Senioren im Netz: Spiel und Spiegel

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Senioren im Netz: Spiel und Spiegel
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Edith Zeile

SENIOREN IM NETZ
Spiel und Spiegel

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Eingetragene Warenzeichen sind Eigentum

der jeweiligen Rechteinhaber!

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Kapitel I

Seniorbook – Spiel, Spiegel, Bewusstseinsschmiede

Höhenflüge und Abgründe – Erfahrungen bei Seniorbook

Seniorbook – aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters

Kapitel II

Begegnung mit Büchern

Roads: Durch die Sphären des Zeitlosen

Das Wunder von Findhorn

Liebe und tu, was du willst – Meine Begegnung mit der Schriftstellerin Luise Rinser

Paulo Coelho – per aspera ad astra

Die Frau, die Nein sagt: Francoise Gilot

Haruki Murakami – mein japanischer Autor

Haruki Murakami und die Pforten der Wahrnehmung

Gunter Sachs und die Astrologie

Warum ich die Sterne so liebe

Kapitel III

Spiritualität oder Religion?

Über Philosophie und Philosophen – ein Dialog

Was ist ein Genie?

Was ist ‘wissenschaftlich’?

Stanislav Grof – Begründer der Transpersonalen Psychologie

Über die Vielheit

Was ist Leben?

Über die Wortwahl von Humanisten

Was ist ein Gedanke?

Die Glaubwürdigkeit von ‘Gottestexten’

Umgang mit Verletzungen

Was ist eine Koinzidenz? – Ein Dialog

Über die Bosheit

Gehirnwäsche

Gott ist nicht über den Wolken – er ist in dir

Was ist der Mensch?

Aufgestiegene Meister

Astrologie

Über die Liebe

Die Frau – die Krone der Schöpfung

Über die Arbeit

Über das Leid in der Welt

Was sind böse Geister?

Ist der Kriya-Yoga der schnellste Weg zur Erleuchtung?

„... und Tod wird nicht mehr sein.“

Über das Leben nach dem Tode

Über das Alter

Über die Liebe

Über Kommunikation

Die sieben geistigen Prinzipien

Von der Vielzahl der Götter

Über Nächstenliebe

Indien: Ein Thema mit Variationen

Die An-Wesenheit Gottes

Grenzgänger (Teilhard de Chardin) und Höhlenbewohner (Platon)

Kapitel IV

Die politische Lage

Zukunftsgedanken

Nachtgedanken

Blick in die Zukunft

Zum Flüchtlingsproblem

Über solche und andere Flüchtlinge

Clash der Kulturen – Terrorismus – was tun?

Wie lässt sich das Flüchtlingsproblem lösen?

Flüchtlinge

Kapitel V

Herbst-Gedichte von Rainer Maria Rilke

„Frühlingsglaube“ – Interpretation eines Gedichts von Ludwig Uhland

Gedichte

VORWORT

Das Jahr bei Seniorbook war anregend und aufregend. Viele Online-Erfahrungen hatte ich noch nicht: einen AOL-Chatroom, ein Philosophie-Forum, einen Zeitungsblog, Facebook hatte ich als langweilig empfunden. Den Mangel an sinnlichen Merkmalen, Stimme, Gestik, Spontaneität des Ausdrucks bedauerte ich. Die Welt hinter dem Glas schien ohne Leben zu sein.

Im Dezember 2013 entdeckte ich bei Facebook einen Hinweis auf Seniorbook, und es war Liebe auf den ersten Blick. Ich war fasziniert: Da war pralles Leben auf hellen bunten Seiten, Anregungen, Gespräche, ein freundliches Miteinander. Ich fasste den ersten Eindruck geradezu enthusiastisch in dem Beitrag „Seniorbook – ein Geschenk an die ewig jungen Alten“ zusammen.

Ein paar Monate später, mitten im Gewimmel der vielen Lesenswert – und Sehenswert-Bekundungen, den wechselnden Profilbildern, den provozierenden Posen auf der Fotowand, überfiel mich die Erinnerung an Thackerays Sittenroman „Vanity Fair“.

So schrieb ich, ein wenig ernüchtert: „Seniorbook – Jahrmarkt der Eitelkeit“.

Im Mai setzten plötzlich die ersten Angriffe auf meine Person ein, vielleicht ausgelöst durch meinen Profilspruch „Alles verstehen heißt alles verzeihen“ (Augustinus). Da ich keinen Hehl aus meiner christlichen Lebenseinstellung machte, tauchte plötzlich eine Gruppe von Widersachern auf, so dass sachliche Gespräche unmöglich wurden. Es endete immer in einem verbalen Gemetzel, wobei die einzelnen Teilnehmer gar nicht wussten, dass ihre Ansichten die Bewusstseinsstufe verrieten.

 

So schrieb ich genervt den 3. Beitrag: „Seniorbook – Leiden und Leidenschaften“.

Seniorbook hat einen Spielplatz für ältere Leute geschaffen, mit erstaunlichen Angeboten, vom Sandkasten bis zur Rutschbahn. Der Spielplatzbetreiber muss lediglich die Geräte nutzungsgerecht zur Verfügung stellen. Ob jemand von der Schaukel herunterfällt, kann dem Betreiber nicht angelastet werden. Die Besucher des Spielplatzes erschaffen sich ein Paradies oder die Hölle.

Früher habe ich das Leben online für einen blassen Abklatsch des wirklichen Lebens gehalten. Das ist absolut falsch.

Die Technik erweitert, vervielfältigt, intensiviert, verfeinert, vergröbert das wirkliche Leben. Statt 10 Personen lernt man 100 in einem Jahr kennen, statt 10 Fragen am Tag beantwortet man 100 – vielleicht durchaus oberflächlicher.

Man spielt nicht nur 1-3 Rollen – Hausfrau, Mutter und Lehrerin – sondern mehrere am gleichen Ort zur gleichen Zeit. Chamäleongleich schwebt man vom Schwarzen Brett, wo man zu einem Protestmarsch gegen Pegida aufgerufen hat, zur Dichterin und Malerin in den entsprechenden Werkstätten, nimmt nebenbei Stellung zur päpstlichen Weihnachtsansprache in der Themenwelt und schlüpft schließlich in ein rosa Négligé, um an der Fotowand sehnsüchtige Blicke der Männer auf sich zu ziehen.

Ebenso multipliziert sich die Anzahl der aggressiven Menschen, die einem bei SB über den Weg laufen. Da werden fast täglich Anklageschriften ans Schwarze Brett genagelt, um sein seelisches Gleichgewicht wieder zu finden.

Die Kunst der Verteidigung muss eben auch irgendwann gelernt werden.

Viele verlassen endgültig den Sandkasten, wenn jemand ihnen ständig Sand in die Augen wirft. Andere suchen sich vielleicht eine Schaukel, fliegen hoch in die Luft und spielen fortan den unbeteiligten Zuschauer. Mich macht Seniorbook kreativ. Ich habe innerhalb eines Jahres fünfzig längere Beiträge über verschiedene Themen geschrieben, die nun Inhalt dieses Buches sind.

Vielleicht findet der Leser in dieser breit gefächerten Auswahl von Themen hie und da auch etwas, was ihn interessiert.

Edith Zeile am Ende des zweiten Jahres bei Seniorbook im Dezember 2015

KAPITEL I
Seniorbook – Spiel, Spiegel, Bewusstseinsschmiede

Das Thema ist unerschöpflich! Hatte ich im vergangenen Jahr, meinem ersten aktiven Jahr auf dieser Plattform, hintereinander vier Beiträge über Seniorbook geschrieben, so erwog ich zur Jahreswende ein Innehalten, einen kontemplativen Rückzug, eine Rückkehr zu realen Hobbys, Unternehmungen und Abenteuern.

„Doch es irrt der Mensch, solang er strebt.“ (Goethe)

War mein Fazit nach einem Jahr recht enthusiastisch ausgefallen, so enttäuschten mich doch die Reaktionen in meiner realen Umwelt, d.h. meiner Familie, meinem Freundeskreis. Kein einziger zeigte sich neugierig oder gar interessiert, alle rümpften insgeheim die Nase: „… was, auf so etwas lässt du dich ein ...? Was versprichst du dir denn davon ...? Hast Du so viel Zeit für diese seichte Unterhaltung …?“

Ich erwähnte die Tatsache, dass es zum 21. Jahrhundert gehört, in einem sozialen Netzwerk unterwegs zu sein, eine Errungenschaft des Wassermann-Zeitalters, das uns die 3 humanistischen Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit neu in Erinnerung ruft, geradezu propagiert, indem es vielfältige zwischenmenschliche Kontakte beschleunigt und für Behinderte oft erst ermöglicht.

Ich wies darauf hin, dass ich mit einer auf den Rollstuhl angewiesenen Frau im Norden Deutschlands eine enge Beziehung eingegangen sei, dass wir nicht nur Gedanken, sondern auch Bücher austauschten, dass ich die Lebensbejahung und Vitalität dieser Frau mit vier Kindern, Männern und Studium nur bewundern konnte … man nickte gelangweilt.

Ich erwähnte die Beschleunigung und Vielfalt der Kommunikation bei Seniorbook. An einem Tag könnte man mit sehr viel mehr Menschen kommunizieren, auf unterschiedlichen Bildungsebenen, mal humorvoll, mal kritisch, mal staunend.

Nietzsche sagt: „Wenn man viel hineinzustecken hat, hat ein Tag tausend Taschen.“ Da Zeit im Alter zunehmend kostbarer wird, will man sie möglichst optimal nutzen. Das ist bei Seniorbook möglich.

Der dritte Vorteil eines Netzwerks ist die Erweiterung des räumlichen, intellektuellen, emotionalen Horizonts.

Frage ich eine reale Freundin nach dem Weltfrauentag, weiß sie mit Sicherheit weniger als ich, die ich mich durch zahlreiche Beiträge und Notizen auf den neuesten Stand gebracht habe.

Die enorme Expansion der Kommunikationsmöglichkeiten ist wie eine Gehirndusche beim Frühstück. Seit ich bei Seniorbook bin, frühstücke ich am PC :-)

Sicher bin ich nicht die einzige, denn viele holen sich hier den Frischekick für den Tag. Man lacht über und mit. Lachen ist neuerdings wieder als Therapieform entdeckt worden. Es führt zu einer emotionalen und physisch sichtbaren Verjüngung!

Und wer wollte die Geistesblitze, vor allem der männlichen User, nicht als Gehirnjogging oder Gehirn-Yoga ansehen. Wenn z.B. Prof. Bayreuther, Koryphäe für die Alzheimer Krankheit, hier in Heidelberg öffentlich erklärt, man solle beim Zähneputzen abwechselnd auf einem Bein stehen, dann sind wir selber ja die reinsten Gehirnakrobaten. Wir werden nie dement!

***

Um aber das Thema nicht zu verfehlen – was hier gelegentlich als größter Fauxpas angesehen wird und zu völlig überflüssigen Löschorgien führt –, sollte ich noch etwas über die drei definierenden Substantive der Überschrift sagen.

SPIEL:

Wer spielt, bleibt immer jung. Am Schwarzen Brett wird viel gespielt. Auch ‚Mensch, ärgere dich nicht’, leicht abgewandelt.

Die eindeutig beliebtesten Spiele sind ‚Hasch mich’ oder ‚Versteck dich’. Narrenkappen gibt es hier umsonst für das ganze Jahr, nicht nur zur Karnevalszeit.

Auch von Natur aus ‚unheitere’ Menschen können wenigstens staunen lernen, was immerhin eine gute Vorstufe auf dem Weg zur Selbstverwirklichung ist. Auch wenn die wenigsten, die sich hier tummeln, so ein umständliches Wort je gehört hätten :-).

SPIEGEL:

Seniorbook ist natürlich nicht nur Spielplatz oder Spielwiese oder Lust-Spiel. Die präzise Definition dieser 3 Begriffe überlasse ich gern meinen diesbezüglich erprobten Mit-Spielern.

Nein, Seniorbook ist auch unser aller Spiegel.

Warum der liebe Gott sich geteilt hat, ist ja schon den meisten bekannt. Er wollte einen Spiegel für sich haben. Was sollte ein Bewusstsein schon mit sich selber anfangen? Die Idee eines Häretikers? Mitnichten.

Wir brauchen alle einen Spiegel, im Bad für den Körper, bei Seniorbook und im Leben schlechthin für den Charakter (Seele).

Warum sind Beziehungen zwischen Männern und Frauen so absolut notwendig? Weil jeder dem anderen ein Spiegel ist, manchmal ein trüber, aber ein bisschen erfährt jeder über sich selbst in einer engen Beziehung, nicht nur über den anderen.

Und nun haben wir bei Seniorbook die Möglichkeit, wie im Spiegelsaal von Versailles herumzuspazieren und die anderen zu begutachten – nein, weit gefehlt, um uns selber besser kennenzulernen.

Was war ich doch für eine naive und selbstverliebte Person, als ich den Profilspruch „Alles verstehen, heißt alles verzeihen“ (Franz von Assisi) im Dezember 2013 wählte!

Es dauerte auch gar nicht lange, bis sich jemand aufgerufen fühlte, diesen kühnen Anspruch von mir zu hinterfragen. Etwa zwei Monate lang herrschte öffentlich und hinter den Kulissen erbitterter Streit.

Da merkte ich erst, dass man sich nicht ungestraft mit den Worten eines Meisters schmücken durfte, obwohl ich es ja auch nur als ‘Zukunftsvision’ gewählt hatte.

H. ist seither verschwunden. Er hat ja auch getan, was er in Bezug auf mich zu tun hatte.

BEWUSSTSEINS-SCHMIEDE

Die Härte, die sich in diesem Begriff ausdrückt, fasziniert und schockiert mich gleichermaßen.

Ein Schmied behandelt sein Eisen mit Feuer, damit es formbar wird. Auch Menschen werden im Laufe ihres Lebens, meist durch Leid und Schmerzen, ge-formt, ver-formt, manchmal sogar trans-form-iert.

Wenn ich meine Erfahrungen bei Seniorbook und im wirklichen Leben vergleiche, kann ich tatsächlich erkennen, dass der Prozess der Umformung durch die Vielfalt der Begegnungen, die Beschleunigung der Kontakte und die Erweiterung des persönlichen Lebensraums bei Seniorbook tatsächlich einer Bewusstseins-Schmiede gleichkommen kann. Dies lässt sich an den Reaktionen der Umwelt gut erkennen.

Ich bin weniger emotional und dadurch weniger verletzlich geworden, Ich schlage meine Feinde nicht mehr in die Flucht, sondern bitte insgeheim um Verständnis, und ich bin, soweit man sich selber sine ira et studio beurteilen kann, extrem tolerant geworden.

Der Satz, „Jeder kann nur sein, was/wie er ist“, ist meine Grundüberzeugung geworden, die Erwartungen dämpft, Enttäuschungen ausschließt und inneren Frieden gewährleistet.

Nicht jeder muss sich neue Hufeisen anpassen lassen. Seniorbook erlaubt Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und passt deshalb so ausgezeichnet ins Wassermann-Zeitalter.

Höhenflüge und Abgründe – Erfahrungen bei Seniorbook

Obwohl ich einen Beruf hatte, der mich täglich mit Menschen aus aller Welt zusammenbrachte, obwohl ich viele Reisen gemacht und lange Zeit in fremden Ländern verbracht habe, obwohl ich einmal den Menschen für das interessanteste Studienobjekt gehalten habe, muss ich nach anderthalb Jahren bei Seniorbook feststellen, dass es mit meiner Menschenkenntnis nicht so weit her ist.

Aber bei einem so harten Urteil mir selbst gegenüber möchte ich nicht stehenbleiben.

Ich suche nach Gründen, warum ich plötzlich so viele Feinde habe. Vielleicht liegt es daran, dass man im realen Leben eine Auslese trifft: Man hat eine Familie, Freunde, Bekannte, die ähnliche Interessen und eine ähnliche Lebenseinstellung haben. Natürlich begegnet man auch Fremden, im Urlaub, bei öffentlichen Veranstaltungen, auf Reisen, aber diese Kontakte sind meist zeitbegrenzt. Gab es denn nicht schon früher böse Überraschungen, Betrug oder Diebstahl?

Ja, da fällt mir eine Begegnung in einer indischen Bank ein, Ich kannte Herrn A. Seine Tochter wollte gerade heiraten, und oft verschulden sich die Brauteltern bis zum Ende ihres Lebens. Herr A. bat mich um ein Darlehen. Irgendwie tat er mir leid. Das Geld, 3000 DM, sah ich nie wieder, denn kurz darauf verschwand die Familie aus der kleinen Stadt und ging in dem riesigen Ameisenstaat Indien unter.

Aber solche negativen Erfahrungen waren doch recht selten.

***

Seniorbook, ein auf eine Altersgruppe eingeschränktes soziales Netzwerk, war Neuland für mich. Zwar hatte ich schon ein paar Erfahrungen in speziellen Foren, aber meine Beteiligung dort löste nie Verleumdungen, Hasstiraden, Stalking oder bissigen Spott aus.

Dabei hatte ich mir bei Seniorbook eigentlich nur Anregungen, Inspirationen, interessante, durchaus kontrovers geführte Diskussionen und Erweiterung des eigenen Horizonts gewünscht.

Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit fand ich meinen ganz speziellen Platz in der Themenwelt und schrieb viele Beiträge in der Rubrik ‘Philosophie und Religion’.

Hier glaubte ich, Erfahrungen und Erkenntnisse eines langen Lebens weitergeben zu können, und genau das war schon ein großes Ärgernis.

Jeder, der eine christliche Orientierung hat und sich daneben nicht mit der Züchtung von Kaninchen, sondern z.B. mit Astrologie beschäftigt und offen und unbekümmert darauf Bezug nimmt, läuft Gefahr, verspottet und als psychisch gestört an den Pranger gestellt zu werden.

Es genügt, dass einer zum Marsch bläst, und schon eilen andere herbei, um die Hetzjagd effizienter zu machen.

Das Dilemma ergibt sich daraus, dass die eine Gruppe Waffen einsetzt und die andere eigentlich darauf verzichten möchte, weil es ihrer Vorstellung vom Umgang miteinander nicht entspricht.

So ist von allem Anfang an die Ungleichheit der eingesetzten Mittel vorhanden.

Eine der farbigsten, interessantesten Persönlichkeiten hat vor Kurzem wortlos Seniorbook verlassen. Ein großer Kreis hat das bedauert, andere haben ihren Triumph gefeiert. Es war ein Pfarrer.

***

William Somerset Maugham, dessen Hauptwerk Of Human Bondage (Von menschlicher Sklaverei) ich vor Jahren mit großem Interesse gelesen habe, sagt darin, der Mensch sei „a hotchpotch of greatness and littleness“ – eine kuriose Mischung aus Größe und Trivialität.

 

Damals fand ich das recht originell. Heute – nach meinen Erfahrungen bei Seniorbook – sehe ich darin eher einen Euphemismus, eine literarische Beschönigung der Tatsache, dass Menschen häufig genug auf die Stufe von Un-Menschen herabsinken können.

Hier muss man sich wegen seiner individuellen Einzigartigkeit verteidigen. Hier muss man mit dem Platzhirsch übereinstimmen, wenn man nicht auf die Hörner genommen werden will. Eine Frau darf natürlich ihre körperlichen Reize zur Schau stellen, aber eine eigene Meinung sollte sie nicht vertreten.

Auch am Schwarzen Brett finden täglich Massaker statt, und wenn man sich verspätet einklinkt, haben schon Löschorgien stattgefunden.

‘Dreiecken’ ist nicht etwa eine neue Rechenart, sondern entweder ein böses Verleumdungsmodell oder ein Rettungsring für die andere Seite.

***

Vielleicht ist Seniorbook eine Art Online-Gefängnis, wo alle eine Strafe verbüßen müssen. Man trifft sich dauernd, kettet sich aneinander, ist frustriert, dass man von dem oder jenem nicht das bekommt, was man will, was immer das auch sein könnte, und am Ende möchte man nur weg – kann aber nicht, weil man gefangen, d.h. süchtig ist.

Schade, dass die gleißende Barriere den Online-Gefangenen nicht erlaubt, sich einmal in die Augen zu schauen und sich die Hand zu geben. Sich zu versöhnen. Sich als ganzen Menschen zu erleben.

Seniorbook – aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters

Ein soziales Netzwerk ist das, was es ausdrückt: ein Netz für soziale Zwecke.

Wer sich einfangen lässt, ist selber schuld, bzw. braucht es, um in einer größeren Gemeinschaft sein Wesen als Einzelgänger besser kennenzulernen.

Ein Netzwerk ist wie ein Spiegelsaal, z.B. in Versailles, wo sich der Einzelne in Spiegeln von allen Seiten sehen kann, manchmal verzerrt, manchmal extrem klar, manchmal absolut mangelhaft.

All das führt zu einer Selbstentdeckung, die im normalen gemächlichen Leben mit einer vom Einzelgänger ausgesuchten Gesellschaft nicht möglich ist.

Die neue Sucht, Selfies zu machen, ergibt sich natürlich daraus. Man möchte wissen, wer man ist und wie man bei anderen ankommt. Selbstzweifel ist eine der Hauptursachen, warum jemand in ein solches Netzwerk einsteigt.

Manchmal auch eine übersteigerte Selbstliebe, denn man kommt, stellt sich vor, diskutiert, zeigt sich von seiner besten Seite, auch Rückseite :-) und bittet um Anerkennung.

Im Mittelpunkt stehst du, du und sonst niemand.

Das Spiel ist überall dasselbe. Wir kennen uns nicht, wir möchten mehr über uns wissen, wir möchten geliebt werden, wir möchten uns selber erkennen, wir möchten von andern erkannt werden – ein Spiel, das täglich aufs neue mit immer neuen Varianten gespielt wird.

Mitunter verhaken sich zwei oder mehr und es kommt zu einem Gerangel. Eine Hydra erscheint, man hackt ihr den Kopf ab, und es erscheinen neue Köpfe. Ihr nennt das Troll oder Fake oder verlasst den Spielplatz empört, dass jemand sich anmaßt, euch zu verspotten, eure unschönen Seiten zu sehen.

Man will – wie früher bei Mama (und Papa) – verhätschelt werden, später ernst genommen werden, man will jemand sein, den es sonst nirgends mehr gibt. Welches Alleinstellungsmerkmal hat man? Hat Ilse oder Peter oder Marianne?

Geht es um andere Werte? Ja und nein. Es gibt auch ein paar seriöse Stellungnahmen, ein paar politische Analysen, ein paar flehende Appelle um etwas mehr Menschlichkeit etc. Die ganze Palette menschlicher Eigenschaften, der ganze Gefühlshaushalt wird bedient.

Man bleibt im Spielfeld. Das ist die Hauptsache. Denn man sitzt oft im Abseits im realen Leben. Auf der Ersatzbank oder einem Abstellgleis. Vielleicht in der Sozialstation eines Bahnhofs. Man weiß gar nicht, wohin man im Leben fahren sollte. Man erwartet vielleicht eine Hinfahrkarte zu einem lohnenden Ziel. Einige warten darauf, aber niemand verschenkt solche Karten. Man muss sie sich schon selber kaufen. Alles hat seinen Preis. Es gibt Hinweise, es gibt Ratschläge, Ermahnungen, Drohungen, Appelle an den normalen Menschenverstand – aber sich entscheiden muss jeder selber.

Das ist also neben der Selbstbespiegelung ein weiterer Zweck sozialer Netzwerke: Erweiterung des Bildungshorizontes.

Ein Nebeneffekt ist im Beziehungsgeflecht zu suchen. Man nennt das hier sehr vorsichtig ‘Kontakte’. Ein Kontakt ist übersetzt: eine gemeinsame Berührung.

Man berührt sich also, indem man ein Foto betrachtet oder einen Satz auf der Zunge zergehen lässt oder sich einfach ein Herz schicken lässt. Man berührt sich.

Nun, es ist eine Tatsache, dass Berührungen heilen können. Viel zu wenig Berührung gebe es zur Zeit bei den Menschen, wissen wissenschaftliche Analysen.

Also berührt man sich hier auch auf virtuelle Weise.

Es mag sein, dass dies auch zu einer engeren Form von Kontaktaufnahme führt. Warum auch nicht. ..

Der Modus der Vervielfältigung der Möglichkeiten erlaubt natürlich auch eine höhere Findungsrate eines Partners. Alle Gefahren mit eingeschlossen :-)

Am Ende erscheint mir Seniorbook wie ein Kreuzworträtsel in moderner Form. Jeder Buchstabe ein Mensch, der sich an seinem Platz mit anderen Buchstaben verbindet und einen Sinnzusammenhang herstellt. Warum sollten nicht im Zeitalter der Kommunikation solche unterhaltsamen Spiele erfunden und gespielt werden?

Solange Fairness zu einem zentralen Wert macht, ist nichts dagegen einzuwenden, im Gegenteil. In jedem Spiel lernt man etwas, und schließlich ist Leben durchaus immer mit Lernen verknüpft. (KH)