCHICKSALSSCHLÄGE

AUF DER SEIDENSTRASSE.

Elke Klinger

Weltreiseblog

Elke Klinger


Mit 33 exotischen Rezepten,

41 QR-Codes mit Filmen und Fotos,

2 Karten der Reiseroute und

1 Espresso-Tipp.


Impressum

STEDE Verlag

ART-KON-TOR ChangeProzesse GmbH

Copyright © 2017 by STEDE Verlag, Jena

Gesetzt in der Adobe Garamond Pro und Luna

Fotos & Grafiken: Elke Klinger, Karsten Meyer

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-946769-11-8

www.reisehunger.edeundsten.de

www.weltreise.edeundsten.de

„Es ist nicht die Zeit, die dich ändert, es sind die Menschen, denen du in dieser Zeit begegnest.“

Lebensspruch

Gewidmet all denen, die wir unterwegs kennenlernen durften.

Andi Wang, Daniel, Annette, Günther, Peter, Jörg, Hannelore, Helmut, Uwe, Horst-Jürgen, Dirk, Martin, Marcel, Greta, Richard Shen, Isabell, Adrian, Dagmar, Achim, Petra, Rüdiger, Ines, Bert, Grace, Raj, Ramin, Zohreh, Sajad, Ali Reza, Hossein Dabag, Mostafa, Erfane, Afrouz, Ali, Saeedeh, Mohammad, Amir, King Hossein, Hossein Seyed Hashemi, Hojjat, Javad, Batul, Najme, Ali Naderi, Atefeh Husseini, Ava, Pouri, Monika, Javad, Atie, Mansure, Lida, Sarah, Amir, Ali, Sajad, Mohammad Amin, Hossein Agha, Hossein, Arman, Ijsa, Arezu, Said, Mitra, Saleh, Firouzi Shaharam, Saman, Nazanin, Ferdous, Mozaffar, Songül, Mohammad Saeidi, Dr. Ali Gahyour, Hassan, Haleh, Ehsan, Sasan, Mahnaz, Fatemeh, Afrouz, Maira, Mireslam, Maryam, Assunta, Davide, Francesca, Simona, Indira, Janathan, Bibinur Orazaliyev, Gulnara, Madina, Amirkhan, Alpamys, Amira, Nyssanbay, Nurian, Aigul, Yura, Marga, Zhanar, Baht, Roman, Irina, Agatha, Galina, Tousif, Vasyl, Dima, Yuliya, Murat, Igor, Sergey, Sascha, Victor, André, Tamara, Janil, Askar, Altenbeck, Gulbeira, Beksultan, Nursultan, Jackie Thao, Eljas, Tilek, Esengul, Eldos, Max, Little Monkey, Zaza, Bold, Zolo, Nancy, Lilian, Guido, Jamie, Joao, Alexander, Alexej, Tommy, Arina, Velerya, Slava, Ataeva Maya, Ataev Aydogdy, Veli, Özlem, Zeynep, Atil, Gaye, Songül, Alper, Ali, Cimen, Kyle, Wilson, Tyson, William, Brandon, Mannat, Anton, Markha, Osman, Shakhnoza, Saule, Bakhitjan, Laure, Dariya, Kanat, Zara, Ulubek, Gledi, Sergey Danilov, Zukhra, Julduz, Dariush, Svetlana

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

Unser Projekt „Silk Route Cooking“.

DEUTSCHLAND

Entenbratenstart mit Schmorkrautmunition.

ITALIEN

Schwarzer Espresso am Rande der Po-Ebene.

Kopflos im Nebel Venedigs.

GRIECHENLAND

Athen, Athen, wir fahren nach Athen.

Ich. Olympiasiegerin?

TÜRKEI

Premierenfeier. Prost Ouzo.

Heiße Luft um die morbide Dame.

Großkopftag.

Harakiri in Hakkari.

IRAN

Ramins Schutzwall der Bücher.

Avas Nachtgesang.

Zu dir oder zu mir? Granatapfelromantik.

Kölner Wind in Isfahan.

Der gelbe Teppich des Ali Reza.

Hubble-bubble mit Zarathustra.

Don‘ t worry, Rafsanjan.

Mein Seufzer ist ein Amen.

TURKMENISTAN

Wozu sind Fußböden da?

KASACHSTAN

Zu Gast bei Riesen.

Gefaltete Träume.

Der Inder in Almaty.

In den eigenen Magen geschlüpft.

USBEKISTAN

Schwur in der Teigrolle.

Weiberwirtschaft. Ras, Dwa, Tri.

Ich. Auf der Hut.

Die usbekische Suppe spricht persisch.

KIRGISTAN

Viktors Welt.

Cool, der Issyk-Kul.

Melkschemel auf dreitausend Metern.

RUSSLAND

Alex und Alex.

MONGOLEI

Bierflaschenschwimmring ohne TÜV-Garantie.

Extratour mit Zaza.

CHINA

Leuchtschrift spricht Bände.

Es ist angerichtet

Weiterhin im STEDE Verlag erschienen

Bildteil

Vorwort

Ein Jahr lang reisen. Täglich ein Stück weiter von dem entfernen, was wir „zu Hause“ und „Heimat“ nennen. Aus dem Abstand heraus schärfer sehen. Zusammenhänge neu erkennen. Umsortieren, aufräumen, Platz schaffen, ausfegen und reinen Tisch machen. Nach fünfundzwanzig Jahren vollgestopftem Alltagsleben war es für uns an der Zeit zu sagen: Wir gehen mal Luft holen. In anderen Teilen der Welt saugten wir sie auf. Weggehen, um wiederzukommen. Das war die Idee. Gemeinsam losziehen. Wir drei, Ede und Sten und Leo, unser LKW. Leo ist orange, und groß und geräumig ist er auch, unser Haus, unsere Behausung, unsere Tür zur Welt und manchmal auch zu uns selbst. Halt machen, wo es uns in den Sinn kam oder wo Leo es wollte. Wenn nötig, mitten in der Wahnsinns-City Teheran. Wir haben kistenweise Vergangenheit zurückgelassen. Mit leeren Taschen loszuziehen, aus denen noch der Sand des Gewesenen rieselte, war nicht leicht. Doch ohne Raum kein Platz. Die Menschen, die wir auf Zeit zu Hause verabschiedeten, waren unsere Talis-Männer und -Frauen, wenn es drauf ankam. Und es kam darauf an, oft sogar. Unsere Phantasie ist viel zu beschränkt, als dass wir uns auch nur im Ansatz vorstellen können, was einem widerfährt, wenn man beginnt, einen Fuß vor die Tür zu setzen und dann noch einen und immer so weiter. Ein Pulsieren, wo immer der Wind uns hinfegte. Die Menschen sind gut, erfuhren wir wieder und wieder. Die Begegnungen haben uns gerührt, berührt und verändert. Viel Glauben ist uns begegnet. Er hat uns ehrfürchtiger werden lassen und zuversichtlich. Es gab in mir eine Zeit der Angst. Unterwegs wuchsen der Angst Flügel. Vom Fallen zum Fliegen zum Schweben. Reisen, um sich selbst zu begegnen. Wie doof und eben doch wahr.

 

Setz die Brille auf und tauche ein in die Suppen der Welt. Lass dir unsere Geschichten schmecken. Wir teilen sie gern, denn so schmecken sie noch besser.

Unser Projekt „Silk Route Cooking“.

Die Seidenstraße. Ein Wort, was uns seit Jahren Glanz in die Augen treibt. Es löst Bilder in uns aus und weckt mehr noch Gerüche. Wir sehen uns auf einsamen Pisten im Irgendwo. Länder erkundend. Landschaften erfahrend, wo noch kein Mensch war. Oder wenigstens nicht so viele. Also, die dort leben, die schon. Menschen. Sie sind der Puls, der Impuls für uns. Ihre Art, die Strümpfe ihres Lebens zu waschen, wollen wir sehen. Sie sind das Herzstück unserer Phantasie entlang der Seidenstraße, der Magnet, der uns zieht und treibt, ja antreibt. Ohne Menschen keine Kamele, die damals die Routen suchten und Wege fanden. Gebirge überwindend, Wüsten durchquerend. Ein hartes Leben damals. Ein Eigenwilliges mit Bestimmtheit noch heute. Ohne Menschen kein Bedürfnis nach Seide und Gewürzen. Nach Fortschritt und Erkenntnis. Menschen in ihrem Alltag zu treffen. Ihnen zu begegnen und ein Teil ihrer Tage zu sein. Auf Zeit. Das ist unser Projekt. Das ist, was uns duftend lockt. „Silk Route Cooking“. Mit den Menschen zu sein und dabei uns selbst begegnen. Kochen verbindet. Kochen und Essen öffnet Münder, selbst wenn die Worte fehlen. Kochen ist Liebe und Leidenschaft. Mal für eine Sturmnacht oder ein stürmisches Leben. Kochen ist leben, genauer, Kochen ist das Leben. An jedem Ort der Welt. Den Menschen bei ihrem natürlichsten Tun begegnen. Im Iran genauso wie in Kasachstan und China. Vom Wandel der Gerüche kosten entlang unseres Weges, der Seidenstraße. Wir nehmen sie rückwärts, ohne rückwärts zu gehen. Von Venedig, dem Ziel, aufbrechend nach Xi‘an, dem Anfang. Weil dem ein Zauber innewohnt. Die Suppen auslöffeln, die wir uns gemeinsam einbrocken. Was aufgeschlagen vor dir liegt, ist kein Kochbuch. Keine so-wird-es-gemacht einhundert prozentige Anleitung. Es geht mehr um Intuition, als um das genaue Gramm auf der Waage. Ich erzähle die Geschichten der Menschen, denen wir auf den Seitenstraßen der Seidenstraße begegnen. Einfach und still. Ich sammle auf, was ich finde. Sorgsam. Wie Schatzperlen. Kochen ist Kunst. Die Handgriffe so verschieden, die kleinen Tricks und Kniffe mitunter verblüffend. Wenn aus Granatapfelkernen Blüten entstehen, wenn Luftlöcher im Reis den Wasserdampf aufsteigen lassen, wenn Fleisch, über Nacht in Schwarztee eingelegt, am nächsten Tag butterweich dem Charme der Gabel erliegt. Die Welt rückt näher zusammen durch die modernen Medien und das Internet. Doch sie fällt im gleichen Maße auseinander, indem Individualitäten und altes Wissen verloren gehen im Einheitsbrei der urbanisierten, Markengelenkten Welt. Wir stehen an zugigen Freiluftöfen in 3.000 Metern Höhe, sitzen in gemütlich engen Küchen inmitten von verfallenen Großstädten, sehen zu, wenn ein Schaf nach dem Gebet von Hand geschlachtet wird und trinken tapfer von der so gesunden Stutenmilch. Wir sind, unserem Mut, den Zufällen, unserem Schicksal und vor allen den Menschen auf unserem Weg dankbar, mit wie viel Offenherzigkeit, Aufrichtigkeit und Vertrauen sie uns in ihre Häuser, in ihre Küchen, in ihre Töpfe, ihre Leben und mitunter verschwiegensten Geheimnissen Eintritt und Einblick gewähren. Ein anderthalb Meter großer Löffel aus Metall ist unser Begleiter. Niemand, der nicht seinen Namen darauf setzt. Quer durch Asien, durch die Wohnungen, Paläste, Häuser, Zelte, Jurten, den freien Himmel. Der Löffel als Staffelstab. Von einer Hand in die andere. Dieses Buch lädt dich ein, in die Leben der Menschen, denen wir begegneten, einzutauchen. Sie stehen für ihre Kulturen, für ihre Länder und für sich selbst. Sie sind Zeitzeugen und sprechen eine authentische Sprache. Nichts Eingeübtes und auf seine Wirkung Bedachtes. Das nackte, pure Leben. Die Rezepte sind das Sahnehäubchen. Wenn du Lust hast, nimm den Löffel auf, koste von den Geschichten, genieße den Geschmack der Weite und löffele, löffele, vom Lebenshunger nicht satt werdend. Es ist angerichtet.

DEUTSCHLAND


Entenbratenstart mit Schmorkrautmunition.

Punkt zwölf Uhr mittags am fünfundzwanzigsten Dezember. Ich ziehe die Jacke an, lege meinen Schal um den Hals, schlüpfe in die Winterstiefel, öffne die Tür, schließe sie sorgsam hinter mir. Nicht ohne meinen Blick noch einmal schweifen zu lassen. Darüber, was unsere Wohnung ist. Nur kurz, zu lange wäre gefährlich. Also, resolutes Tür Abschließen, Treppe runter, Fahrzeugtür auf und los. Wie los? Wohin? Zum Weihnachtsessen unserer Eltern? Das wäre es jetzt. Was würde ich darum geben. So ein Stück weit vertraute Normalität. Wie man das eben so macht am ersten Weihnachtsfeiertag in Deutschland. Einfach mal tun, was alle tun. Gibt es was dagegen einzuwenden? Normalsein hat was Anziehendes. Plötzlich. Besonders, wenn man selbst gerade vorhat, die Reise seines Lebens anzutreten. Und eben nicht gemütlich die Beine unter Papas Tisch steckt, um knusprigen Entenbraten mit Thüringer Klößen und ostpreußischem Schmorkraut zu verspeisen. Nein, das Restefrühstück muss reichen. Mal sehen, wann es an einer Tanke eine Bockwurst gibt. Die sind auch ganz lecker.

Mein Vater stammt aus Ostpreußen, aus der Nähe Königsbergs, dem kleinen Ort Goldbach. Die Flucht am Ende des Krieges führte ihn in Richtung des Hauptreichs, wie die Ostpreußen das heutige Deutschland damals nannten. Die Familie wurde aufgegriffen und geriet für knapp drei Jahre in russische Gefangenschaft. Die ließ die Zeit lang und unsäglich hart werden, bevor mein Vater als Vogelfreier ohne Papiere in Suhl eintraf. Viel konnten er und seine Familie nicht mitnehmen aus ihrer Heimat, aus Goldbach. Doch eines hatten sie im Gepäck. Ihre Art zu kochen. Von seiner Mutter, einer Köchin auf einem Rittergut, erlernte es mein Vater. So wie zu Hause, war sein Satz dazu. Und mehr gab es auch gar nicht zu sagen. Wenn man erahnt, welche Verzweiflung er durchlebte, als sein Vater in Gefangenschaft als Himmelfahrtskommando Munition aufsammeln musste, die Familie ausgeraubt wurde, vor dem Verhungern stand und später seine Schwester an den Folgen mehrfacher Vergewaltigungen starb. Ich weiß, dass ich die Erlebnisse meines Vaters nie wirklich nachempfinden werden kann. Doch ich habe Hochachtung und Ehrfurcht vor seinem Schicksal. Ich mag es, wenn er erzählt, von damals und wie alles war. In den weiten, lichten Wäldern Ostpreußens, in denen er als kleiner Junge Heidelbeeren sammelte und abends verbotener Weise auf einem Trakehner Pferd nach Hause ritt. Allein, ohne Sattel und Zaumzeug. Halt fand er, indem er seine Hände in die Mähne krallte und die nackten Füße fest an den Körper des Pferdes presste. Mein Spielzeug war für lange Zeit die getrocknete Luftröhre einer Gans, in der eine Holzkugel hin und her rollte, höre ich ihn immer wieder sagen. Wie es ist, als flüchtendes Kind im Pferdewagen beschossen zu werden, wage ich mir nicht vorzustellen. Viel weniger noch, zu sehen, wie die Mitfahrenden im Fuhrwerk vor und hinter einem tödlich getroffen werden. Und ihn selbst nur der Wahnsinnsschrei seines Vaters vom Wagen riss, auf den, Augenblicke später, der Tod bringende Hagel niederging. Momente, in denen Wunden entstehen, deren Narben niemals ganz verheilen. Ein Leben lang nicht. Ein einziges Foto aus den vergangenen Tagen kenne ich von meinem Vater. Ein kleiner Junge mit strohblonden Haaren, der auf einer großen Wiese steht. Das gerettet Foto seiner Kindheit in Ostpreußen. Das Bild meines Vaters aus seinen jungen Tagen für immer in meinem Kopf.

Zu gern sitze ich mit ihm zusammen. Beim Duft aus der Küche des nach seiner Art zubereiteten Schmorkrauts. Das ist für mich jedes Mal ein Blick in seine Vergangenheit. Es bringt mich seiner Kindheit näher. Und so habe ich mich nicht vertan, wenn das Buch über die Küchen der Seidenstraße mit der Geschichte meines Vaters beginnt. Denn meine Zuneigung zum Kochen wurde mir von meinem Vater überreicht. Nun mache ich mich selbst auf den Weg. Will sehen, wie man kocht und isst in den Seitenstraßen der Seidenstraße. Ich steige auf kein Pferd und bin auch nicht auf der Flucht. Doch mulmig ist mir zumute in unserer Minute der Abfahrt. Lange davon geträumt, viel darüber geredet, oft philosophiert und Situationen schon mal durchgespielt. Gepackt, organisiert, abgemeldet, sortiert und schlussendlich von allen verabschiedet. Geherzt, gedrückt, geweint, gelacht, gehofft, gewünscht. Und nun gegangen. Den Duft des Weihnachtsbratens in der Nase nur ahnend wird er Teil meiner Sehnsucht sein, bis ich heimkehre. Irgendwann.


ITALIEN


Schwarzer Espresso am Rande der Po-Ebene.

Glitzernd sind wir umfangen von den Eisblumen an unserer atemverhangenen Scheibe. Wo sind wir? Was suchen wir hier? Und wer sind all die anderen? Stimmen vor dem Leo, unserem MAN LKW, der umgebaut jetzt unser Jahresdomizil sein soll. Kinderstimmen, Frauenrufe, Männerbrummen. Alles durcheinander, aufgeregt. Es scheint um Wichtiges zu gehen. Meine schlafwarme Hand reibt ein Guckloch in die Scheibe. Was ich sehe, sind funkelnde Kinderstiefel mit weißen Strumpfhosenbeinen darin. Oben geht es weiter mit einem pinkfarbenen Spitzenrock und der Blusterjacke, abgesteppt und mit Fellbesatz. So chic die Mädchen, nicht weniger aufreizend die Frauen. Trotz klirrender Kälte wird Dekolleté gezeigt. Stöckelabsätze werden gekonnt im Schneematsch platziert. Ob die das so wollten, als sie stolz im Schaufenster des Schuhladens posierten? Wer weiß schon, wer was wann will und denkt und hofft? Selbst als Schuh. Die Männer eher schlicht. Dunkle, gut geschnittene Jacke zu sorgsam gebügelter Hose. Doch die Haare. Die Haare, die liegen 1A. Da hat der Friseur aber wieder mal richtig gezaubert. Das kann ich sehen und das lässt sich sehen. Und wir? Liegen verknautscht im Bett und sind damit beschäftigt, uns zu wundern. Wollen die tatsächlich alle am frühen Morgen schon zum Weihnachtsfest mit der italienischen Großfamilie aufbrechen? Ganz offensichtlich. Sie wollen. Wir beide brauchen nicht lang, um die Kleiderfolge des Tages abzustimmen. Das anziehen, was ich gestern Abend ausgezogen habe, ist die simple Anweisung meines müden Hirns. Zerknittert und gefaltet steigen wir aus dem Leo. Nichts mit Glitzer und Stöckel und gegelter Frisur. Wir riechen, was unser Begehren weckt: frisch gebrühten Espresso. Eine simple Raststätte irgendwo hinter dem Brenner auf der italienischen Seite. Der graue Schneematsch macht aus frisch schmuddelig und der verhangene Himmel aus Euphorie verhaltene Stille.

Doch der Duft fegt augenblicklich alle Zweifel dahin. Nie und niemals habe ich mich so gefreut, eine Tasse italienischen Espresso vor mir stehen zu haben. Der Geruch lässt mich lachen und zieht neuartige Falten in mein geschwollenes Gesicht. Soll er ruhig.


Kopflos im Nebel Venedigs.

Kochen? Hier? Nicht wir. Das machen andere für uns. Wir sind mal so was von noch überhaupt nicht in der Stimmung, auf Leute zuzugehen, um mit ihnen zu kochen. Kaum reden wir mit uns selbst. Geschweige denn, dass wir den Blick heben, um andere auf uns aufmerksam zu machen. Echt vertrackt, so eine Fahrt ins Ungewisse. Falls ich das bisher nicht gewusst haben sollte. Jetzt ist es mir klar. Schlagartig. Trotz Dezember-Nebel. Ganz schön diesig in der Waschküche Venedig. Die Hand vor Augen sehe ich nicht, als ich den rechten Fuß vor meinen linken setze. Vorsicht, Gondel, denke ich nur kurz und stehe direkt am Wasserrand. Glück gehabt, nicht reingefallen. Gutes Omen, sag ich stumm bei mir. Wie in Watte gepackt stehe ich da. Doch Mist, Watte ist nichts für den feuchten Nebel Venedigs. Futsch alle Opulenz und Würde. Wie ein pitschnasser Vogel in der Abenddämmerung sehe ich aus. Weiß nicht woher, weiß noch weniger wohin. Da ist die Küche Italiens das einzig Rettende für mich. Wer bitte hätte das gedacht? Dass ich mich einmal in die warme Kammer eines spärlich beleuchteten Restaurants flüchte, um mir einen Wein nach dem andern einzuhelfen? Vom Guten natürlich. Anders nicht. Der macht meine Gesichtszüge weicher und meine Gedanken gefälliger. Was wir essen? Oh, echt, ich weiß es nicht. Pasta? Pizza? Oder beides? Ich bekomme es weder mit, noch hat es den Klacks einer Bedeutung heute Abend für mich. Nur eins ist mir wichtig. Ich fühle mich gut aufgehoben in der Wohligkeit der Küchendüfte. Ganz so, als sei ich gemütlich zu Hause. Werde bekocht, verwöhnt, muss mich um nichts kümmern, kann Häufchen Unglück spielen, so lange ich will. Keiner fragt, keiner sagt etwas. Und wenn die Watte wieder trocken ist, dann geht es wieder los mit der Weiterfahrerei auf große Tour. Ob es Marco Polo eigentlich auch so ging, damals, als er sich auf den Weg machte? Vielleicht hat er es nur keinem erzählt und ich tue es nun nachträglich für ihn. Ist ja lang genug her und ein Zacken bricht mir nicht aus der Krone, wenn es darum geht, zuzugeben, dass das mit dem ganzen Reisevorhaben schon eine gewaltige Nummer ist. Und heute ist erst einmal Tag Eins von Unendlich.

 

GRIECHENLAND


Athen, Athen, wir fahren nach Athen.

Klirrende Kälte um mich herum. Meinen Fuß unter der Bettdecke hervorzuschieben, was für eine Überwindung. Licht fällt spärlich herein, hier in den hintersten Winkel eines Werkstatthofs. Zu freundlich der Mann gestern Abend, uns hier einen Stehplatz zu gönnen, zwischen den rostigen Ersatzteilen und halben Fahrzeugen, die auf ihre bessere Hälfte warten. Andernfalls hätten wir uns wohl für die Lufthaken-Variante entscheiden müssen. Denn Raum für unseren Leo, den gibt es hier einfach nicht. Athen, bist du nicht immer schweißig schwül, vom Smog der Abgase überzogen? Kollabieren die Reisenden hier nicht haufenweise in der Hitze deiner Häuserschluchten? Habe ich da irgendetwas verwechselt oder geht es gar um einen ganz anderen Ort? Die Kälte der Nacht hat meine Augen zu Bällen anschwellen lassen. Na, auch egal. Ziehe ich den Schal eben gleich übers ganze Gesicht. So muss ich mich nicht sehen und den anderen erspare ich mich auch gleich mit. Was da knackt, sind unsere Gelenke, die beim Gehen versuchen, in Form zu kommen. Doch die Temperaturen sind nicht wirklich abgestimmt auf die Art unserer Schmiermittel. Da lag offensichtlich ein Missverständnis vor, als ich die Fettung für Griechenland aus dem Regal zog. Okay, es ist, wie es ist. Und irgendwas ist immer. Trotz vereister Empfindungen funkelt etwas in mir, was nicht die Eiskristalle auf den Fahrzeugscheiben sind. Meine Vorfreude glitzert mich an. Ich bin in Athen, um die Akropolis zu sehen. Dieses Wort treibt mir Freudentränen in die Augen. Die ich sogleich als Eiszapfen abknicke und lutsche. Griechenland scheint mir das Land der großen Namen zu sein. Sparta, Olympia, Korinth und eben auch Athen mit seiner Akropolis. Geschichte pur. Als blättere ich in diesen Tagen in Europas dickem Geschichtsbuch. Sitze mittendrin, lese mich hier mal fest, bleibe mit meinem Blick an dem einen oder anderen Foto hängen. Und winde mich geschickt von Seite zu Seite. Obacht gebend, dabei nicht aus dem Buch herauszufallen. Heute nun also die Seite mit der Akropolis. Seit meiner Jugend bewegt mich der Gedanke, eines Tages den Berg zu erklimmen, auf dem das Bauwerk der lang verflossenen Zeit steht. In meinen Kindertagen sah ich Bilder eines Freundes der Familie, dem es trotz Zaun um die DDR gelungen war, eine Reise zu diesem unglaublichen Bauwerk anzutreten. Damals für mich unerreichbar, schürten die Erzählungen mein Feuer der Sehnsucht. Ich und die Akropolis. Wie so oft im Leben kommt alles anders als wir denken. So laufe ich nun also nicht in Lederriemen-Sandalen und wehenden dünnen Tüchern durch die Stadt. Doch ich bin hier und das ist gewaltig. Ein warmer Toast und heiße Schokolade schaffen es sogar, das Lächeln in meinem Gesicht zu installieren.

Und dann geht es los. Auf die Knie könnte ich fallen, wenn meine dicke Winterhose mich nicht daran hindern würde, jetzt, da die Sonne hinter den Schneewolken hervorgekrochen kommt. Stahlblau der Himmel. Blau meine Augen und glücklich. Vergessen die Kälte, die nächste nahende Wolke voller fetter Schneeflocken und weitere Sturmattacken verdrängt. Wir stehen im Schutz der Akropolis. Anhaben kann uns hier kaum etwas. Das Amphitheater am Fuße des Berges. Fußball könnte ich spielen, mit den unzählbar vielen schmuckbehauenen Steinen. Sie liegen im Gras, auf den Wegen, türmen sich zu kleinen Haufen, bilden Mäuerchen und Gassen. Was die wohl mal alles waren? Kapitelle, Treppenstufen, Hausfassaden oder Giebelenden. Ihre großen Momente scheinen vorbei, doch ihre Rätsel bleiben. Als schwatzten sie prahlend von den guten alten Zeiten liegen sie verschwörerisch aneinandergerückt.

Meter für Meter winden wir uns den Berg hinauf. Dem Eingangsportal zum Greifen nah. Meine Brust weitet sich, der kalte Atem fließt frei, mein Blick wird offener. Selbst die Augenschwellung zieht sich demütig zurück. Sie macht dem Staunen Platz, im Angesicht der goldgelb strahlenden Steine des Athena-Tempels. Nicht minder der Bann, in den mich der Nike-Tempel zieht. Fast möchte ich sagen, dass es kein besseres Wetter für uns an diesem Ort hätte geben können. Die Luft zum Schneiden klar. Das Sonnenlicht bricht sich an jedem noch so exakt abgestimmten Winkel, schenkt den versteinerten Frauenhüften schmeichelndes Licht und lässt die von empfindsamen Bildhauerhänden gemeißelten Gesichter in ihrem schönsten Profil erstrahlen.


Auf den ehemaligen Straßen wandeln wir umher, als trügen wir weiße weite Gewänder, philosophierend miteinander ins Gespräch vertieft. Ich glaube fast, einer von uns trüge einen Lorbeerkranz auf seinem Kopf. Wenige sind es, die sich an diesem Morgen mit uns tummeln. Uns ist es nur recht. So tanzt unsere Phantasie allein um uns herum und tritt niemand anderem auf die Füße. Ich bin da gewesen, werde ich ab jetzt sagen. Ich habe das Bild in mich aufgesogen, mein eigenes. Ich habe ein hauchdünnes Gefühl entwickelt, wie es ist, das Leben im Licht und Schatten der Akropolis. Meine Freude ist groß und angereichert mit Wissen und Fakten. Und doch bin ich meinen Nächten dankbar, die mir fast fünfzig Jahre lang einen immer gleichen Traum bescherten. Meinen Traum von Athen und der Akropolis. Hat der sich nun ausgeträumt? Schade eigentlich.

Im Leo liegt sicher verstaut der sorgsam in die Sprachen unserer Reiseroute übersetzte Erklärtext zu unserem Kochprojekt. Wir sind Ede und Sten. Wir kommen aus Deutschland und möchten mit dir zusammen dein Lieblingsrezept kochen…, steht da unter anderem geschrieben. Doch in echt möchten wir gerade gar nicht. Sonst meist kontaktfreudig und neugierig auf andere zugehend, erleben wir uns in diesen Tagen eher schweigsam in unsere dicken Winterjacken gehüllt. Wir schauen niemanden an. Wie uns im gleichem Maße vermutlich wenige Blicke streifen. Die Zeit wird kommen, so hoffen wir, in der sich der Panzer um uns öffnet und wir mit wildfremden Leuten an deren Tischen sitzen. Doch das ist hier kein gefaktes Kochprojekt. Das ist das pure Leben. Ohne Drehbuch und Regie. Obwohl es seinen ganz eigenen Spannungsbogen zu haben scheint. Warten wir es ab.

Hier gibt es auf jedem Fall ein leckeres Rezept von den besten gegrillten Tintenfischen, die wir genüsslich verzehren, an diesem so kalten Tag in Athen.

Fotos