Der Derbysieger

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Der Derbysieger
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LUNATA

Der Derbysieger

Der Derbysieger

Kriminalroman

© 1918 by Edgar Wallace

Originaltitel Down under Donavan

Aus dem Englischen von Ravi Ravendro

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

1

Verteufeltes Pech!«

Die lauten, barschen Worte übertönten die Unterhaltung an dem großen Tisch, und die Spieler sahen einen Moment auf. Je nach Temperament und Veranlagung schauten sie neugierig oder ärgerlich auf den älteren Mann, der sich eben erhoben hatte. Sein abstoßendes Gesicht mit den grauen Bartstoppeln zeigte eine fahle Blässe, als er wütend um sich blickte.

Er trug einen schäbigen Smoking, der wenig zu seiner vornehmen Umgebung paßte. Sein weißes Hemd war nicht ganz sauber und zerknittert, und als er vom Tisch zurücktrat, sah man seine ausgefransten Hosen und die geflickten Lackschuhe.

Mit zitternder Hand fuhr er sich durchs Haar. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, und sein ganzes Benehmen ließ den Kenner darauf schließen, daß er rauschgiftsüchtig war.

»Dieses verdammte Monte Carlo!« rief er unbeherrscht. »Niemals habe ich in diesem entsetzlichen Nest Glück! Ich gehe nach Nizza – jawohl!«

Weder sein Verhalten noch seine äußere Erscheinung ließen sich mit seinen Tischnachbarn in Einklang bringen. John Pentridge war ein heruntergekommener, mittelloser Mann.

Einer der Kasinobeamten näherte sich ihm.

»Wäre es nicht besser, wenn sich Monsieur außerhalb des Spielsaals etwas erholen wollte?« fragte er leise und höflich.

Pentridge starrte ihn wild an.

»Ich bleibe hier!« brüllte er. »Erst haben Sie mich um mein Geld gebracht – was wollen Sie denn jetzt noch?«

»Sie stören die anderen Spieler«, erklärte der Angestellte ruhig. Zwei seiner Kollegen eilten ihm zu Hilfe.

»Ich bleibe hier – was fällt Ihnen ein! Wollen Sie wohl Ihre Hand von meinem Arm nehmen?«

Aber sie hatten ihn schon fest gepackt und führten ihn durch die großen Flügeltüren aus dem Spielsaal.

Er wollte sich zur Wehr setzen; der stahlharte Griff der beiden Leute überzeugte ihn jedoch davon, daß er nicht die geringste Aussicht hatte, etwas gegen sie auszurichten.

»Morgen komme ich wieder!« rief er, als sie ihn gerade durch die Tür schleppten. »Ich komme wieder, sage ich euch, ihr Lumpen. Und dann habe ich so viel Geld, daß ich das ganze Spielernest aufkaufen kann. Ihr Spitzbuben sollt einmal nach meiner Pfeife tanzen ...«

Als sie im Vorsaal waren und ihn an die frische Luft setzen wollten, wurde der widerspenstige Mensch plötzlich ruhig und schrak zurück.

Die Beamten glaubten, daß er ihnen erneut Widerstand leisten würde, und wollten gerade scharfe Maßnahmen gegen ihn anwenden.

»Nein – nicht dahin«, sagte er atemlos und entsetzt. »Sehen Sie die Frau da – der darf ich nicht begegnen. Lassen Sie mich auf einem anderen Weg hinaus.«

Die letzten Worte hatte er schnell in Französisch gesprochen. Die Kasino-Angestellten folgten seinen Blicken und bemerkten eine junge Dame, die gerade auf sie zukam.

Sie war ungewöhnlich schön und elegant, wenn auch unauffällig gekleidet. Abweichend von den üblichen farbenfreudigen Abendtoiletten trug sie ein enganliegendes schwarzes Kleid und einen kleinen schwarzen Hut. Sie war anscheinend eben erst mit dem Auto angekommen, denn sie hatte einen dunklen Staubmantel über dem Arm. Ein schlanker, grauhaariger Herr begleitete sie. Offenbar wollten sie in den Spielsaal gehen.

»Schnell einen anderen Weg«, stöhnte der Gefangene. Er zeigte nicht mehr die geringste Aufsässigkeit, nur Schrecken und Angst prägten sich in seinen Zügen aus.

»Rechts«, sagte der Kasinobeamte, der Mitleid mit dem Alten zu haben schien.

Sie brachten den unliebsamen Gast durch eine Seitentür in einen kleineren Salon und führten ihn von hier aus auf eine Terrasse.

»Monsieur«, erklärte der Beamte mit vollendeter Höflichkeit, »im Namen der Direktion muß ich Ihnen den Rat geben, die Spielsäle des Kasinos nicht wieder zu betreten.«

John Pentridge wischte sich die Stirn mit einem schmutzigen Taschentuch.

»Woher kommt sie bloß?« fragte er, ohne sich um seine Begleiter zu kümmern. »Das ist das Ende. Ich muß das Geschäft noch heute Abend abschließen.« Die letzten Worte hatte er in Englisch gesprochen. »Wie ein Hund muß man leben, überall herumgehetzt, von einer Stadt zur anderen, von einem Land zum anderen –«

Plötzlich wandte er sich wieder den Kasinoleuten zu.

»Für heute Abend habt ihr mich erledigt«, sagte er höhnisch. »Aber morgen komme ich wieder! Dann kaufe ich mir das ganze Kasino! Und die ganze Rasselbande dazu!«

Nach dieser Drohung verließ er die Terrasse mit unsicheren Schritten, erreichte die große Freitreppe vor dem prachtvollen Gebäude des Spielklubs und verschwand in der Menge.

Aber er war beobachtet worden. Ein ungefähr gleichaltriger und ebenso schlechtgekleideter Mann folgte ihm auf der breiten Straße.

Pentridge wandte sich wütend um, als er eine Hand auf seinem Arm fühlte.

»Hallo, Penty«, sagte der Fremde freundlich, fast unterwürfig. »Du wirst doch deinen alten Kameraden nicht im Stich lassen. Kennst du den alten Chummy nicht mehr? Wir haben doch mehr als ein Ding miteinander gedreht.«

Pentridge sah ihn ärgerlich an.

»Ach so, du bist es«, versetzte er böse. »Was willst du denn von mir?«

»Meinen Anteil will ich haben, Penty.«

Sie kamen gerade unter einer elektrischen Bogenlampe vorüber, und das Licht enthüllte erbarmungslos die tiefen Furchen in seinem Gesicht. Seine kleinen Augen blitzten feindlich auf.

»Haben wir nicht seit Jahren zusammengearbeitet?« fragte er mit brüchiger Stimme. »Haben wir uns nicht miteinander durch die ganze Welt geschlagen? Penty, denkst du noch an die alten Tage in Melbourne? Ich wünschte, wir wären wieder in Australien. Weißt du noch, wie Carbine damals in Flemington das große Rennen machte?«

»Hör mal zu, Chummy«, erwiderte Pentridge aufgebracht. »Weil wir uns zufällig früher mal im Gefängnis kennengelernt haben und nun beide auf der Straße liegen, habe ich noch lange keine Ursache, für dich zu sorgen. Du hast stets deinen Anteil bekommen.«

»Aber nicht von der großen Sache«, widersprach Chummy. »Ich meine die große Entdeckung. Darauf habe ich nämlich schon all die Jahre gewartet, daß wir die zu Geld machen könnten. Hier in Monte Carlo ist ein reicher Kerl, ein Rumäne. Er hat schon überall von der Erfindung erzählt, die er jetzt kaufen will, und so habe ich auch davon gehört. Ich bin doch daran beteiligt, denn ich habe dir geholfen, die Pläne zu klauen. Und wenn du nicht mit mir teilen willst, kann ich ja heute Abend noch zu einer gewissen jungen Dame gehen, die gerade mit dem Auto nach Monte gekommen ist.« Seine Stimme klang drohend. »In einer Stunde fährt sie nach Marseille zurück. Wenn ich der sage, daß ...«

»Halt das Maul«, zischte Pentridge. Er war so erregt, daß seine Lippen zuckten. »Komm mit, wir wollen die Sache in aller Ruhe besprechen. Geh aber nicht neben mir, sondern bleibe in einiger Entfernung – ich will nicht, daß man uns hier zusammen sieht.«

Er ging durch die belebten Straßen Monte Carlos zu dem vornehmen Villenviertel der reichen Leute, das abseits des regen Verkehrs lag, und bog schließlich in den Torweg eines großen Hauses ein.

»Wohin gehst du denn?« fragte Chummy und blieb argwöhnisch stehen.

»Wir wollen uns doch an einem ruhigen Platz unterhalten. Komm nur mit, hier wohnt ein Freund von mir.«

Nur widerstrebend folgte ihm Chummy auf den düsteren Weg, der dicht von Bäumen beschattet wurde.

 

Pentridge griff nach dem Totschläger in seiner Tasche.

»Was ich dir sagen wollte –«, begann Chummy, aber weiter kam er nicht, denn Pentridge schlug mehrmals heftig auf ihn ein.

Zwei Minuten später trat der Verbrecher aus der finsteren Allee und ging mit schnellen Schritten davon. Der Zug nach Nizza fuhr gerade an, als er den Bahnsteig erreichte, und es gelang ihm, noch aufzuspringen. In einem leeren Abteil ließ er sich nieder, beruhigt in der Überzeugung, daß niemand ihn mit seinem früheren Freund gesehen hatte. Hiermit schien er auch recht zu behalten, denn als der Tote am nächsten Morgen gefunden wurde, meldete sich niemand, der über den Mörder etwas aussagen konnte. In Monte Carlo werden derartige Verbrechen möglichst geheimgehalten, da man die Fremden nicht erschrecken will. Infolgedessen wurden die Nachforschungen noch am ersten Tage eingestellt, und Chummy wurde in einem stillen Winkel des Friedhofes begraben, wo die Namenlosen beigesetzt werden.

2

In der warmen Frühlingsnacht bewegte sich eine, fröhliche, lachende Menge in den Straßen Monte Carlos. Am Tage hatten die großen Rennen stattgefunden, und es hielten sich viele Fremde in der Stadt auf. Aus Nizza, Mentone, ja selbst aus San Remo und anderen Orten der Küste waren sie angelockt worden. Die herrlichen Parkanlagen waren bevölkert von festlich gekleideten Menschen, und die Cafés waren überfüllt.

Zwei Herren traten langsam aus dem Palace-Hotel und blieben auf der breiten, marmorgedeckten Terrasse vor dem Gebäude stehen, um die bunte Menge zu betrachten. Sie waren beide noch jung, und an dem eleganten Schnitt ihrer Anzüge konnte man sie auf den ersten Blick als Engländer erkennen.

Offenbar hatten sie keine große Eile, denn sie warteten einige Zeit und ließen das anregende Bild auf sich wirken. Der größere mochte ungefähr dreißig Jahre zählen, hatte ein sonnengebräuntes, glattrasiertes Gesicht und hielt sich so gerade, daß man ihn für einen Offizier hätte halten können. Trotzdem hatte Million Sands nur als Freiwilliger den Krieg bei den südafrikanischen Jägern mitgemacht. Über seinen großen, klaren, grauen Augen, die freundlich in die Welt schauten, wölbten sich buschige, dunkle Brauen, und in seinen Zügen drückten sich Energie und Tatkraft aus. Besonders der scharf gezeichnete Mund und das eckige, harte Kinn verrieten starke Willenskraft. In gewissem Gegensatz dazu standen allerdings die vielen Lachfältchen in seinen Augenwinkeln.

Eric Stanton, sein Begleiter, machte durchaus den Eindruck eines vornehmen, guterzogenen Engländers. Auch er war glattrasiert und hielt sich aufrecht, aber seine Züge waren weicher und milder. An seiner gesunden Gesichtsfarbe konnte man erkennen, daß er sich viel in der freien Luft aufhielt.

Er streifte die Asche seiner Zigarette ab und wandte sich dann plötzlich an Milton Sands.

»Also, wo soll die Reise hingehen?«

Sands sah sich lächelnd um.

»Ich werde mich wieder zu dem Sündenbabel begeben.«

»Ins Kasino? Ich hoffe nur, daß Sie mehr Glück haben als mein –« Er wollte gerade sagen »Freund«, änderte aber seine Absicht. »– als Wilton. Wie ist es Ihnen denn kürzlich am Spieltisch ergangen?«

Sands blies einige Rauchringe in die stille Abendluft, bevor er antwortete. Er freute sich darüber, daß Toady Wilton Geld verloren hatte, denn er konnte diesen Menschen nicht leiden.

»Das ist eigentlich schwer zu sagen«, entgegnete er vorsichtig. »In gewisser Weise ist es mir nicht schlecht gegangen. Meinen Zweck habe ich allerdings nicht erreicht. Ich bin mit verhältnismäßig geringen Mitteln aus London abgefahren, und ich habe bis jetzt weder etwas verloren noch etwas gewonnen.«

Eric Stanton lachte.

»Sie haben wirklich einen unverwüstlichen Humor. Ich habe mir schon oft überlegt, ob die Leute auf ihre Kosten kommen, die ins Kasino gehen. Ich habe niemals gespielt – wenigstens nicht, um Geld zu gewinnen. Ich beteilige mich wohl an den Rennwetten, aber Roulette, Bakkarat und andere Glücksspiele habe ich noch nicht versucht.«

»Das ist auch sicher eine ganz vornehme Lebensauffassung, aber ich bin nicht hier, um die Zeit totzuschlagen, sondern um Geld zu verdienen. Daraus mache ich gar kein Hehl. Ich kam nach Monte Carlo mit einem System und einem Betriebskapital von zweihundert Pfund. Das System habe ich immer noch!«

»Den gewünschten Erfolg hat es Ihnen anscheinend nicht gebracht.«

»Ich probiere es eben erst aus, aber ich sehe dem Resultat mit philosophischer Ruhe entgegen. Wenn Sie wollen, können Sie mich einen Glücksjäger und Abenteurer nennen. Es macht mir ungeheuren Spaß, anderen Leuten Geld abzunehmen, besonders wenn ich es mit einem dicken französischen Croupier zu tun habe. Aber auf alle Fälle habe ich eine kluge Vorsichtsmaßregel ergriffen«, meinte er lächelnd, »Im Hotel habe ich eine größere Summe hinterlegt, damit ich unter allen Umständen meine Rechnung bezahlen kann. Außerdem habe ich schon mein Rückreisebillett nach London in der Tasche. Drückende Sorgen sind also nicht vorhanden. Und das übrige Geld –«, er deutete vielsagend auf das Kasino hin, das in hellem Lichterglanz strahlte – »kann ich ruhig verspielen. Also vorwärts!«

Sie gingen die Stufen langsam hinunter und bahnten sich einen Weg durch die auf und ab flutende Menge.

Drei Herren im Abendanzug saßen an einem kleinen Marmortisch auf der Terrasse des Hotels, tranken Kaffee, und rauchten Zigaretten. Sie hatten die beiden mit Interesse beobachtet.

»Warum haben Sie sich denn vor Ihrem Freund versteckt, Toady?« fragte Sir George Frodmere gelangweilt.

Toady Wilton sah ihn mißmutig an.

»Lassen Sie mich doch in Ruhe!«

»Warum ärgern Sie sich über meine Frage? Es ist doch keine Beleidigung, wenn man Freund eines Millionärs genannt wird!«

»Sie machen schon den ganzen Abend Bemerkungen über mich«, erwiderte Wilton düster. »Ich habe es satt, daß man mich immer zum besten hält. Wenn Sie durchaus wissen wollen, warum ich weggesehen habe, will ich es Ihnen sagen. Ich wollte nicht haben, daß er mich In Ihrer Gesellschaft sieht!«

Sir George lachte leichthin. Er war nicht empfindlich, und die Beleidigung, die in diesen Worten lag, berührte ihn nicht. Er strich seinen kurzen Schnurrbart und betrachtete Wilton wohlwollend durch sein Monokel. Sir George Frodmere war ein hübscher Mann mit frischer Gesichtsfarbe. Ein Typ, wie ihn französische Karikaturisten zeichnen, wenn sie einen charakteristischen Engländer darstellen wollen.

»Mein lieber Toady«, erwiderte er gönnerhaft, »ein Mann, der sein ganzes Leben lang mit Herzögen, Lords und Mitgliedern der Aristokratie verkehren will, sollte etwas höflicher zu einem Baronet sprechen. Ich weiß wohl, daß Ihr Freund prinzipiell etwas gegen mich hat, aber er kann mir nichts vorwerfen, und nach außen hin bin ich jedenfalls immer noch das Musterbeispiel eines englischen Barons. Übrigens ist dieser Stanton eine tadellose Erscheinung«, fuhr er nachdenklich fort. »Er sieht seiner Mutter sehr ähnlich. Ich kann mich noch auf sie besinnen.«

Bei diesen Worten faßte er Wilton plötzlich scharf ins Auge, und Toady wurde unruhig.

»Sie war eine schöne Frau.« Sir George kniff die Augenlider zusammen. »Es ist wirklich schade, daß sie ein so trauriges Leben hatte. Sie ist doch damals ihrem Mann fortgelaufen?«

»Ja«, brummte Toady und schlug vor, jetzt zu gehen.

»Ihre ungeschickte Bemühung, mich abzulenken, beweist mir, daß Sie entweder sehr bescheiden sind und nicht gern über sich selbst sprechen, oder daß Sie ein besonders schlechtes Gewissen haben. Und da ich allzu große Bescheidenheit früher noch nie bei Ihnen bemerkt habe, bleibt nur die zweite Möglichkeit übrig. Sie ist also damals von dem alten Stanton fortgegangen, weil –«

»Sie wissen doch alles ganz genau«, entgegnete Wilton barsch. »Sie hat ihn verlassen, weil er sie zu Unrecht beschuldigte, daß sie ein Verhältnis mit Lord Chanderson gehabt hätte.«

»Und ihr kleines Töchterchen hat sie auch mitgenommen, nicht wahr? Habe ich nicht recht? Es war eine romantische Geschichte. Und man hat nachher nie wieder etwas von ihr gehört.«

»Mein Freund Stanton hat ein kleines Vermögen ausgegeben, um ihren Aufenthalt ausfindig zu machen. Aber es ist eine unangenehme Sache, und ich wünschte, Sie sprächen nicht mehr darüber.« »Man hat nichts mehr von ihr gehört«, wiederholte Sir George, ohne sich um die Bemerkung Wiltons zu kümmern. »Weder von ihr noch von ihrer Tochter. Aber der alte Stanton hat entdeckt, daß er sich von anderen Leuten hatte hinters Licht führen lassen. Alles war nur auf die Machenschaften eines ganz gemeinen Menschen zurückzuführen, der wahrscheinlich aus reiner Bosheit die Beweise gegen die Frau gefälscht hat. Haben Sie etwas gesagt, Toady?«

»Nein«, entgegnete Wilton kleinlaut.

»Als Stanton sein Unrecht einsah, hat er große Summen ausgegeben, um ihren Aufenthalt zu erfahren«, fuhr Sir George fort. »Schließlich hinterließ er die Hälfte seines Vermögens seiner Frau und seiner Tochter, die er beide so tief gekränkt hatte.«

»Es war eben eine Verkettung unglücklicher Umstände«, erwiderte Wilton undeutlich. »Ihr Mann glaubte, sie hätte ein Verhältnis mit Chanderson gehabt. Er sah Briefe, die der Lord an sie geschrieben haben sollte, und nachher stellte sich heraus, daß es nur Fälschungen waren.«

»ja, das habe ich auch gehört.«

Er trank seinen Likör aus.

»Und Sie waren der beste Freund des alten Stanton und haben auch noch eine kleine Erbschaft von ihm erhalten.«

»Aber welchen Zweck hat es denn, all die alten Geschichten wieder aufzuwärmen?« fragte Toady nervös. »Sie wissen ebensogut wie ich, daß er mir in seinem Testament nichts hinterlassen hat. Nur auf dem Totenbett hat er noch eine Bemerkung über mich gemacht, und sein Sohn schloß daraus, daß mir der alte Herr Geld zukommen lassen wollte.«

»Und er hat Ihnen auch Geld zukommen lassen. Sie sind wirklich ein Glückspilz, Toady. Wenn Eric Stanton Sie so gut kennen würde, wie ich Sie kenne, hätten Sie wahrscheinlich keine zehntausend Pfund erhalten.«

Wilton antwortete nicht, sondern wandte sich an Bud Kitson, der neben ihm saß und bisher geschwiegen hatte. Bud fühlte sich in der Gesellschaft der beiden anderen Herren nicht recht wohl. In seinem schlechtsitzenden Anzug sah er nicht vorteilhaft aus, und er wußte nicht, was er mit seinen großen Händen anfangen sollte. An der allgemeinen Unterhaltung konnte er sich auch nicht beteiligen, da er nicht zu den Kreisen seiner beiden Begleiter gehörte. Von Zeit zu Zeit faßte er nervös an seinen Kragen, als ob ihn dieser drückte, und es machte ihm anscheinend wenig Vergnügen, diese Abendkleidung zu tragen.

»Wann kommt denn der Junge, auf den wir warten?« fragte er.

»Sie müssen sich noch etwas gedulden, Bud«, entgegnete Sir George. »Unser Freund Soltescu trinkt gern etwas, und Sie wissen ja wohl selbst, daß solche Leute es für gewöhnlich nicht sehr genau mit der Zeit nehmen und immer unpünktlich sind.«

»Ich wünschte nur, er käme«, meinte Toady mißvergnügt. »Er ist ja wahnsinnig, daß er in Monte Carlo mit sechzigtausend Pfund in der Tasche herumläuft! Sämtliche Verbrecher Europas treiben sich doch hier auf den Straßen herum!«

»Nicht alle«, erwiderte Sir George belustigt. »Wenigstens kenne ich drei, die hier in aller Ruhe vor dem Palace-Hotel sitzen. Aber ich gebe Ihnen recht, Toady. Es wäre ein Skandal, wenn dieses schöne Geld in fremde Hände fallen sollte, nachdem wir uns so große Mühe gegeben und so viele Pläne ausgearbeitet haben. Von Rechts wegen gehörte es uns eigentlich schon.«

»Ich begreife die Geschichte nicht«, mischte sich Bud Kitson ein. »Ich dachte, dieser Mensch wäre einer von uns. Was ist denn nun eigentlich los?«

Sir George sah ihn lächelnd an.

»Die Sache ist furchtbar einfach«, sagte er liebenswürdig. »Monsieur Soltescu ist unheimlich reich und hat große Ländereien und Fabriken in der Nähe von Bukarest. Er hat schon einige unserer interessanten Unternehmungen finanziert, und an einer der letzten sind Sie ja auch persönlich interessiert. Aber wenn er auch gewissermaßen unser Teilhaber ist, so bleibt er doch im Grunde genommen ein dummer Kerl. Jawohl, das stimmt, obwohl er zu den größten und reichsten Geschäftsleuten Europas gehört, hinter vielen fragwürdigen Affären steckt und heute oder morgen eine Erfindung kaufen will, die ihn vielleicht zu einem der reichsten Leute der Welt macht. Sie haben Bud das wahrscheinlich noch nicht auseinandergesetzt?«

 

Wilton schüttelte den Kopf. Er hatte es nicht für nötig gehalten, diesem primitiven Menschen, den er nur als ein Werkzeug betrachtete, auch noch Erklärungen zu geben.

»Also dann will ich es Ihnen sagen«, begann Sir George, neigte sich etwas vor und sprach jetzt vollkommen ernst. »Soltescu besitzt die größten Glasfabriken in ganz Südeuropa. Seit Jahren hat er den Versuch gemacht, bruchsicheres, biegsames Glas herzustellen – Glas, das man biegen kann wie ein Stück Pappe, ohne daß es bricht. Die Chemiker der ganzen Welt arbeiten seit Jahrzehnten an der Lösung dieses Problems, aber ohne den geringsten Erfolg. Soltescu ist aber felsenfest davon überzeugt, daß man solches Glas fabrizieren kann, und hat deshalb einen Preis von fünfundzwanzigtausend Pfund für die Erfindung ausgesetzt. Und jetzt ist er einer solchen Erfindung auf der Spur. Ich weiß nicht, wer sie ihm angeboten hat.« Er zuckte die Schultern. »Der Mann muß aber hier in der Nähe leben und verhältnismäßig arm sein. Soltescu hat schon längere Zeit über die Angelegenheit verhandelt und auch bereits Proben des neuen Glases erhalten. Er ist hergekommen, um den Vertrag abzuschließen. Ist Ihnen die Sache jetzt klar?« Bud Kitson nickte.

»Er gehört zu den unvorsichtigen Menschen, die immer große Geldsummen mit sich herumtragen«, erklärte Sir George weiter. »Wahrscheinlich hat er im Augenblick sechzigtausend Pfund in der Tasche, denn er will den Mann gleich in bar auszahlen. Das heißt, er wird die Erfindung natürlich um eine viel geringere Summe kaufen können, so daß noch eine schone Portion von dem Geld übrigbleibt.« Er klopfte mit dem Mittelfinger auf den Marmortisch. »Die Vorsehung schickt uns nun nicht jeden^ Tag einen so reichen Mann in den Weg, und da ist es mir ziemlich gleich, ob er ein Fremder oder ein Geschäftsfreund ist. Geld ist eben Geld, und eine so günstige Gelegenheit darf man nicht vorübergehen lassen«, meinte er mit einem Schulterzucken. »Außerdem steht er meistens unter Alkohol, und ich sehe nicht ein, warum wir nicht doppelt an ihm verdienen sollten.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Bud leise. »Sollen wir ihm auflauern und ihm das Geld sofort abnehmen?«

»Nein, ganz so gewinnsüchtig sind wir doch nicht«, entgegnete Sir George lächelnd. »Er soll ruhig erst sein Patent kaufen. Es hat keinen Zweck, dem armen Erfinder das Geld wegzunehmen. Aber was übrigbleibt, ist auch noch eine sehr große Summe.«

»Verstehe vollkommen.« Bud Kitson nickte.

»Also, um es Ihnen weiter zu erklären«, begann der Baronet wieder, fing aber einen warnenden Blick von Toady Wilton auf und schwieg.

Ein Herr von etwa fünfundvierzig Jahren stieg die breite Marmortreppe zur Hotelterrasse herauf. Er war etwas untersetzt, hatte einen kahlen Kopf und einen schwarzen Spitzbart. Den Hut hielt er in der Hand und trocknete sich die Stirn mit einem seidenen Taschentuch. Er strauchelte und wäre beinahe gefallen. Sir George und Toady bemerkten sofort, daß er zu viel getrunken hatte.

»Ach, da sind Sie ja!« rief Soltescu auf Englisch. Er beherrschte diese Sprache sehr gut, denn er war in England erzogen worden. »Freue mich sehr, Sie zu sehen.«

Er gab dem Baron beide Hände und hätte ihn auch geküßt, wenn ihm Sir George nicht ausgewichen wäre.

»Ich habe Sie leider warten lassen müssen«, sagte er schnell und liebenswürdig. »Ich bitte das zu entschuldigen. Aber ich hatte auch viele Schwierigkeiten zu überwinden. Obendrein sind alle Straßen in diesem verdammten Monte Carlo so voller Menschen, daß man kaum vorwärtskommt. Mein Auto ist außerdem nicht hier. Ich habe mir schon den ganzen Weg lang Vorwürfe gemacht, daß ich nicht zu der verabredeten Stunde hier sein konnte!«

Je länger er sprach, desto mehr Fehler machte er. Wie die meisten Rumänen suchte er London selten zu seiner Erholung auf, da er die Annehmlichkeiten von Paris dem nüchternen Leben in der Themsestadt vorzog.

»Ich habe aber nur wenig Zeit, weil ich heute Abend noch nach Nizza muß, um mit meinem Erfinder zu sprechen.«

»Was sind Sie doch für ein tüchtiger Geschäftsmann«, erwiderte Sir George anerkennend. »Wir Engländer könnten noch viel von Ihnen lernen.«

Soltescu zuckte die Schultern.

»In vielen Dingen müssen wir uns aber immer wieder die Engländer zum Vorbild nehmen«, entgegnete er mit einem höflichen Lächeln.

Es unterlag keinem Zweifel, daß er schon viel Alkohol zu sich genommen hatte, aber trotzdem konnte er noch vollkommen klar denken.

»Wir waren schon besorgt um Sie, Monsieur Soltescu«, sagte Toady Wilton verbindlich.

»Besorgt um mich?« wiederholte der Rumäne überrascht.

»Ja. Wir halten es nämlich nicht gerade für sehr ratsam, zu dieser Zeit in Monte Carlo mit einer so großen Summe in der Tasche spazierenzugehen«, erklärte Sir George.

Monsieur Soltescu lachte und klatschte in die Hände, um den Kellner zu rufen. Er bestellte eine Flasche süßen Sekt, und der Baron schauderte bei dem Gedanken, daß er eventuell auch ein Glas mittrinken müßte.

»Sehen Sie, hier ist mein Geld.« Soltescu zog seine Brieftasche heraus.

Sir George hätte schon bemerkt, wie stark der Rock des Mannes auf der rechten Seite aufgebauscht war, und er atmete erleichtert auf.

»O nein, mein Geld habe ich mir nicht stehlen lassen«, erklärte Soltescu stolz und schlug mit der Ledertasche auf den Tisch, daß Gläser und Kaffeetassen in Gefahr gerieten. Er entschuldigte sich allerdings auch sofort dafür.

Kitson, dessen Blicke magnetisch von der schwarzen Ledertasche angezogen wurden und der in diesen Dingen Fachmann war, sah aber, daß der Rumäne trotz der liebenswürdigen Entschuldigung die Tasche fest in der Hand hielt.

»Heute Abend gehe ich nach Nizza zu der entscheidenden Besprechung. Es ist bereits alles arrangiert. Endlich komme ich in den Besitz der chemischen Formel und der Beschreibung des Herstellungsprozesses. Ich sage Ihnen, die Welt wird staunen!« Er strahlte vor Freude. »Vor allem die Fachwelt wird staunen! Die Sache gehört zu den wichtigsten Erfindungen, die während des letzten Jahrzehnts gemacht wurden, und wird geradezu eine Revolution auf dem Wirtschaftsmarkt hervorrufen. Hoffentlich haben Sie verstanden, was ich Ihnen sagen wollte. Mein Englisch ist nicht so einwandfrei, wie es eigentlich sein sollte, besonders wenn ich ein wenig mehr als gewöhnlich getrunken habe.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Monsieur Soltescu«, erwiderte Sir George liebenswürdig. »Ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, daß Sie heute Abend schon etwas getrunken haben.«

Der Rumäne lachte und steckte die Brieftasche wieder ein.

»Oh, ich habe schon ganz gehörig gefeiert. Zwei Flaschen Sekt habe ich geleert, und ich fühle mich schon recht vergnügt. Aber jetzt wollen wir einmal den geschäftlichen Teil besprechen.«

Er setzte sich aufrecht und rückte seinen Stuhl so, daß er alle drei sehen konnte.

»Sie haben einen großen Schlag für die Rennen vorbereitet und sind davon überzeugt, daß die Sache gelingen wird und daß wir eine Menge Geld dabei machen werden. Ich selbst komme zum Derby nach England hinüber. Es wird mir Vergnügen machen, als Zuschauer dabeizusein. Ich frage Sie nicht«, fuhr er fort und hob die Hand, »ob Ihre Pläne mit dem Gesetz in Übereinstimmung stehen, oder ob sie irgendwie unehrenhaft sind. Mir genügt es, wenn ich Geld dabei verdienen kann, und wenn es ein großes sportliches Ereignis wird. Sie gehören zu den besten Adelskreisen Englands, Sir George, und ich bin zufrieden, wenn Sie die Sache selbst planen. Ich übernehme die Finanzierung. Welche Summe benötigen Sie?«

»Fünftausend Pfund.«

»Fünftausend Pfund«, wiederholte Soltescu nachdenklich. »Und welche Sicherheit bieten Sie mir dafür?«

»Mein Name muß Ihnen genügen«, entgegnete Sir George nachdrücklich.

»Genügt mir auch. Morgen überweise ich Ihnen den Betrag.« Er dachte einen Augenblick nach. »Nein, morgen noch nicht. Heute Abend fahre ich nach Paris. Ich gebe Ihnen einen Scheck auf meine Bank – Credit Lyonnais – ich habe ein Konto bei der Zentralstelle in Paris.«

»Aber warum wollen Sie mir die Summe nicht heute Abend in bar zahlen?« fragte George freundlich. »Sie tragen doch so viel Geld mit sich herum.«

»Das geht nicht.« Der Rumäne schüttelte den Kopf. »Es ist möglich, daß ich die ganze Summe brauche. Ich stehe vor dem Ankauf einer großen Erfindung, und ich weiß nicht, was ich im Anschluß daran in den nächsten Tagen noch alles zu erledigen habe. Sie verstehen mich doch?« wandte er sich an Toady Wilton.

»Vollkommen«, antwortete dieser höflich. Er hatte jedoch kein Wort verstanden, denn Soltescu sprach schnell und vergaß in der Begeisterung alle englischen Sprachregeln. Nur Leute, die lange mit ihm bekannt waren, konnten ihm folgen.

»Heute Abend reise ich nach Paris, wie ich Ihnen schon gesagt habe. Um 23.43 fahre ich von Nizza ab. Meine Adresse in Paris ist Ihnen ja bekannt.«

Er erhob sich etwas unsicher, schüttelte Sir George mit großer Herzlichkeit beide Hände und verabschiedete sich mit demselben Enthusiasmus von Wilton und Kitson.

Sie sahen ihm nach, als er die Treppe hinunterging.

»Er fährt heute Abend. Sie haben doch gehört, wie er es sagte«, bemerkte Sir George leise. »Wilton, gehen Sie sofort zum Bahnhof und nehmen Sie drei Schlafwagenkarten von Nizza nach Paris, und sehen Sie vor allem zu, daß Sie herausbringen, welche Bettnummer Soltescu hat.«