Geheimagent Nr. 6

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Geheimagent Nr. 6
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LUNATA

Geheimagent Nr. 6

Geheimagent Nr. 6

Kriminalroman

© 1926 by Edgar Wallace

Originaltitel Number Six

Aus dem Englischen von Ravi Ravendro

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

1

Nachdem man auf der internationalen Polizeikonferenz in Genua drei Tage lang die verschiedensten Probleme erörtert hatte, kam man schließlich auch auf Cäsar Valentine zu sprechen. Es lag nichts Besonderes gegen ihn vor; die Beamten tauschten nur im Anschluß an den Fall Gale ihre Meinungen über ihn aus.

»Ich verstehe eigentlich nicht, was man diesem Mann vorwirft«, sagte Lecomte von der Pariser Sûreté. »Er ist reich, sehr bekannt und sieht vorzüglich aus – aber das alles kann man doch nicht als ein Verbrechen bezeichnen.«

»Wo mag er nur das Geld herhaben?« fragte Leary, der aus Washington kam. »Fünf Jahre lang war er bei uns in den Staaten, aber er hat immer nur Geld ausgegeben.«

»Auch das ist weder in Frankreich noch in Amerika ein Verbrechen«, erwiderte Lecomte lächelnd.

»Leute, die mit ihm in Geschäftsverbindung standen, hatten das Unglück, plötzlich zu sterben.«

Es war Hallett von der Londoner Kriminalpolizei, der diese unfreundliche Bemerkung machte.

Leary nickte.

»Ja, das stimmt auch mit unseren Beobachtungen überein. Die Vorsehung meinte es sehr gut mit Mr. Valentine. Er hatte sich vor ein paar Jahren auf der Chicagoer Börse in Weizen engagiert, und die Kursentwicklung ging gegen ihn. Die Preise fielen und fielen, und an der Spitze der Baissegruppe stand Burgess. Er war ein persönlicher Gegner Valentines und hätte ihn auch ruiniert, aber eines Morgens wurde er auf dem Boden eines Liftschachtes in seinem Hotel tot aufgefunden. Er war vom neunzehnten Stockwerk in die Tiefe gestürzt.«

Lecomte zuckte die breiten Schultern.

»Kann das nicht ein Zufall gewesen sein?«

»Wenn dies der einzige Fall wäre, könnte man es annehmen«, entgegnete Hallett. »Aber hören Sie weiter. Dieser Mr. Valentine befreundete sich mit dem Bankier George Gale in England. Gale finanzierte ihn mit Bankgeldern, obwohl das niemals bewiesen wurde. Der Mann hatte die Gewohnheit, ein Nervenstärkungsmittel zu nehmen, das er in seinem Büro stehen hatte. Eines Abends wurde er mit der kleinen Flasche in der Hand in seinem Privatkontor tot aufgefunden. Das Etikett trug die Aufschrift der Medizin, aber in Wirklichkeit enthielt die Flasche ein starkes Gift. Als später die Bücher der Bank geprüft wurden, stellte sich heraus, daß eine Summe von hunderttausend Pfund fehlte. Valentines Konto war vollkommen in Ordnung. Man nahm allgemein an, daß Gale Selbstmord verübt hätte, und Valentine schickte zu seiner Beerdigung den größten Kranz.«

»Nun, ich will Valentine nicht verteidigen«, entgegnete Lecomte, »aber ich sehe wirklich noch keinen zwingenden Grund, den Mann für einen Verbrecher zu halten. Es mag immerhin. Selbstmord gewesen sein. Können Sie vielleicht das Gegenteil beweisen? Sicher ist der Fall doch mit aller Gründlichkeit von Scotland Yard untersucht worden.«

Hallett nickte.

»Und es wurde nichts Belastendes gegen Valentine gefunden?« fragte Lecomte. »Sie halten den Mann trotzdem für verdächtig? Nun, wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, helfe ich Ihnen mit sämtlichen Beamten der Sûreté. Ich werde ihn das nächste Mal Tag und Nacht bewachen lassen, denn gewöhnlich bringt er sechs Monate des Jahres in Frankreich zu. Aber offen gestanden sähe ich es lieber, wenn Ihr Verdacht besser begründet wäre.«

»Er ist mit der Frau eines anderen durchgebrannt«, begann Hallett noch einmal. Lecomte lachte laut.

»Verzeihen Sie«, entschuldigte er sich gleich darauf, »aber das ist nach französischem Gesetz kein Verbrechen.«

Die allgemeine Unterhaltung wandte sich dann anderen Dingen zu.

Ein Jahr später saß Hallett in seinem Büro in Scotland Yard am Schreibtisch und las mit düsterem Gesichtsausdruck einen Bericht durch.

Eine halbe Stunde lang dachte er darüber nach, dann klingelte er. Kurz darauf trat jemand in den Raum.

»Vor etwa sechs Monaten«, begann der Chef ernst, »haben Sie mir Ihre Ansichten über Mr. Valentine auseinandergesetzt. Bitte unterbrechen Sie mich nicht, hören Sie mich erst zu Ende an. Ich habe Sie gern – das wissen Sie. Und ich vertraue Ihnen, sonst würde ich Sie nicht vor eine so schwere Aufgabe stellen. Ich bin davon überzeugt, daß Ihre Theorien in gewisser Weise begründet sind. Deshalb habe ich mich auch so viel mit Ihnen befaßt und Sie für die Lösung dieser Aufgabe geschult.

Bei solchen Fällen muß man vor allem Geduld haben. Chefinspektor Burns schickte einen Mann nach den Minenfeldern, um einen Mörder zu suchen. Als Anhaltspunkt hatte der Beamte nur eine kleine Fotografie, auf der ein Teil der rechten Gesichtshälfte des Täters zu sehen war. Es dauerte drei Jahre, bis er ihn fassen konnte.

Lecomte von der Sûreté wartete fünf Jahre, bis er Madame Serpilot verhaftete. Als ich noch ein junger Beamter war, verfolgte ich die Bande von Cully Smith drei Jahre und acht Monate lang; erst dann gelang es mir, Cully zu überführen. Vielleicht kostet es Sie ebenso viel Zeit, Cäsar Valentine schachmatt zu setzen.«

»Wann soll ich beginnen?«

»Sofort. Niemand darf Ihren Aufenthalt erfahren, nicht einmal diese Dienststelle. Ihr Gehalt wird Ihnen jeden Monat postlagernd zugesandt, und in den Akten wird hinter Ihrem Namen die Bemerkung stehen: ›Sonderauftrag im Ausland‹.«

»Manches wird sehr schwierig sein. Mein Name –«

»Sie haben keinen Namen. Von jetzt ab heißen Sie Nummer Sechs, und niemand außer uns beiden weiß, wer Sie sind. Ich werde Auftrag geben, daß Scotland Yard aufgrund Ihrer Nachrichten, Wünsche – oder auch Hilferufe handelt. Gehen Sie nun und versuchen Sie, mit Valentine fertig zu werden. Vielleicht ist er tatsächlich der gefährlichste Mensch auf der ganzen Welt; andererseits wäre es aber auch möglich, daß die Gerüchte, die wir über ihn gehört haben, nicht auf Wahrheit beruhen. Sie übernehmen eine schwere Aufgabe. Man kann einen Mann nicht ins Gefängnis werfen, weil er viel Geld ausgibt, oder weil er mit der Frau eines anderen durchbrennt. Natürlich ist er bei den Männern nicht beliebt, und Leute, die hassen, nehmen es mit der Wahrheit nicht zu genau. Sie müssen kühn, aber vollständig unauffällig vorgehen, denn ich glaube, er hat überall auf der Welt seine Verbindungen. Zu meinem größten Erstaunen entdeckte ich, daß er sogar hier in diesem Amt einen Mann bestochen hatte, der ihm Nachrichten zukommen ließ. Dadurch wurden mir die Augen geöffnet, und ich erkannte, wie schwer es sein wird, diesen Fall aufzuklären. Ein Mann bezahlt nicht Tausende von Pfund, um einen Spion hier im Polizeipräsidium zu haben, wenn er nicht etwas zu fürchten hat.«

Nummer Sechs nickte.

»Also, die Welt steht Ihnen offen, und Sie können auf eine große Belohnung rechnen, wenn Sie Erfolg haben. Suchen Sie vor allem seine Freunde – Sie können in alle Gefängnisse Englands gehen und die Verbrecher verhören, die etwas von ihm wissen. Vielleicht hilft Ihnen das weiter.«

»Es ist eine sehr große Aufgabe, vor die Sie mich stellen, aber es ist die einzige auf der Welt, die ich mir wünsche.«

»Das weiß ich«, erwiderte Hallett. »Sie werden eine sehr einsame Zeit durchmachen, aber wahrscheinlich von allerlei Leuten unterstützt werden – ich denke an die Männer und Frauen, die Valentine ruiniert hat, die Väter junger Mädchen und die Männer von Frauen, denen er nachstellte. Sie werden gute Verbündete sein. Gehen Sie jetzt.«

Er stand auf und reichte Nummer Sechs die Hand.

»Also, leben Sie wohl, und viel Glück, Nummer Sechs«, sagte er lächelnd. »Wenn ich Sie von jetzt ab irgendwo auf der Straße treffe, werde ich Sie nicht erkennen. Sie sind für mich ein Fremder, bis Sie durch Ihre Zeugenaussage vor dem Kriminalgericht in Old Bailey Mr. Valentine für immer ausschalten.«

Nummer Sechs verließ das Büro, und Hallett trug in die amtliche Geheimliste hinter dem Namen von Nummer Sechs die Bemerkung ein:

»Mit Sonderauftrag im Ausland. Dieser Agent darf in keinem Bericht erwähnt werden.«

Ein Jahr später ließ Hallett Sergeant Steel in sein Büro kommen und erzählte ihm über die geheime Mission von Nummer Sechs soviel, als ihm ratsam erschien.

 

»Ich habe seit Monaten nichts mehr von Nummer Sechs gehört«, sagte er dann. »Fahren Sie nach Paris und beobachten Sie Cäsar Valentine.«

»Sagen Sie mir doch wenigstens, ob Nummer Sechs ein, Mann oder eine Frau ist?«

Hallett grinste.

»Das will Cäsar auch schon seit Monaten wissen. Ich habe drei Beamte entlassen müssen, weil sie versuchten, das Geheimnis herauszubringen. Ich warne Sie also, nicht in denselben Fehler zu verfallen, sonst bliebe mir nichts anderes übrig, als auch Ihnen den Laufpass zu geben.«

2

Kaum hundert Meter vom Quai des Fleurs entfernt hatte Chi So ein Restaurant.

Er selbst war ein Japaner, der sich als Chinese ausgab. Sein Lokal war nicht elegant, aber sehr beliebt. Viele Leute kamen hierher, um die exotischen Speisen zu genießen, die in seiner Küche zubereitet wurden, und gewöhnlich parkte eine große Anzahl von Wagen in der Nähe.

Tre-Bong Smith aß niemals bei Chi So, aber er verkehrte häufig dort. Das Restaurant befand sich in einem Eckhaus, das schon vor langer Zeit errichtet worden war. Unter dem Gebäude lag ein sehr geräumiger Keller, ein großer, gewölbter Raum, den Chi So in ein unterirdisches Lokal für seine Stammkunden verwandelt hatte.

Seit Wochen war Tre-Bong Smith mit größter Regelmäßigkeit jede Nacht um zwölf Uhr hier erschienen, um in einer der Kojen Opium zu rauchen und bis gegen vier Uhr morgens dort zu ruhen.

Aus vielen triftigen Gründen zog er es vor, nachts nicht in Paris herumzuwandern. Es tagte eine internationale Polizeikonferenz in der Stadt, und es war unmöglich für ihn, sich auf der Straße aufzuhalten, ohne Beamte von Scotland Yard zu treffen, die ihn sicher erkannt hätten.

Ob allerdings andere Besucher in dem schlanken, wenig gepflegten jungen Menschen einen früher bedeutenden Sportsmann der Universität Cambridge erkannt hätten, ist fraglich. Aber gewisse Abteilungen der Polizei hatten tatsächlich seinen Steckbrief.

In einem kleinen Café am Montmartre, in dem er abends meistens zu treffen war, hatte man ihm den Namen Tre-Bong Smith gegeben, weil er auf alle Fragen, die man an ihn richtete, »très bon« antwortete, anstatt »très bien«, wie es richtig hieß. Selbst als man später entdeckte, daß er ein tadelloses Französisch sprach und dieses »très bon« nur eine Angewohnheit von ihm war, behielt er den Namen. Auch im Lokal von Chi So wurde er so genannt. Man hielt ihn dort für einen sehr gefährlichen Mann.

Es gab Tage, an denen er seine Sous zählte. Manchmal blieb er Tage und Nächte unsichtbar, und wenn er dann wieder auftauchte, hatte er genügend Geld und wechselte Tausendfranc-Noten mit der Eleganz eines Croupiers von Monte Carlo.

Aber wenn er sich überhaupt zeigte, verkehrte er regelmäßig bei Chi So.

Ebenso regelmäßig wie Smith besuchte auch Cäsar Valentine das Lokal. Jeden Montag, Donnerstag und Sonnabend erschien er pünktlich um zwei Uhr nachts in der Privatloge, wie die Gäste Chi Sos den Platz nannten. In einer Wand befand sich ungefähr in halber Höhe vom Boden eine halbkreisförmige Öffnung, vor der ein Balkon angebracht war. Dort brannte nie Licht, und der Raum war durch schwere Vorhänge abgesperrt. Man vermutete, daß Chi So ziemlich viel verdiente, indem er hier vornehme Leute, die einmal eine Opiumhöhle in Paris sehen wollten, gegen ein Eintrittsgeld einließ. Manchmal kamen auch Journalisten, die Geschichten aus dem Chinesenviertel verfaßten und das Milieu studieren wollten.

Cäsar Valentine kam für gewöhnlich durch eine Privattür direkt in den Keller, aber manchmal ging er auch durch die »Halle«, sah sich dort nach allen Seiten mit seinem frechen, herausfordernden Blick um und verschwand dann durch eine kleine Tür, hinter der eine eiserne Wendeltreppe zu der Loge hinaufführte. Dort hielt er sich gewöhnlich eine Stunde auf, schaute auf die Opiumraucher hinunter und betrachtete das merkwürdige Lokal mit den weißgetünchten Wänden, den großen, chinesischen Laternen und den vielen Kojen, in denen die Leute dem Opiumlaster frönten.

Chi So sagte, daß Cäsar Valentine ein »schöner Mann« wäre, und diese Beschreibung war nicht übertrieben. Valentine erschien stets in einem Frack, der ihm ausgezeichnet saß und seine schlanke Gestalt vorzüglich zur Geltung brachte. Er hatte klare, regelmäßige Gesichtszüge; seine braunen Haare waren an den Schläfen leicht ergraut. Als Tre-Bong Smith ihn zum erstenmal sah, hielt er ihn für achtundzwanzig. Bei ihrer zweiten Begegnung fiel jedoch das Licht einer Laterne direkt auf Valentine und ließ ihn bedeutend älter erscheinen. In seinen mandelförmigen braunen Augen lag ein melancholischer Ausdruck. Sein Kinn war etwas zu voll und zu rund; seine Wangen zeigten eine leichte Röte.

Eines Abends betrat Tre-Bong Smith wieder das Lokal Chi Sos durch die Seitentür, die die Opiumraucher benützten. Im Vorraum hatte er seinen Mantel ausgezogen.

Chi So, der ein blaues Seidengewand trug, rieb sich die Hände. Der kleine, häßliche Mann mit den schlauen Augen war herausgekommen, um seinen Stammgast zu begrüßen.

»Regnet es draußen, Mr. Smith?« fragte er mit seiner lispelnden Stimme.

»Es gießt ganz gehörig«, brummte Tre-Bong. »Eine entsetzliche Nacht, selbst für Paris!«

Chi So grinste.

»Sie können heute viel Opium rauchen. Ich habe eine neue Sendung aus China bekommen. Es sind auch viele Leute hier heute Abend.«

Smith ging die Steintreppe hinunter zu der für ihn reservierten Koje. Sie lag der »Loge« direkt gegenüber.

Der Chinese O'San, der die Raucher bediente, brachte ihm seine Pfeife, steckte sie an und eilte dann davon.

Die üblichen Stammgäste, eine merkwürdig zusammengewürfelte Gesellschaft, hielten sich auch an diesem Abend hier auf. Neben Leuten aus den vornehmsten Kreisen und einigen Frauen beobachtete Smith einen alten Bettler, der seine Lebensgeschichte hatte drucken lassen und sie für ein paar Münzen an den Straßenecken verkaufte, und einen eleganten Herrn, den Attaché irgendeiner ausländischen Gesandtschaft. Tre-Bong merkte sich ihn, um später eventuell Nutzen daraus zu ziehen.

Der alte Lefèbre sah den zufriedenen Ausdruck in Tre-Bongs Gesicht und ging zu der Koje eines Bekannten.

»Smith scheint ja einen guten Fang gemacht zu haben«, meinte er. »Er sieht so vergnügt aus ... Vor einem Monat kam er von Enghien, hatte die Taschen voll Geld, und in der Seine fand man die Leiche des berühmten Sportsmanns Tosseau ... Chi So sollte doch solche Verbrecher nicht hier verkehren lassen.«

Der andere schimpfte und fluchte, weil er in seinen angenehmen Träumen gestört worden war, und Lefèbre ging wieder fort.

Tre-Bong lag in seiner Koje, stützte sich auf die Ellenbogen und war auch in Träume versunken. Sie waren jedoch von anderer Art, als man hätte annehmen sollen.

Punkt zwei Uhr kam Cäsar Valentine mit Chi So, der ihn gewöhnlich begleitete. Der Asiate war sehr unterwürfig, aber Valentine sagte nichts. Er ging zwischen den Kojen durch und machte vor dem Platz von Tre-Bong halt, der mit offenen Augen vor sich hinstarrte.

Valentine betrachtete ihn einen Moment zerstreut, dann wandte er sich ab und ging durch die kleine Tür, die Chi So für ihn geöffnet hatte. Kurz darauf erschien er in der Loge, legte seine weißen Hände auf die rote Plüschpolsterung der Brüstung und sah auf die Opiumraucher hinunter. Und immer wieder kehrten seine Blicke zu dem unrasierten Engländer zurück.

Um halb drei entstand plötzlich eine Unruhe; aufgeregte Stimmen waren auf der Treppe zu hören, die zur Opiumhöhle hinunterführte. Gleich darauf erschien Chi So. Er war außer sich vor Schrecken, ging schnell auf Tre-Bong Smith zu und sprach mit ihm. In einer Sekunde war Smith auf den Füßen.

»Sie müssen gehen – die Polizei sucht nach Ihnen – hier, diesen Weg!« Chi So zeigte auf den kleinen Ausgang, der zur Loge hinaufführte. »Mr. Valentine wird nichts dagegen haben.«

Mit zwei großen Sätzen war Smith bei der Tür, schloß sie hinter sich und stieg geräuschlos die Treppe hinauf.

Cäsar Valentine wandte sich um, als Tre-Bong eintrat.

»Sind Sie in Gefahr?« fragte er.

»Im Augenblick noch nicht, aber in ein paar Minuten wird es wohl soweit sein«, entgegnete Smith und öffnete sein Hemd auf der Brust.

Cäsar sah die Mündung einer kleinen Pistole, die der Mann unter dem Arm versteckt hatte, und begriff nun auch, warum Tre-Bong immer auf der rechten Seite lag.

»Kennen Sie den Ausgang? Ich will Ihnen den Weg zeigen.«

Er zog den Vorhang zurück, der eine Tür in der Wand verdeckte. Smith ging hindurch und kam in einen matt erleuchteten Gang.

»Geradeaus, dann nach rechts«, sagte Cäsar hinter ihm. »Die Tür öffnet sich sehr leicht.«

Smith fand die Tür und trat auf einen kleinen Hof hinaus. Cäsar Valentine eilte an ihm vorbei über den Hof und öffnete ein Tor, das auf eine Seitenstraße führte. Es regnete heftig, und ein scharfer Südwestwind blies ihnen ins Gesicht.

»Warten Sie«, sagte Cäsar.

Er legte seinen weiten Mantel um die Schultern.

»Sie sind jünger als ich, und der Regen wird Ihnen nicht schaden.«

Smith grinste im Dunkeln und zog das Dolchmesser aus der Hüfttasche.

Valentine führte ihn durch ein Labyrinth von kleinen Gassen, und kurze Zeit später standen sie auf dem verlassenen, düsteren Quai.

Plötzlich packte Valentine seinen Begleiter am Arm.

»Einen Augenblick. Sie sind doch der Mann mit dem lächerlichen Spitznamen – nicht wahr?«

»Ich kann nichts dafür, daß die Leute ihn mir gegeben haben«, erwiderte Smith ein wenig kühl.

Valentine lachte.

»Sie sind also Tre-Bong Smith?«

Der andere nickte.

»Das dachte ich mir doch gleich. Ich wollte nur keinen Fehler machen. Das ist ja eigentlich bei mir auch ausgeschlossen«, fügte er hinzu.

Smith sah zwei Scheinwerfer und vermutete, daß sie zu Valentines Auto gehörten. Mit schnellen Schritten ging er seinem Begleiter etwas voraus auf den Wagen zu. Aber als er kaum noch dreißig Schritte davon entfernt war, tauchte plötzlich ein Mann aus dem Dunkeln auf, packte ihn am Kragen, drehte ihn um und leuchtete ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht.

»Hallo!« sagte der Mann. »Sie sind doch Tre-Bong Smith? Ich verhafte Sie, mein Junge.«

Valentine hielt bestürzt an, zog sich in den Schatten zurück und beobachtete von dort aus die weitere Entwicklung.

Nur einen Augenblick zögerte Smith, dann schlug er mit einer schnellen Bewegung die Taschenlampe aus der Hand des Beamten. Im nächsten Moment hatte er ihn an der Kehle gepackt und drückte ihn gegen die graue Steinbrüstung, hinter der die Seine floß.

»Was, du willst mich verhaften, du Schwein?« zischte er.

Das Dolchmesser blitzte in seiner Hand, und mit unglaublicher Schnelligkeit stieß er zu.

Der Polizist sank lautlos zu Boden.

Smith sah sich hastig nach allen Seiten um, bückte sich dann, hob den Mann auf und warf ihn über das Geländer in den Fluß.

Ein Stöhnen war zu hören, aber Tre-Bong Smith lachte nur, als er das Messer nahm und ins Wasser schleuderte.

Valentine rührte sich nicht, bis die Waffe im Strom verschwand. Dann kam er hervor.

»Sie sind etwas hitzig, mein Freund«, sagte er nur, ging mit raschen Schritten zu dem Wagen und öffnete die Tür.

Der Chauffeur hatte bei der schlechten Beleuchtung nicht sehen können, was geschehen war, aber andere Leute konnten Zeugen dieses kurzen, unheimlichen Kampfes gewesen sein.

Gleich darauf fuhr der Wagen an. Als sie an der Stelle vorbeikamen, wo der Zusammenstoß mit dem Polizisten stattgefunden hatte, glaubte Smith eine Gestalt an dem grauen Steingeländer zu sehen. Er ließ das vom Regen beschlagene Fenster herunter, um hinauszuschauen.

Im Lichtkegel der Scheinwerfer entdeckte er ein junges Mädchen, das vollständig in Schwarz gekleidet war und über das Geländer in den dunklen Fluß sah. Als das Auto vorbeifuhr, wandte es den Kopf, und Smith konnte einen Augenblick ihr schönes, trauriges Gesicht erkennen.

Er beugte sich weiter hinaus und schaute zurück, aber Valentine packte ihn am Arm.

»Machen Sie doch nicht solchen Unsinn«, sagte Cäsar ärgerlich. »Wen wollen Sie denn sehen?«

»Ach, niemand«, erwiderte Smith und schloß das Fenster.

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