Die Pest

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Dr. Judy Mikovits & Kent Heckenlively

DIE PEST

Eine mutige Wissenschaftlerin entdeckt

ein neues humanes Retrovirus und seinen

Zusammenhang mit dem Chronischen

Erschöpfungssyndrom (ME/CFS),

Autismus und anderen Krankheiten

MIT EINEM VORWORT VON

HILLARY JOHNSON


Dr. Judy Mikovits und Kent Heckenlively

Die Pest - Eine mutige Wissenschaftlerin entdeckt ein neues humanes Retrovirus

und seinen Zusammenhang mit dem Chronischen Erschöpfungssyndrom (ME/CFS), Autismus und anderen Krankheiten

1. deutsche Auflage 2020

ISBN 978-3-96257-192-4

© 2020, Narayana Verlag GmbH

Titel der Originalausgabe:

Plague: One Scientists Intrepid Search for the Truth about Human Retroviruses

and Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS), Autism, and Other Diseases

Copyright © 2014 by Kent Heckenlively and Judy Mikovits

Foreword copyright © Hillary Johnson 2014

A Note from Judy Mikovits, PhD copyright © 2017 by Judy Mikovits

Copyright © Skyhorse Publishing, Inc. 2014

All rights reserved

Übersetzung aus dem Englischen: Regina Clos

Cover: Rain Saukas

Herausgeber:

Unimedica im Narayana Verlag GmbH,

Blumenplatz 2, D-79400 Kandern

Tel.: +49 7626 974 970–0

E-Mail: info@unimedica.de

www.unimedica.de

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Für die Forscher, die jeden Tag daran arbeiten, die Integrität ihrer Arbeit vor Spezialinteressen zu schützen, sowie die Patienten, die auf diese unvoreingenommene Wissenschaft angewiesen sind.

Haftungsausschluss

Die in diesem Buch dargestellten sachlichen Informationen basieren auf den Erfahrungen, Dokumenten und Erinnerungen der Autoren sowie der verschiedenen Personen, die an diesen Ereignissen beteiligt waren.

Die im Text berichteten Gespräche entstammen jedoch dem Gedächtnis der Autoren und anderer, die an diesen Ereignissen beteiligt sind, sowie aus erhärtenden Dokumentationen, sofern verfügbar, und stellen nur ihre bestmögliche Erinnerung dar. Diese Erinnerungen sind nicht als Aussagen über wesentliche Tatsachen gedacht, sondern vielmehr als Meinung der Autoren und anderer, die an diesen Ereignissen beteiligt waren. Es ist ihre Meinung und ihre Interpretation über die Bedeutung des Gesagten und dieser Gespräche.

Weder die Autoren noch der Herausgeber behaupten, dass die Gespräche korrekt aufgezeichnet wurden, und wir entschuldigen uns im Voraus für Auslassungen oder Fehler in Inhalt oder Bedeutung.

Alle dargestellten Personen und Ereignisse sind real. Einige der Namen wurden zum Schutz der betroffenen Personen geändert.

Viele der wichtigsten Dokumente, die die Informationen in diesem Buch belegen, sind unter www.plaguethebook.com verfügbar.

Ein erfolgloses Virus tötet seinen Wirt. Ein kluges Virus harrt bei ihm aus.

—James Lovelock

Du wirst kein „Dissident“, nur weil du dich entscheidest, eines Tages diese ausgesprochen ungewöhnliche Laufbahn einzuschlagen. Du wirst da hineingeworfen durch dein persönliches Verantwortungsbewusstsein in Verbindung mit einer vielschichtigen Reihe äußerer Umstände. Du wirst aus den bestehenden Strukturen hinausgeworfen und gerätst in eine Konfliktposition mit ihnen. Es beginnt als Versuch, deine Arbeit gut zu machen, und endet damit, als Feind der Gesellschaft gebrandmarkt zu werden.

—Václav Havel

Inhalt

Vorwort: Eine Krankheit, die der Wirtschaft ganzer Nationen schaden kann

Prolog: Die Verhaftung

Kapitel 1: Die HHV-6 Konferenz und die Kultur der Wissenschaft

Kapitel 2: Der Umzug nach Nevada

Kapitel 3: Der zweite Tag im Gefängnis

Kapitel 4: Ein Retrovirus beim Chronischen Erschöpfungssyndrom?

Kapitel 5: Das Auftauchen des Chronischen Erschöpfungssyndroms und des Autismus in der medizinischen Literatur

Kapitel 6: Der dritte Tag im Gefängnis

Kapitel 7: Die Einreichung bei Science

Kapitel 8: Die Tagung am 22. Juli – nur für geladene Gäste

Kapitel 9: Der vierte Tag im Gefängnis

Kapitel 10: Die Autismus-Frage

Kapitel 11: Science und Sensibilität

Kapitel 12: Der fünfte Tag im Gefängnis – und Freiheit?

Kapitel 13: Die Gegenoffensive

Kapitel 14: 2010 – der lange, heiße Sommer der Bestätigung

Kapitel 15: Die Anhörung am 19. Dezember und Schadenersatz

Kapitel 16: Der erste (und letzte) internationale Workshop über XMRV – und der berühmteste Virusjäger der Welt steigt ein in die hitzige Debatte

Kapitel 17: Das Theater um die Bezeichnung und die „einmalige Rekombination“

Kapitel 18: Gerechtigkeit nach Whittemore-Art

Kapitel 19: Der Silverman-Fehler

Kapitel 20: Die Lipkin-Studie

Kapitel 21: Die Wiederentdeckung des XMRV?

Danksagungen

Referenzen

Index

Über die Autoren

Vorwort
Eine Krankheit, die der Wirtschaft ganzer Nationen schaden kann

von Hillary Johnson

Ihr Vortrag war der letzte an diesem Tag, und der Moderator gestattete eine letzte Frage. Ich erhob meine Hand. „Ist es wahr, dass Sie bei dieser Krankheit ein neues Pathogen entdeckt haben?“ Ein Gerücht war mir zu Ohren gekommen, aber meine Erwartungen konnten kaum geringer sein. Schweigen folgte, während Judy Mikovits die Seiten des Rednerpults ergriff, als ob sie ihre mögliche Antwort abwägen würde. „Ja“, sagte sie schließlich. Vereinzeltes Lachen ertönte im Saal, als ob sie gerade einen Scherz gemacht hätte. Nur ein Auditorium von Menschen, die seit sehr langer Zeit krank waren und die auch nur das geringste Wissen über die nervenaufreibende Geschichte ihrer Krankheit hatten, konnte so hoffnungslos sein, dass eine solche Behauptung als lächerlich betrachtet werden konnte. „Es ist kein neues Pathogen“, fuhr sie fort und senkte plötzlich ihre Stimme, sodass sie kaum hörbar war. „Aber es ist etwas Neues bei dieser Krankheit. Wir haben bei Science eine Publikation eingereicht“, fügte sie hinzu.

Mit diesem faszinierenden wissenschaftlichen Rätsel endete die wissenschaftliche Konferenz, die jährlich von der britischen Vereinigung Invest in ME am One Birdcage Walk nahe dem britischen Parlament abgehalten wurde. Es war im Mai 2009. Meine Freundschaft und berufliche Verbindung mit Judy Mikovits begann. Sie konnte sich damals den Hexenkessel nicht vorstellen, in den zu geraten sie dabei war, das Auf und Ab und die erschreckenden Wendungen, die in diesem Buch beschrieben werden.

 

Mit großer Anteilnahme habe ich im Verlauf der nächsten drei Jahre beobachtet und gehört, wie Mikovits von einem Höllenkreis in den nächsten zu springen schien, von Kritikern in einer Weise angezweifelt und verhöhnt, wie das nur wenigen Wissenschaftlern jemals geschehen wird. Am Ende würde ihr Verbrechen als Ketzerglauben erscheinen. Es war eine geheime Anklage, die jedem vorbehalten war, der es wagte, Beweise für eine virale Ursache, und schlimmer noch, für die Übertragbarkeit einer Krankheit zu liefern, die Regierungen auf allen Kontinenten seit drei Jahrzehnten mit einer widersprüchlichen Mischung von Erklärungen haben effektiv verschwinden lassen,– Erklärungen, von denen keine logisch war.

Während ihre ausstehende Publikation noch redaktionell bearbeitet wurde, begann Mikovits das Kommando in einer Schlacht zu übernehmen, die oft als heiliger Krieg der Medizin bezeichnet wurde. Aber damals wurde die zwölfsilbige „Myalgische Enzephalomyelitis“, die verständlicherweise zu ME abgekürzt wurde, nie als eine normale Krankheit angesehen, und auch die Reaktion des Gesundheitswesens war niemals auch nur annähernd normal gewesen. Stattdessen wurde sie mit einer merkwürdigen Last von Bedeutungen beladen, ein Wort, das Susan Sonntag in ihrem berühmten Essay „Illness as Metaphor“ („Krankheit als Metapher“) verwendete. „Nichts ist strafender, als einer Krankheit eine Sinnhaftigkeit zuzuschreiben – und diese Sinnhaftigkeit ist ausnahmslos moralisch“, schrieb Sonntag. „Jede bedeutende Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang im Dunkeln liegt und für die es keine wirksame Behandlung gibt, neigt dazu, mit Bedeutung überfrachtet zu werden.“

Seit ihrem pandemischen Auftreten in den späten 1970ern wurde ME als psychiatrische Störung von Menschen propagiert, die „schlechte Coping-Strategien [haben] oder eine Vorgeschichte von unerreichbaren Zielsetzungen“, wie ein Wissenschaftler der US-Regierung in einem einflussreichen Artikel im Jahr 1988 schrieb. „Letztendlich muss jede Hypothese über die Ursache der ME die Psychopathologie mit einbeziehen, von der sie begleitet wird und die ihr in manchen Fällen vorausgeht“, fügte er hinzu. Unterstützt von einer passiven Laienpresse haben Wissenschaftler der Regierung versucht, die Krankheit abzutun, indem sie den Betroffenen allerlei Schwächen und boshafte Motive zuschrieben. Zu dieser Liste gehörte, die Patienten würden simulieren und die Sozialsysteme betrügen, sie seien entweder Mitleid heischend oder Typ-A-Persönlichkeiten, die eines Tages einfach zusammenbrechen, oder Menschen, die etwas über die Krankheit gelesen hatten und sie „gerne haben wollten“. Die Centers for Disease Control (CDC) würden wahrscheinlich jeden Wettbewerb darüber gewinnen, welche der Einheiten der US-Regierung mehr getan hat, um über die Opfer herzuziehen und die Krankheit zu verharmlosen. Die CDC haben Aussagen von sich gegeben wie „Hysterie“, „Yuppie-Burnout“, eine genetisch bedingte „Unfähigkeit, mit Stress umzugehen“, eine Vorgeschichte von sexuellem Kindesmissbrauch, „Ärzte, die sich selbst in einen Rausch hineingearbeitet haben“, „geheime Absprachen zwischen Patienten und Ärzten“ und „eine Epidemie von Diagnosen“, um nur ein paar der unhaltbaren „Ursachen“ zu nennen, die in den vergangenen dreißig Jahren von ganz oben aufgetischt wurden.

Mit jedem Jahr, das vergeht, verblasst die Erinnerung daran, wie plötzlich und wie aggressiv diese Krankheit in den späten 1970ern und frühen 1980ern besonders in großen Küstenstädten wie New York, Boston, Los Angeles und San Francisco auftauchte. Jeder, der nach, sagen wir mal, 1985 oder 1990 geboren ist, wird sich an keinen Zeitabschnitt im eigenen Leben erinnern können, in dem diese Geißel praktisch unbekannt war. Doch Mitte der 1980er-Jahre riefen besorgte Ärzte und verzweifelte Patienten immer wieder bei den Centers for Disease Control und den Gesundheitsämtern der großen Städte dieses Landes an, sodass sie in die Spitzenkategorie der Krankheiten rutschte, über die Anfragen eingingen. Am Ende übertrafen die Anrufe sowohl bei den CDC als auch bei den NIH die Anfragen über AIDS auf dem Höhepunkt der AIDS-Epidemie.

Im Jahr 1988 traf sich eine kleine Gruppe besorgter Wissenschaftler und Kliniker in der Forschung in Newport, Rhode Island, um die Krankheit und ihre Ursachen zu diskutieren. Charles Carpenter, Medizinprofessor am Brown University Hospital, stellte fest: „Wir sehen hier etwas, das es in den Fünfzigern und Sechzigern nicht gab. Die meisten von uns haben den Eindruck, dass dies etwas Neues ist. Wenn es dies bereits in den Fünfzigern und Sechzigern gegeben hätte, dann wäre darüber etwas geschrieben worden, selbst wenn man es als psychiatrisch abgetan hätte. Aber es gibt nichts darüber in der Literatur. Und das lässt darauf schließen, es gibt ein vorherrschendes Agens, das diese Krankheit antreibt.“ Ein weiterer Arzt, Paul Cheney, stimmte zu. „Wie wäre es sonst möglich gewesen, diese Krankheit all die Jahre zu übersehen?“ fragte er. „Obwohl eine große Zahl der Patienten nur subtil und vielleicht nicht so schwer erkrankt ist, gibt es eine beträchtliche Zahl von Patienten, die wirklich unglaublich krank sind, und ich kann es einfach nicht glauben, dass die Medizin dies über Jahrzehnte oder Jahrtausende beobachtet – und übersehen – hat. Das ist zu offenkundig.“ Sechsundzwanzig Jahre, nachdem Carpenter und Cheney ihre Bedenken geäußert haben, belaufen sich gegenwärtige Schätzungen hinsichtlich der Anzahl der weltweit Betroffenen auf zwanzig Millionen, wobei es in den USA eine Million oder mehr Patienten gibt. Damit übersteigt die Zahl der Betroffenen die Zahl der Patienten mit Brust- und Lungenkrebs, AIDS und Multipler Sklerose zusammengenommen. Heutzutage setzt sich ein Arzt in New York City über Skype mit Patienten in Usbekistan, Schottland und Norwegen in Verbindung. Forscher aus Japan, China und Lettland kommen zu Medizinkonferenzen in San Francisco. ME ist jetzt die am häufigsten auftretende chronische Krankheit, von der die meisten Leute noch nie etwas gehört haben, bis sie selbst daran erkranken.

Als 2009 Mikovits die Bühne betrat, war ME eine Krankheit mit einer schockierenden Geschichte der Vernachlässigung, die so weit ging, dass sie zu einer von der Regierung abgesegneten Verletzung von Menschenrechten gegenüber Millionen von Menschen auf der ganzen Welt aufgestiegen war. Den Patienten wurden nicht nur die medizinische Versorgung und Behindertenrenten verweigert sowie die emotionale Unterstützung, die sie von Familie und Freunden bekommen hätten, wenn sie an einer „wirklichen“ Krankheit gelitten hätten. Sie wurden entrechtet und von überall her mit Hohn und Spott überzogen und misshandelt. Kindern wurde die Schulbildung verweigert. Gelegentlich wurden Erwachsene und Kinder gegen ihren Willen in psychiatrischen Institutionen eingesperrt, und das entsetzliche Ergebnis war zumindest in einigen gut dokumentierten Fällen, dass sie daran starben. Das vielleicht schlimmste Ergebnis von alledem war die Abwärtsspirale in die Armut, die meist nach Beginn der Krankheit anfing und dann Jahre oder Jahrzehnte andauerte.

ME war ein Sturm, der sich in den späten 1970ern am Horizont zusammenbraute, ein Leiden, das so unglaublich klang, dass man den Gerüchten darüber kaum Glauben schenken konnte: „Sie ist wie Mononukleose – mit dem Unterschied, dass man niemals wieder gesund wird.“ So beschrieb sie mir gegenüber zuerst ein Journalistenkollege, der üblicherweise auf dem Laufenden war. Diese einst seltene Krankheit war dabei, gleichzeitig mit der AIDS-Epidemie zu explodieren, aber diejenigen mit ME teilten ein ganz anderes Schicksal. Statt Milliarden an Dollar für die Forschung auszugeben und die Welt der medizinischen Forschung auf diese Krankheit zu konzentrieren, versuchten die Führungskräfte im Gesundheitswesen, ME mit allen verfügbaren Mitteln zum Verschwinden zu bringen. Sie versuchten dies zum Beispiel durch Marginalisierung ihrer Opfer, oder, wie ich das in meinem Buch Osler’s Web dokumentiert habe, indem sie ein Komplott schmiedeten, um die vom Kongress beschlossene Forschung zu verhindern.

Es gibt eine großartige Abhandlung, die darauf wartet, über die unterschiedlichen Wege geschrieben zu werden, die von den Regierungen großer Nationen in Bezug auf AIDS und ME eingeschlagen wurden. Beide Krankheiten sind hinsichtlich ihrer Symptome und anormalen biologischen Werte kaum zu unterscheiden. Beide Krankheiten zeichnet ein gestörtes Immunsystem aus, das es unzähligen Virusinfektionen ermöglicht, sich auszubreiten – Viren, die normalerweise latent bleiben würden. Hinzu kommen ein erhöhtes Krebsrisiko, Demenz und vieles mehr. Bereits 1986 war ein Top-Neurologe nicht in der Lage, die beiden Krankheiten zu unterscheiden, als er MRT-Gehirnscans von ME-Patienten und die von Patienten mit AIDS-bedingter Demenz oder „ARD“ untersuchte. Die MRT-Scans von ME-Patienten waren übersät mit zahlreichen kleinen Läsionen und wiesen eine reduzierte graue Gehirnsubstanz auf. Die ME-Patienten leiden unter einer verheerenden Kaskade von Symptomen, und sie sind schließlich nur noch ein Schatten der Menschen, die sie einmal waren; mehr als die Hälfte ist vollständig ausgeschaltet, ein Viertel dauerhaft ans Bett gefesselt. Eine Erholung gibt es nur selten. Morbiditätsstudien haben gezeigt, dass ME-Patienten genauso krank sind wie AIDS-Patienten im Endstadium, Krebspatienten in einem fortgeschrittenen Stadium und Menschen, die an Herzinsuffizienz sterben.

* * *

Mit ihrer Veröffentlichung in Science im darauffolgenden Oktober lieferte Mikovits sehr überzeugende Beweise für eine AIDS-ähnliche Virusinfektion, die bei fast 70 Prozent der Patienten und 4 Prozent der gesunden Kontrollen vorhanden war. Das Virus war 2006 an der University of California entdeckt und als XMRV bezeichnet worden. Als Mitglied der Gammaretrovirus-Familie wurde XMRV als murines Leukämievirus eingestuft, das wahrscheinlich in einem kritischen Augenblick in der jüngeren Vergangenheit von seinem natürlichen „Reservoir“ – Mäusen – auf den Menschen übergesprungen war. Obwohl die Entdeckung der XMRVs wenig Aufmerksamkeit erregt hatte, lösten Mikovits’ Daten, die einen Zusammenhang zwischen dem Virus und ME, seltenem Immunkrebs und schließlich Autismus aufzeigten, drei Jahre später einen Feuersturm aus. Wenn ihre Daten richtig waren, dann waren allein in Amerika zehn Millionen Menschen mit diesem Virus infiziert, wenn auch asymptomatisch. In einem kritischen Augenblick im Verlauf des folgenden wissenschaftlichen Aufruhrs bezeichnete ein skeptischer Vizepräsident des amerikanischen Roten Kreuzes, Roger Dodd, Mikovits’ Erkenntnisse als „Das Weltuntergangsszenario“. Mit anderen Worten, es war zu schrecklich, um wahr zu sein.

Eine von den Medien angeheizte Kontroverse brach aus, während Laboratorien auf der ganzen Welt versuchten, die Ergebnisse bei ME-Patienten zu replizieren. Es war ein Drama, das sich in den nächsten drei Jahren mit einer Heftigkeit abspielte, die in der Wissenschaft selten zu sehen ist. Berühmte Wissenschaftler schrien sich während normalerweise seriös ablaufender Konferenzen wegen ihrer Vorträge gegenseitig an; Beziehungen zerbrachen und Paranoia blühte auf, was offenbarte, dass Wissenschaftler sich vom Rest der Menschheit nicht wirklich unterscheiden. So unterschiedliche Publikationen wie The Economist und Science News folgten der Geschichte treu und brav und mit irritiertem Interesse, als ob die oft zweifelhafte Schlussfolgerung, die Sache zu bestätigen oder zu leugnen, sich auf ein Tennisspiel bezog anstatt auf eine dringende wissenschaftliche Angelegenheit, deren Ergebnis das Potenzial hatte, die Volkswirtschaften der Nationen zu beeinträchtigen. Eine sehr konservative Schätzung des jährlichen Verlustes für die US-Wirtschaft von ME belief sich auf 20 Milliarden Dollar, eine Zahl, die auf der unrealistischen Annahme basierte, dass alle, die durch die Krankheit arbeitsunfähig geworden sind, bevor sie erkrankten, nur 20.000 Dollar pro Jahr verdient hatten. Angesichts der Geschichte der lange politisierten Krankheit im Zentrum der Kontroverse war der Aufruhr kaum überraschend.

Doch die Wissenschaftlerin im Zentrum der Kontroverse, die oft eine Baseballkappe und Flip-Flops trägt und sich mit ihrer gemeinsamen Abstammung mit Attila dem Hunnen brüstet, war eine Überraschung. Sie war sechsundvierzig Jahre alt, mit oft zerzausten Haaren, in die die Sonne helle Strähnen eingebrannt hatte, und großen, unschuldig aussehenden blauen Augen. Sie sah aus, als wäre sie am glücklichsten am Steuer eines Segelbootes irgendwo weit draußen auf dem Pazifischen Ozean. In Wirklichkeit war sie Molekularbiologin und Biochemikerin und Autorin von etwa fünfzig Publikationen zur Immunologie bei HIV, seinen Krebsarten und der Chemie von Medikamenten zur Bekämpfung der HIV-Infektion. Sie hatte 22 Jahre am National Cancer Institute gearbeitet und wurde in ihren ersten Jahren in der Wissenschaft von Frank Ruscetti in dessen Labor in Fort Detrick, Maryland, betreut. Ruscetti war seinerseits ein Veteran in Robert Gallos heftig mit anderen Laboren konkurrierendem AIDS-Labor.

 

So war es vielleicht verständlich, dass die an CFS/ME Erkrankten den Eindruck hatten, mit dem Auftauchen von Mikovits und ihren Mitarbeitern – insbesondere Ruscetti, Mitentdecker des ersten humanen Retrovirus im Jahr 1980 – seien vernünftige Menschen angekommen. Gewiss gehörte Mikovits nicht zu den überlasteten ME-Klinikern und Forschern der vergangenen Jahrzehnte und würde auch in Zukunft nicht dazugehören. Sie waren eine tapfere, wenn auch winzige Bruderschaft mit einem ständigen Mangel an Forschungsgeldern. Sie waren untereinander und auch bei den Patienten gut bekannt. Seit den frühen 1980er-Jahren existierte diese Bruderschaft wie in einer Art dystopischem Paralleluniversum, im Besitz von Informationen, die ihre Mitglieder für dringlich hielten, an denen aber nur wenige außer ihnen selbst interessiert waren. Eine Konstante auf ihren wissenschaftlichen Konferenzen waren die bleichgesichtigen Patienten, meist Frauen, die wie ein Embryo gekrümmt auf den Teppichfluren vor den Konferenzsälen des Hotels lagen, unter Decken, die sie bis zum Hals hochgezogen hatten; irgendwie hatten sie den Weg dorthin geschafft, aber die Anstrengung kostete sie alles.

Gewiss gab es wenig Zweifel, dass Mikovits eine andere Art von Wissenschaftlerin war, eine, die nicht die Anerkennung der Führungskräfte an der Spitze der NIH suchte und die keine Angst davor hatte, Wissenschaftler der CDC zu kritisieren, ob per E-Mail oder persönlich. In der Tat war eine ihrer Qualitäten eine Leidenschaftlichkeit, die man in der Wissenschaft selten sieht. Sie bezeichnete XMRV als „… die größte Epidemie in der Geschichte der Vereinigten Staaten“, eine, die dazu bestimmt war, „die USA in das Gegenstück des HIV-geplagten Afrika südlich der Sahara zu verwandeln“, wenn sie unvermindert so weiterginge. Sie bezeichnete die Centers for Disease Control als „kriminell“, denn aus ihrer Sicht hatte die Behörde es versäumt, die Ausbreitung von XMRV einzudämmen. In ihrem Labor wurde das Akronym der Behörde in Atlanta mit „Can’t, Don’t Care“ übersetzt [Kann nichts, ist mir egal]. Sie und ihre Mitarbeiter verspotteten das Verfahren der Behörde, Patienten auszuwählen – durch zufällige Telefonumfragen –, und nannten die Kohorte der Regierung „Publisher’s Clearinghouse“-Patienten [Publisher’s Clearinghouse ist eine Firma für Direktvermarktung].

Judy Mikovits war unerschütterlich in ihren Überzeugungen und hart gegenüber ihren Kritikern, die sie für voreingenommen, gelegentlich unehrlich und oft schlecht informiert hielt. Sie war eine beeindruckende Fürsprecherin für die Patienten. Für eine Wissenschaftlerin war es erstaunlich, dass sie sich sogar mit ihnen zusammenschloss, sie aufsuchte und sich mit ihnen anfreundete. Einmal veröffentlichte sie sogar an prominenter Stelle in einem Internetblog ihre persönliche E-Mail-Adresse. Der Grund hierfür war nicht nur ihre Menschenfreundlichkeit, sondern absolut vernünftig: Ihr Verständnis von dieser Krankheit rührte von den Patienten und ihren Geschichten her. Sie formulierte Hypothesen für wissenschaftliche Experimente auf der Basis dessen, was sie hörte und beobachtete. Die alten Griechen hätten Mikovits für ihre Methoden gelobt, aber im 21. Jahrhundert war sie ein komischer Kauz.

Was andere Wissenschaftler betraf, war ihre vielleicht größte Sünde ihre öffentliche Vermutung darüber, was ihre Daten für andere ungeklärte Krankheiten implizieren könnten. Dazu gehörte insbesondere Autismus, eine Krankheit, die sich mit ME als biopolitischem Streitpunkt messen konnte. Sie hatte Familiencluster ermittelt, bei denen Eltern und andere nahe verwandte Erwachsene an ME und Kinder an Autismus litten, und fand Beweise für eine Gammaretrovirus-Infektion bei den Opfern beider Krankheiten. Es war eine Sache, wissenschaftliche Hypothesen über kontroverse Störungen mit Laborkollegen bei einem Drink in der Bar des Konferenzhotels aufzustellen, aber solche Hypothesen in Fernsehtalkshows im Einzelnen zu erklären oder sie Journalisten großer amerikanischer Zeitungen zu erläutern, so wie Mikovits das tat, das war eine andere Sache. Die Wissenschaftler der Regierung, die häufig ihren Auftrag, Forschung durchzuführen, mit einem Auftrag zur Verhinderung öffentlicher Panik verwechseln, waren besonders entnervt durch die Verwendung von Wörtern wie „Infektion“ und „Übertragung“ im selben Satz mit Wörtern wie „Autismus“ oder „Lymphom“ und sicherlich in Verbindung mit dem, was die CDC – anstelle von ME – „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ nennt.

Natürlich ist es ein seltenes und heikles Unterfangen in der Wissenschaft, die Speerspitze bei einer neuen Entdeckung zu sein, und nur wenige gehen ein solches Risiko ein. Mikovits’ wichtigster Co-Autor des Science-Artikels und unerschrockener Bewunderer, Frank Ruscetti, sagte über Mikovits: „Was ich ihr immer beizubringen versuchte, ist, die wissenschaftliche Methode zu erlernen und sie gut zu lernen, damit man etwas veröffentlichen kann, über das 99 Prozent der [wissenschaftlichen] Gemeinde sagen könnte: ‚Du liegst falsch’, aber von dem du weißt, dass es stimmt. Das ist der Mut eines wahren Wissenschaftlers, und Judy hat diesen Mut.“ Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass Mikovits in den nächsten drei Jahren ungebeugt im Zentrum eines heftigen wissenschaftlichen Sturms stand, der über mehrere Kontinente wütete. Wenn sie recht hatte und ein hochinfektiöses Retrovirus tatsächlich die Ursache des „Chronischen Erschöpfungssyndroms“ war und zehn Millionen Amerikaner bereits infiziert waren, – nun, dann änderte das nicht nur die Geometrie, sondern erschütterte auch die Glaubwürdigkeit des Bollwerks der Nation gegen Infektionskrankheiten, der CDC und ihrer renommierteren Schwesteragentur, der National Institutes of Health.

Drei Jahre nach ihrer Entdeckung dachte man angesichts des Platzes, den die 1,64 m große Mikovits im wissenschaftlichen Kosmos eingenommen hatte, an Abraham Lincolns angebliche Bemerkung gegenüber Harriet Beecher Stowe: „Du bist also die kleine Frau, die das Buch geschrieben hat, das diesen großen Krieg ausgelöst hat!“

* * *

Mikovits arbeitete so isoliert in der sogenannten HIV-AIDS-Forschungsblase, dass sie noch nie von ME gehört hatte, bis sie zur wissenschaftlichen Leiterin eines neuen Instituts der University of Nevada in Reno berufen wurde. Wie ist sie in ein solch abenteuerliches Schicksal hineingeraten? Ein Ansturm der Intuition, Fakten, die sich an weitere Fakten anfügten, ihr Wissen über die Immunologie bei AIDS, ein Eureka-Moment. „Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, darüber nachzudenken. Ich wusste es einfach nicht“, sagte sie später.

2006 saß sie auf einer Konferenz in Barcelona im Publikum und hörte einem Veteranen der ME-Schlachten zu, einem Arzt, der Tausende von Patienten gesehen und die Krankheit unmittelbar zusammen mit ihnen kennengelernt hatte. Er sprach über eine Gruppe von 300 Patienten, die er jahrelang weiterverfolgt hatte. Dan Peterson aus Nevada, ein Spezialist für Innere Medizin mit einer langen Warteliste, beschrieb bei diesen Patienten etwas, das Mikovits als „opportunistische Infektionen“ bezeichnen würde: verschiedene Immundefekte, eine Art subakute Enzephalopathie, die den IQ senkte und selbst die Fähigkeit der hellsten Patienten zerstörte, klar zu denken, ergänzt durch abnorme Gehirnscans bei verschiedenen Verfahren. Der Arzt zeigte Daten, die auf Zytokin-„Stürme“ hinwiesen, einen Angriff von inflammatorischen Proteinen wie Interferon, die die Opfer schachmatt setzten und die als Reaktion auf Infektionen erzeugt werden. Er hob hervor, dass 5 Prozent der Patienten in dieser sorgfältig beobachteten Gruppe seltene, das Immunsystem betreffende Krebserkrankungen hatten, die in der allgemeinen Bevölkerung mit einer Wahrscheinlichkeit von nur 0,02 Prozent auftreten. Insgesamt hatten 77 der 300 Patienten entweder Blutkrebs oder zelluläre Veränderungen, die Lymphomen vorausgingen.

Mikovits war bis ins Mark getroffen. „Es ist ein Retrovirus“, dachte sie und sagte das beinahe laut. HIV war eine von drei Retrovirus-Familien, von denen bekannt ist, dass sie Menschen infizieren; vielleicht waren es vier, fragte sich Mikovits. Retroviren, die seit Langem dafür bekannt sind, Haustiere wie Katzen und Rinder sowie Wildtiere zu infizieren, verursachten Krebs, Immunschwäche und schreckliche neurodegenerative Erkrankungen. Wenn die Krankheit, die Peterson beschrieb, nicht AIDS war, dann war sie aber zumindest ähnlich wie AIDS oder, wie Mikovits schließlich sagen würde, „das andere AIDS“ oder „non-HIV-AIDS“. Sie sprang ans Mikrofon, als Peterson seinen Vortrag beendet hatte. „Ich bin Krebsforscherin“, sagte sie. „Erstens, ich suche nach Viren bei Krebs, und zweitens, das riecht nach einem Virus.“ Drei Jahre später, nachdem sie Hunderte von Erkrankten auf beiden Seiten des Atlantiks getroffen hatte, sagte sie: „Es wundert mich, dass jeder diese Patienten betrachten und nicht sehen konnte, dass dies eine Infektionskrankheit ist, die das Leben der Betroffenen ruiniert.“

* * *

Es gibt eine gewaltige Hintergrundgeschichte zu Mikovits’ aktueller Geschichte; eine herzzerreißende Geschichte von zerstörten wissenschaftlichen Karrieren und gebrochenen Menschen, die wichtig erscheinende Entdeckungen über ME gemacht haben und ausgeschaltet wurden. Sie konnten es nicht glauben, dass ihre Arbeit nicht bekannt gemacht und vor allem nicht finanziert wurde. Nicht selten waren diese Entdeckungen Beweise für eine retrovirale Infektion. Experten, die mit den klinischen Manifestationen der Krankheit vertraut sind, haben Retroviren als eine Klasse von Krankheitserregern erkannt, die genau die Symptome und Folgen verursachen können, die sie registrieren: Immunschwäche, neurodegenerative Erkrankungen und stark erhöhte Krebsraten. Man liest immer wieder, dass die Ursache der Krankheit „schwer fassbar“ und die Krankheit selbst „mysteriös“ ist. Die unausgesprochene Annahme hinter diesen Klischees ist, dass zwar planvolle gemeinsame Anstrengungen unternommen wurden, um das Geheimnis zu lösen, dies jedoch ohne Erfolg war. Entgegen der landläufigen Meinung wurde aber nur selten nach einem verursachenden Infektionserreger der Krankheit gesucht, und die entsprechende Forschung war begrenzt und zum größten Teil entweder unzureichend oder praktisch gar nicht finanziert.