Der Mann im Hintergrund

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Der Mann im Hintergrund
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LUNATA

Der Mann im Hintergrund

Der Mann im Hintergrund

Kriminalroman

© 1932 by Edgar Wallace

Originaltitel The Shadow Man

Aus dem Englischen von Hans Herdegen

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Der Mann im Hintergrund

Mr. Reeder reiste nach den Vereinigten Staaten, um bei der Aufklärung einer großen Unterschlagungsaffäre mitzuhelfen; es handelte sich dabei um den Fall der Gessler-Bank.

Selbstverständlich wurde er bei seiner Ankunft in New York von den Spitzen der städtischen Polizei wie ein Prinz aus königlicher Familie empfangen. Die Polizeibeamten dieser Riesenstadt waren nicht nur äußerst höflich zu ihm, sondern bewiesen auch, daß sie an Originale jeder Art gewöhnt waren.

Es lächelte also niemand über die ein wenig altmodische Kleidung des Detektivs, und keiner hätte sich eine boshafte Bemerkung über seinen steifen Filzhut und seinen Selbstbinder erlaubt. Jeder sah in ihm nur den berühmten Kriminalisten und ließ sich nicht durch sein zurückhaltendes und fast schüchternes Wesen täuschen.

Mr. Reeder blieb nur verhältnismäßig kurze Zeit in den USA, aber immerhin fand er Gelegenheit, den Polizeiapparat der vier größten amerikanischen Städte zu studieren. Unter anderem besuchte er das Zuchthaus in Atlanta, und zwei Tage vor seiner Abfahrt ließ er es sich nicht nehmen, auch noch nach Ossning zu fahren. Dort öffneten sich vor ihm die gewaltigen Stahltore von Sing-Sing, und geführt von dem Gefängnisdirektor persönlich, lernte er alle Einrichtungen dieses weltberühmten Zuchthauses kennen – angefangen von der Gefangenenkartei bis zu dem Raum, wo der elektrische Stuhl stand.

»Es wäre mir sehr lieb gewesen, wenn Sie sich einmal einen bestimmten Häftling näher angesehen hätten«, sagte der Gefängnisdirektor, kurz bevor er sich von ihm verabschiedete. »Es handelt sich um einen Engländer – einen Mann namens Redsack. Haben Sie jemals etwas von dem Burschen gehört?«

Mr. Reeder schüttelte den Kopf.

»Leider gibt es eine ganze Menge von Leuten, deren Existenz ich bisher noch nicht in meinem Gedächtnis registriert habe«, erwiderte er fast entschuldigend in seiner etwas umständlichen Art. »Dazu gehört auch Mr. Redsack. Wird er Ihnen noch lange zur Last fallen?«

»Er muß eine lebenslängliche Zuchthausstrafe absitzen«, entgegnete der Direktor, »und er darf noch froh sein, daß er nicht auf dem elektrischen Stuhl gelandet ist. Aus drei verschiedenen Gefängnissen konnte er schon ausbrechen, aber hier in Sing-Sing wird ihm das nicht gelingen. Er ist einer der gefährlichsten Verbrecher, die wir jemals beherbergten.«

»Ich würde ihn gerne sehen.«

»Im Augenblick kann ich Ihnen Redsack leider nicht vorführen. Wir mußten ihn nämlich in eine Strafzelle stecken, weil er wieder einmal einen Ausbruchsversuch gemacht hat. Eigentlich hatte ich angenommen, daß Sie ihn kennen würden. Viermal ist er in den USA schon verurteilt worden, und er hat wahrscheinlich mehr Morde auf dem Gewissen, als wir ahnen. Dabei ist er einer der klügsten Burschen, die mir je unter die Hände gekommen sind.«

»Ich habe bis jetzt noch keinen wirklich intelligenten Verbrecher kennengelernt. Nur schade, daß Redsack seine Straftaten nicht in England begangen hat.«

»Warum schade?« fragte der Direktor erstaunt.

»Dann wäre er nämlich jetzt nicht mehr am Leben«, erwiderte Mr. Reeder und seufzte.

In diesem Winter fuhren die Schiffe von New York nicht gerade regelmäßig ab; das Wetter war sehr schlecht. Auch der Dampfer, den Mr. Reeder wählte, hatte eine Verspätung von vierundzwanzig Stunden. So füllte er die Wartezeit damit aus, die Akten des Polizeipräsidiums von New York zu studieren. Besonders interessierten ihn dabei Angaben über die Person dieses Mr. Redsack.

Mr. Reeder staunte, als er einen ziemlich dicken Ordner durchblätterte. Redsack war anscheinend ein ziemlich gerissener Verbrecher. Es existierten zwar viele Fotos von ihm, aber er hatte es immer wieder verstanden, sich auf jedem davon ein anderes Aussehen zu geben. Sein Geburtsort war Vancouver in Kanada, in London wurde er erzogen. Schon mit dreißig Jahren hatte er so zahlreiche Gaunereien verübt, daß er in Verbrecherkreisen hohes Ansehen genoß. Der Mann schien wirklich klug zu sein. Er hatte es verstanden, sich bereits dreimal mit außergewöhnlicher Schlauheit aus der Schlinge zu ziehen.

Das Schiff verließ New York gegen Mitternacht, und als Mr. Reeder sich schlafen legte, hatte er keine Ahnung, daß fünf Decks unter ihm der Mann als Heizer arbeitete, mit dem er sich noch vor kurzem so intensiv beschäftigt hatte.

Redsacks Flucht aus Sing-Sing war eine äußerst kühne Tat. Sie wirkte um so sensationeller, als er sie nicht vorher hatte planen können.

Jede Flucht ist ein abenteuerliches Unternehmen, doch die des Sträflings Redsack würde fast ans Unglaubhafte grenzen, wenn nicht ihre Begleitumstände in den Akten der amerikanischen Polizeibehörden genau niedergelegt worden wären. Glück, Geschicklichkeit – und vor allem eine Verknüpfung seltsamer Zufälle standen dem Gefangenen an jenem Tag bei.

Es war ein trüber Winternachmittag. Etwa ein Dutzend Sträflinge trabten im Kreis auf dem großen Hof des Zuchthauses umher. Sie wurden scharf bewacht, doch konnten es ihnen ihre Wächter schließlich nicht verbieten, über die hohe Gefängnismauer hinweg zu dem grauverhangenen Himmel emporzusehen. Ganz in der Nähe manövrierte ein Freiballon, der von einem benachbarten Militärflugplatz aufgestiegen war. Einige heftige Windböen hatten ihn von seinem Kurs abgetrieben und zu Boden gedrückt. Die Besatzung, die Wetterbeobachtungen anstellen sollte, bemühte sich verzweifelt, Ballast abzuwerfen, doch irgend etwas an dem Mechanismus der Abwurfvorrichtung für die Sandsäcke funktionierte nicht. Der Ballon sank tiefer und tiefer, bis er schließlich nur noch ungefähr fünfzig Meter über der Erdoberfläche dahingetrieben wurde.

Was die Sträflinge und ihre Wächter – auch diese beobachteten gespannt den Vorfall – nicht sahen, war das gleichzeitig als Haltetau bei einer Landung dienende Schleppseil des Ballons, das über den Boden schleifte.

Eine neue Windbö trieb den Ballon zur Seite. Er jagte jetzt nur dreißig Meter über dem Boden direkt auf das Gefängnis zu.

In Sekundenschnelle hatte er sich der Umfassungsmauer genähert und stand gleich darauf – riesengroß aus dieser Nähe – direkt über dem Hof. Das Schleppseil verfing sich einen Augenblick in den auf der Mauer angebrachten Eisenzacken und klatschte dann auf das Pflaster des Hofs, wo die Sträflinge in ihrer gleichförmigen Bewegung einen Augenblick erstarrten und, wie ihre Wachmannschaften, die Hälse nach oben reckten.

Was jetzt folgte, spielte sich im Bruchteil einer Sekunde ab. Der Ballon wurde über den Hof getrieben, das Schleppseil hatte schon fast die gegenüberliegende Mauer erreicht, als sich plötzlich ein Sträfling aus dem Kreis löste und mit einigen mächtigen Sätzen bei dem Seil war. Er packte es, eine neuerliche Bö warf den Ballon einige Dutzend Meter in die Höhe und jagte ihn gleichzeitig nach vorn. Bevor die verdutzten Wächter noch ihre Gewehre von den Schultern gerissen hatten, waren Ballon und Mann schon hinter einem nahen Gehölz verschwunden.

Die Besatzung des Ballons sah natürlich ihren ungebetenen Passagier, konnte aber beim besten Willen nichts gegen ihn unternehmen. Die Männer in der Gondel hatten alle Hände voll zu tun, die Abwurfvorrichtung in Ordnung zu bringen, damit sie endlich aus der für sie gefährlichen Nähe des Erdbodens freikamen.

Dichtes Schneetreiben hatte eingesetzt. Der Ballon trieb ungefähr zwei Kilometer weit, und Redsack – so hieß der Sträfling, der diese tollkühne Flucht gewagt hatte – wurden allmählich die Finger klamm. Er mußte damit rechnen, daß es der Ballonbesatzung jede Minute gelingen konnte, Ballast abzuwerfen – und dann würde es steil in die Höhe gehen. Er blickte unter sich ... Die Gelegenheit war günstig, der Ballon wurde in diesem Moment wieder zu Boden gedrückt. Noch zwanzig Meter Abstand zwischen ihm und der tief verschneiten Erdoberfläche – noch fünfzehn Meter – noch zehn Meter – mit dem Mut der Verzweiflung ließ er los und landete sich überschlagend in einer tiefen Schneewehe, die wie für einen solchen Zweck geschaffen, vom Wind an einer Straßenböschung aufgehäuft worden war.

Genau das Richtige für seine Zwecke war auch der kleine Fordwagen, der zehn Meter weiter am Straßenrand parkte. Er gehörte einem Sonntagsjäger, der mit seiner Schrotflinte hier in der Gegend auf den Krähenstrich gegangen war. Eine zweite Flinte, die für einen Freund gedacht gewesen war, der ihn eigentlich hatte begleiten wollen, lag auf dem Rücksitz. Mr. Redsack stieg ein und hielt eine halbe Stunde später vor einer Bank in einer kleinen Stadt, ungefähr zehn Meilen von Jersey City entfernt.

Er verließ den Wagen mit einem doppelläufigen Gewehr unter dem Arm und ging in die Bank. Es war eine Minute vor Schluß, und im Schalterraum befanden sich nur noch der Kassierer und der Prokurist. Der letztere wollte gleich anschließend in Urlaub fahren und hatte sein Reisegepäck ins Büro mitgenommen.

Kurz darauf verließ Redsack die Bank mit einem Koffer in der Hand und sechstausend Dollar in der Tasche. Auch hatte er sich zwei Revolver angeeignet, die er in einer Schreibtischschublade gefunden hatte. Aus dem Keller, in dem er die beiden Bankbeamten einschloß, nahm er den Arbeitsanzug des Hausmeisters mit.

Bei der nächsten Gelegenheit warf er den Koffer in den Straßengraben und wechselte seine Sträflingskleidung in einem Gebüsch mit dem alten, abgetragenen Arbeitsanzug des Hausmeisters aus. Den Ford ließ er zwei Meilen von New Jersey City entfernt auf der Straße stehen. Dann stieg er in einen Bus.

 

Es war ihm klar, daß die Polizei hinter ihm her war, aber natürlich suchte sie nach einem Mann, der die Kleider des Prokuristen trug. So durfte er ziemlich sicher sein, daß man ihn nicht erkennen würde. Er hatte noch keine festen Pläne, als er zum Hafen von New York fuhr.

Dort brauchte er aber nur kurze Zeit, um sich über seine nächsten Schritte klarzuwerden; von da ab ging alles glatt.

Heizer waren stets gesucht, und so wurde er gleich der ersten Wache zugeteilt und war damit beschäftigt, Kohlen ins Feuer zu werfen, bevor der Dampfer den Hafen von New York verließ.

Als die Beamten von Scotland Yard später den Fall Redsack bearbeiteten, schüttelten sie die Köpfe. Es war doch ein eigenartiger Zufall, daß Redsack ausgerechnet an dem Tag aus der Strafzelle herauskam, als die Geschichte mit dem Wetterballon passierte. Wenn Mr. Reeder ihn wenigstens vorher gesehen hätte, dann wäre viel Mühe und Arbeit gespart worden. Und wahrscheinlich wäre auch die große Betrugssache bei der L. und O.-Bank nicht vorgekommen.

Mr. Reeder hatte übrigens diesen intelligenten Verbrecher durchaus nicht vergessen. Als er wieder in England war, ließ er sich sofort alle Unterlagen über Redsack vorlegen, die in den Archiven von Scotland Yard schlummerten. Er notierte sogar die wichtigsten Stationen auf dem Lebensweg Mr. Redsacks, denn er war der Meinung, daß jedes Verbrechen in irgendeiner abgewandelten Form später wieder einmal auftauchen würde.

Merkwürdigerweise dachte er aber nicht im entferntesten an Redsack, als die L. und O.-Bank beraubt wurde.

Mr. Reeder ging nur selten ins Theater, und wenn er es einmal tat, dann suchte er sich meistens ein klassisches, möglichst romantisches Stück aus. Die modernen Inszenierungen sagten ihm wenig zu.

Eines Abends ließ er sich dazu verleiten, den Kriminalreißer ›Herzen in Flammen‹ anzusehen. Es war eine Enttäuschung, er wußte bereits nach dem ersten Akt, wer der Täter war, und von da ab interessierte ihn das ganze Stück nicht mehr.

In der Pause zwischen dem ersten und zweiten Akt schlenderte er im Foyer auf und ab und rauchte eine billige Zigarette. Nach der Pause, wenn die Zuschauer wieder auf ihren Plätzen saßen und es weniger auffiel, wollte er sich Mantel und Hut holen und nach Hause gehen.

Zu diesem Entschluss war er gerade gekommen, als ein eleganter Herr auf ihn zutrat. Der Mann war groß und stattlich, er machte einen ausgesprochenen distinguierten Eindruck. Seine Hände waren sorgsam gepflegt, und auf seinem Gesicht lag ein stereotypes Lächeln, das seinen Zügen so angegossen schien wie sein Anzug seiner Figur.

Als Mr. Reeder den Herrn auf sich zukommen sah, schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß es vielleicht doch besser wäre, schnell in den Zuschauerraum zurückzugehen und auch den zweiten Akt über sich ergehen zu lassen.

»Sicher habe ich das Vergnügen mit Mr. Reeder«, sprach ihn der Fremde an. »Mein Name ist Hallaty. Ich bin Geschäftsführer bei der L. und O.-Bank in Gunnersbury. Erinnern Sie sich nicht mehr, daß Sie mich seinerzeit in meinem Büro aufsuchten? Es handelte sich um einen Angestellten, der Schecks gefälscht hatte.«

Mr. Reeder setzte seine Brille auf und betrachtete den Mann genauer.

»Ja – jetzt fällt es mir wieder ein, daß die L. und O.-Bank auch eine Niederlassung in Gunnersbury hat. Diese großen Banken errichten ja heutzutage überall Filialen.«

»Ich bin einigermaßen überrascht, Sie im Theater zu treffen«, fuhr Mr. Hallaty lächelnd fort.

»Man sieht mich hier auch nur selten«, erwiderte Reeder kurz.

»Ich habe mich vorher mit Lord Lintil unterhalten, den Sie ja wahrscheinlich auch kennen. Wir sind gut miteinander bekannt, ich möchte fast sagen – befreundet.«

Diese Worte machten offenbar Eindruck auf Mr. Reeder.

»So?« sagte er respektvoll. »Ich habe Lord Lintil seit seinem dritten Bankrott allerdings noch nicht wiedergesehen. Er ist entschieden ein interessanter Mann.«

Mr. Hallaty versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen.

»So etwas kann jedem einmal passieren«, meinte er dann.

»Haben Sie mit ihm auch über mich gesprochen?« fragte Mr. Reeder.

»Ich sagte ihm nur, daß Sie ein ziemlich kluger Mann sein müßten«, entgegnete Hallaty ausweichend.

Mr. Reeder war dieses Lob unangenehm.

»Wir unterhielten uns hauptsächlich über diese Betrugsaffären bei Banken, die jetzt immer häufiger vorkommen. Es ist anscheinend ziemlich schwierig, die Leute, die solche Verbrechen begehen, zu fassen. Sie sind doch auch der Meinung, Mr. Reeder, daß hier exemplarische Strafen am Platz wären?«

»Ja, das ist kein schlechter Gedanke.«

Der Detektiv war gespannt, was dieser Mann eigentlich von ihm wollte.

»Was mich interessieren würde, Mr. Reeder – Sie verwenden zur Aufklärung von Verbrechen wahrscheinlich ein ganz bestimmtes System, wie?«

»Höchstwahrscheinlich tue ich das.« Mr. Reeder sah auf die Uhr. »Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich möchte mir den zweiten Akt ansehen«, schwindelte er skrupellos.

»Es ist seit jeher mein geheimer Wunsch, einmal selbst bei der Aufklärung eines Verbrechens mithelfen zu können«, fuhr Mr. Hallaty unbekümmert fort. »Es gibt da so eine Redensart, daß man am besten einen Dieb dazu anstellt, einen anderen zu fangen.«

Mr. Reeder tat so, als ob er den Scherz nicht verstünde.

»Wollen Sie damit etwa sagen, Mr. ..., wie war doch Ihr Name?«

Mr. Hallaty wurde rot.

Glücklicherweise klingelte es in diesem Augenblick zum dritten Mal, und Mr. Reeder hatte einen Grund, sich zu entfernen. Leider war sein Opfer umsonst, denn als er nach dem zweiten und noch schlechteren Akt das Theater verließ, sah er zu seinem Schrecken, daß Mr. Hallaty auf ihn wartete.

»Darf ich Sie einladen, in meinem Klub ein Glas mit mir zu trinken?«

Mr. Reeder schüttelte energisch den Kopf.

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. ...« Hallaty sagte ihm aufs neue seinen Namen. »Im allgemeinen besuche ich aber keine Klubs und trinke auch keinen Alkohol.«

»Darf ich Sie dann wenigstens in meinem Wagen ein Stück mitnehmen?«

Mr. Reeder erwiderte, daß er lieber zu Fuß nach Hause gehen würde.

»Aber soviel ich weiß, wohnen Sie doch ziemlich weit draußen in Brockley?«

»Ganz richtig. Und den ganzen Weg dorthin mache ich zu Fuß. Soll gut für den Blutdruck sein.«

Er begann sich über die Zudringlichkeit und Hartnäckigkeit Mr. Hallatys zu wundern. Wenn er auch als berühmter Kriminalist viel mit Leuten verkehren mußte, die sich aus den unmöglichsten Gründen an ihn heranmachten, war ihm diese selbstsichere Unverfrorenheit doch ein wenig zu viel.

Mit einem Kopfnicken verabschiedete er sich und suchte ein Restaurant auf, um ein Glas Milch zu trinken und ein paar belegte Brote zu essen. Aber der Appetit verging ihm, als Mr. Hallaty wieder vor ihm auftauchte und sich einfach an seinen Tisch setzte. Er ließ Milch und Butterbrote stehen und hörte schweigend den langatmigen Ausführungen von Mr. Hallaty über Verbrechen und deren Verhütung zu.

»Ein Verbrecher müßte es schon schlau anfangen, wenn er mich täuschen wollte! Ich durchschaue die meisten Menschen auf den ersten Blick«, erklärte Hallaty und steckte sich eine dicke Zigarre an.

Mr. Reeder betrachtete angelegentlich ein Plakat mit der Aufschrift ›Rauchen verboten‹.

»Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen, daß ich rauche?« fragte Mr. Hallaty.

»Doch, es ist mir unangenehm.«

Der andere lachte und ließ sich nicht stören.

»Ich persönlich bin davon überzeugt, daß es wenig wirklich kluge Berufsverbrecher gibt. Wenn sie an einen nur einigermaßen über dem Durchschnitt stehenden Geschäftsmann geraten, sind sie schnell mit ihrer Weisheit am Ende.«

Mr. Hallaty plauderte noch eine Zeitlang selbstgefällig weiter, bis Mr. Reeder schließlich die Geduld verlor.

»Bitte, lassen Sie mich jetzt allein. Ich möchte meine Mahlzeit gern in Ruhe beenden.«

Jetzt endlich merkte Hallaty, daß er mit seiner Unverfrorenheit zu weit gegangen war und entschuldigte sich. Rasch stand er auf und verließ das Lokal, ohne seine Tasse Tee bezahlt zu haben.

Als der Detektiv später über das Gespräch nachdachte, das er mit Mr. Hallaty geführt hatte, fiel ihm auf, daß der sich hauptsächlich danach erkundigt hatte, wie die Verfolgung von entsprungenen Sträflingen durchgeführt wurde. Zu Hause schrieb er den Namen Hallaty in ein kleines Buch, auf dessen Einband ein großes Fragezeichen stand.

Aber es schien eigentlich unmöglich, daß ein Mann, der so offen über Verbrechen sprach, selbst etwas auf dem Kerbholz hatte. Verbrecher hüteten sich für gewöhnlich, in der Öffentlichkeit aufzufallen.

Hallaty hatte gesagt, daß er der Geschäftsführer der London und Orient-Bank in Gunnersbury sei, und das stimmte auch, wie Mr. Reeder feststellen konnte. Er bewohnte ein Apartment in der Albemarle Street, fuhr seinen Wagen meist selbst, hielt sich aber einen Chauffeur und einen Diener und hatte einen großen Freundeskreis. Außerdem besaß er noch eine kleinere Wohnung in Hammersmith, wo er die meiste freie Zeit verbrachte.

Die L. und O.-Bank unterhielt eine bedeutende Niederlassung in Gunnersbury. Eine Reihe größerer Elektrizitätsgesellschaften hatte dort ihre Konten, ebenso die Gaswerke von Kelson und verschiedene andere Firmen und Fabriken.

Etwa einen Monat nach der Unterhaltung mit Mr. Reeder suchte Hallaty die Londoner Filiale der Ninth Avenue Bank in der Lombard Street auf. Er erklärte dort, daß einer seiner besten Kunden, ein englisch-amerikanischer Konzern, eine größere Summe in amerikanischen Banknoten brauche, und erkundigte sieh, ob die Ninth Avenue Bank in der Lage wäre, den nötigen Betrag von fünfundsiebzigtausend Dollar zu liefern.

Die Angestellten der amerikanischen Bank waren sehr liebenswürdig und versicherten Mr. Hallaty, daß das Geld für ihn bereitliegen würde. Am Freitagnachmittag erschien Hallaty, zahlte die englischen Banknoten ein und erhielt das amerikanische Geld dafür.

Die Direktion der L. und O.-Bank berief am selben Nachmittag eine dringende Konferenz ein.

»Ich mache mir Sorgen wegen dieses Hallaty«, sagte der Generaldirektor. »Einer unserer Detektive hat herausgebracht, daß er ziemlich über seine Verhältnisse lebt.«

»Wie hoch ist denn sein Gehalt?« fragte einer der Anwesenden.

»Nicht ganz tausend Pfund im Jahr.«

Es folgte ein peinliches Schweigen.

»Er ist ein tüchtiger Mann, vielleicht hat er sein Geld gut angelegt.«

Die Frage wurde noch akuter, als ein Beamter erschien und dem Generaldirektor von einem Telefongespräch berichtete. Eine andere amerikanische Bank – die Dyers-Bank – meldete, daß Mr. Hallaty eben eine Summe von zehntausend Pfund in amerikanischen Banknoten umgewechselt hätte. Am Vormittag hatte er das Geschäft telefonisch vorbereitet und dabei angegeben, daß die Brite-Lite-Gesellschaft das Geld benötige. Die Leitung der Dyers-Bank hatte jedoch Verdacht geschöpft, als der Kassierer meldete, daß Mr. Hallaty die Hundertdollarscheine in eine Aktentasche gesteckt hatte, die bereits halb mit amerikanischen Geldscheinen gefüllt war.

Diese Nachricht rief große Bestürzung hervor. Sofort wurde ein Bankdetektiv nach Gunnersbury geschickt, der jedoch Mr. Hallaty nicht mehr antraf. Auch die Schlüssel zum Geldtresor fehlten.

Als der Detektiv den Safe mit einem zweiten Schlüssel, der in der Direktion aufbewahrt wurde, öffnete, fand er dort nur noch einige Bündel von Zehnschilling- und Pfundnoten.

Mr. Hallaty war weder in seiner Wohnung in Hammersmith, noch in der Albemarle Street anzutreffen.

Weitere Nachforschungen ergaben, daß Mr. Hallaty zu einem kleinen Privatflugplatz gefahren war, wo stets ein Sportflugzeug für ihn bereitstand. Ein Mechaniker wollte die Maschine für Mr. Hallaty startklar machen, entdeckte jedoch, daß die Tragflächen von unbekannten Tätern beschädigt worden waren.

Als Mr. Hallaty sich den Schaden besehen hatte, war er totenbleich geworden, wieder in seinen Wagen gestiegen und mit seinen Koffern davongefahren.

Von diesem Augenblick an wurde Mr. Hallaty nicht mehr gesehen. Er tauchte in London unter, niemand wußte, wo er sich aufhielt.

Der Verlust von zweiundsiebzigtausend Pfund ist für eine Bank schon eine ernste Angelegenheit, es stellte sich aber heraus, daß Mr. Hallaty noch andere Betrügereien verübt hatte. Er war dabei sehr schlau vorgegangen, denn er kannte die Geschäftsmethoden der Banken bis in jede Einzelheit. Als die Bücher revidiert wurden, merkte man, daß er über eine Viertelmillion Pfund veruntreut hatte.

 

Drei Tage nach Hallatys Verschwinden wurde Mr. Reeder benachrichtigt, und der Direktor der Bank war außerordentlich erleichtert, als er sofort die Untersuchung des Falles übernahm.

»Sie wissen ja, was hier vorgefallen ist«, wandte er sich an den Detektiv. »Wir möchten die ganze Angelegenheit vertrauensvoll in Ihre Hände legen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir Sie schon früher gerufen hätten?«

Mr. Reeder erwiderte, daß er ihm in diesem Punkt nur recht geben könne.

»Hier sind unsere ganzen Unterlagen«, seufzte der Generaldirektor und schob ihm einen dicken Aktenordner über den Tisch zu. »Die Polizei hat mir bis jetzt wenig Hoffnungen gemacht, und ich muß sagen, daß ich kaum mehr damit rechne, Mr. Hallaty jemals wiederzusehen.«

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