Faszination

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Elenore May

Faszination

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1

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6

7

Impressum neobooks

1

Zu dieser frühmorgendlichen Stunde, noch nicht Tag, aber auch nicht mehr ganz Nacht, schlief die Stadt noch; die Straßen und der Gehsteig waren wie leergefegt. Nur sie beide waren unterwegs – sie, diese schöne Unbekannte, und er, ein Mann mittleren Alters, der ihr im Abstand von wenigen Metern folgte. Trotzdem blieb sie gelassen; selbst das Klacken seiner Absätze auf dem Pflaster schien sie weder zu stören noch zu hören: Keine Unsicherheit konnte er an ihr feststellen; keinen beschleunigten Gang, kein hektisches sich Umdrehen oder fahrige Bewegungen.

Vollkommen entspannt lief sie vor ihm her, diese junge Frau im blauen Kleid aus matt schimmernder Seide. Zumindest vermutete er, es müsse wohl Seide sein; wie eine zweite Haut lag das Material an ihrem Körper, quittierte den aufreizenden Schwung ihrer Hüften mit kleinem Faltenspiel in der Taille, floss weiter über den Po und modellierte die langen Beine bis zu den Knien nach. Nur für einen Augenblick verfing sich das Kleid in der Pofalte, um anschließend ihren Körper wieder fließend zu umschmeicheln.

Ein bis zur Taille reichender ovaler Ausschnitt im Rücken, an seinen Seitenrändern wie ein Schal weich geschwungen, ließ ihn denken „sehr reizvoll. Das wirkt wie ein geheimes Sichtfenster, fast schon voyeuristisch. Da macht die elfenbeinfarbene Haut dahinter um so neugieriger ...“ Zugleich stellt er fest „unter dem Kleid trägt sie anscheinend nichts; keine Druckstellen sind zu sehen, alles glatt und eben – nur die sich geschmeidig bewegenden Muskeln sind zu erahnen - mutig, diese Frau.“

Sein taxierender Blick wanderte weiter zu ihren Füßen. Blassrosa Riemchenpumps mit hohen Absätzen verliehen ihrem lässigen Gang eine herausfordernde Grazie, sicher setzte sie ihre Schritte und wippte jeweils ein bisschen nach.

„Okay, jetzt nochmal zurück zum Gesamtbild“, sagte er sich, verzögerte seinen Schritt und betrachtete sie mit etwas mehr Distanz. Auf der rechten Schulter hing eine kleine Umhängetasche im Farbton der Schuhe, den Kopf trug sie selbstsicher erhoben, die goldblonden Haare rieselten in weichen Wellen spielerisch, nach sanftem Knick auf den Schultern, den Rücken hinab; und ihre Arme pendelten locker im Gleichklang mit dem Schritt.

„Sie bewegt sich wie ein großes Raubtier; ein perfektes Zusammenspiel des gesamten Körpers – einfach grandios!“, dachte er bewundernd.

Warum diese Frau so gelassen unterwegs war, konnte er sich nicht erklären. Sie vermittelte in ihrer Haltung den Eindruck, als gäbe es den Begriff „Vergewaltigung“ nicht; oder sie war ein vollkommen angstfreier Mensch; und das in der Großstadt, nachts um halb vier. Das machte ihm zu schaffen; und noch wusste er auch nicht, wie er sich verhalten, was er tun sollte. „Sie ansprechen? Das wäre eine Option. Über sie herfallen? Absolut lächerlich.“

2

Warum ER sich zur nächtlichen Stunde auf der Straße herumtrieb, hatte einen einfachen Grund: Seine Wohnung lag im Zentrum des sogenannten Künstlerviertels der Stadt; und da sich die Nacht geradezu südländisch gebärdete, wachte er wegen der aufgestauten Hitze um drei Uhr auf. Sein zum Loft ausgebauter Speicher im alten Patrizierhaus speicherte unter dem Spitzdach die Wärme so nachhaltig, dass es sich anfühlte, als schliefe er in einer Sauna. Und da sich auch keine Lüftchen rührte, war ab einem gewissen Zeitpunkt an Schlaf einfach nicht mehr zu denken.

Erst drehte er sich noch ruhelos hin und her, versuchte den Schlaf zu erzwingen, und hörte genervt den nächtlichen Klängen der Großstadt zu, dem ausgelassenen Treiben der Nachtschwärmer. Und obwohl für ihn nächtliche Hitze und Geräusche nichts Ungewöhnliches waren – seine eigentliche Heimat lag im Süden, wo flirrende Schwüle in den Sommermonaten als normal gilt und das Schnarren der Zikaden die Untermalung dazu bietet - fühlte er sich massiv gestört.

Doch das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Warum er sich tatsächlich ruhelos im Bett wälzte, hing mit einem unerfreulichen Tagesgeschehen zusammen: Ein Kritiker hatte sich in einem zweispaltigen Artikel mit sarkastischem Ton über seine zuletzt ausgestellten Bilder geäußert; hatte ihm attestiert (natürlich in wohl gesetzten Worten), dass seiner Kunst in den letzten zwei Jahren etwas Entscheidendes fehle. Seine früher so bombastische Ausdrucksfähigkeit in Form und Farbe werde zunehmend flach, sie hätte nicht mehr die Kraft und Größe, die noch in den Bildern davor zu finden war. „Mehr auszusagen traute er sich dann doch nicht, mit einem international anerkannten Maler sollte man es sich als kleiner Schreiberling nicht unbedingt verderben ...“ Wie er sich etwas hämisch dachte.

Jedenfalls, diese Sache ärgerte ihn insgeheim immer noch, ließ ihn nicht schlafen und so beschloss er endlich, sich in die laue Nacht zu begeben; vielleicht beruhigten sich dann seine Nerven etwas.

Hellwach und erstaunlich frisch fühlte er sich, als er vor die Türe seines Hauses trat. Er entschied, sich dem Tross einiger junger Leute anzuschließen, die vergnügt lärmend auf den Eingang eines 'In-Lokals' zustrebten. Unauffällig mischte er sich unter sie und kam so, quasi in deren Windschatten, am Türsteher vorbei. Normalerweise war er kein Freund dieser Kategorie von Lokalen, sie stießen ihn in ihrer Oberflächlichkeit ab. Doch diese Nacht mit ihren brünstigen, irgendwie verheißungsvollen Düften holte auch ihn ein; sie ließ in seinem Kopf nebulöse Fantasien entstehen, die sich sein im Alltagsleben mittlerweile zu rationaler Verstand nicht mehr zugestehen wollte.

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