Das Osmanische Reich

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Das Osmanische Reich
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Douglas A. Howard ist Professor für Geschichte am Calvin College in Grand Rapids, Michigan. Die Türkei und das Osmanische Reich sind seine zentralen Forschungsgebiete. Als Kind eines Air-Force-Angehörigen blieb Howard nie lange an einem Ort – bis zum Abschluss der High School lebte er aber zweimal längere Zeit in der Türkei. Sein ganzes Leben war er fortan von der türkischen und osmanischen Kultur fasziniert. Die Idee zu diesem Buch entstand auf einer Reise in die Türkei 2006; auf den Spuren des Osmanischen Reichs führte die Arbeit am Buch Howard über zehn Jahre hinweg in acht verschiedene Länder.

wbg Paperback macht die wichtigsten Titel großer Autor:innen aus dem Programm der wbg in einer jungen und wertigen Edition für alle neugierigen Leser:innen zugänglich. Als wbg Paperback auch erhältlich:

Klaus-Jürgen Bremm, 1866. Bismarcks deutscher Krieg

Leoni Hellmayr, Der Mann, der Troja erfand. Das abenteuerliche Leben des Heinrich Schliemann

Arne Karsten, Volker Reinhardt, Kardinäle, Künstler, Kurtisanen. Wahre Geschichten aus dem barocken Rom

Harald Lesch, Ursula Forstner, Wie Bildung gelingt. Ein Gespräch

Philip Matyszak, Legionär in der römischen Armee. Der ultimative Karriereführer

Alle Titel und weitere Informationen zu wbg Paperback finden Sie unter www.wbg-wissenverbindet.de/paperback.


Für meinen Vater Frank Alton Howard und zur Erinnerung an meine Mutter Theodora A. Christacopoulos Howard. So manches Buch habe ich mir aus euren Regalen entliehen.

Die englische Originalausgabe ist 2017 bei Cambridge University Press, Cambridge, unter dem Titel A History of the Ottoman Empire erschienen.

© 2017 by Cambridge University Press

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Paperback ist ein Imprint der wbg.

2. unveränd. Aufl. 2021 (1. Aufl. 2018)

© der deutschen Ausgabe 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Thomas Bertram, Gelsenkirchen

Einbandabbildung: „Die Galatabrücke mit der Neuen Valide Moschee, Konstantinopel“,

Ausschnitt aus dem Gemälde von Hermann Corrodi (1844–1905). © Sotheby‘s / akg-images

Einbandgestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-27358-4

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-534-74702-3

eBook (epub): 978-3-534-74703-0

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Inhalt

Dank

Einleitung

1.Osmanische Genese, 1300–1397

2.Eine gesegnete Dynastie, 1397–1494

3.Eine Sicht auf die Welt, 1494–1591

4.Unklarheiten und Gewissheiten, 1591–1688

5.Globales und Lokales, 1688–1785

6.Zusammenarbeit und Zusammenbrüche, 1785–1882

7.Auflösung, 1882–1924

Anhang

Glossar

Anmerkungen

Abbildungsnachweise

Verzeichnis der Karten

Literaturverzeichnis

Register

Dank

Es ist mir eine Freude, den zahlreichen Kollegen und Freunden meinen Dank auszudrücken, deren Hilfe und Ermutigung mir während der mehrjährigen Arbeit an diesem Buch zugutegekommen ist.

Meine berufliche und geistige Heimat, das Calvin College in Grand Rapids, Michigan, hat mich während der gesamten Dauer des Projekts institutionell massiv unterstützt. Dieses Buch ist aus langjähriger Lehre und Forschung gemeinsam mit meinen Kollegen am Calvin College erwachsen, wo das Thema Weltsicht einen zentralen Schwerpunkt laufender Diskussionen und Diskurse bildet. Das College gewährte umfassende Unterstützung für Studien und Recherchen, außerdem ein freundliches Arbeitsumfeld. Während der Anfangsphase des Projekts war ein Freisemester unentbehrlich, und in späteren Jahren kam ich dank des Calvin Research Fellowship-Programms in den Genuss eines reduzierten Lehrdeputats. Das Rektorat des Calvin College förderte 2007 einen Forschungsaufenthalt in Kairo und Jerusalem. Der Reiseetat der Fakultät finanzierte den Besuch mehrerer Konferenzen, insbesondere der internationalen Konferenz „The Cultural History of Emotions in Pre-Modernity II: Emotions in East and West“, die 2011 in Istanbul stattfand. Meine Kollegen an Calvins Historischem Institut, die ausnahmslos zugleich auch Freunde sind, lasen einzelne Kapitel und kommentierten sie kritisch, ertrugen meine Klagen mit Fassung und unterliefen meine Versuche, mich zu ernst zu nehmen. Bruce Berglund bewies auf einem Tiefpunkt sein Einfühlungsvermögen. Bert de Vries ließ mich an seinem profunden Wissen teilhaben. Meine Institutsdirektoren Willam Van Vugt und Will Katerberg fanden Wege, meine Lehrveranstaltungen so zu legen, dass sie mir ein Maximum an Energie ließen. Will Katerberg schlug mir William Reddys The Navigation of Feeling als Lektüre vor. Meine Dekane Cheryl Brandsen, damals Prodekanin für Kontextdisziplinen, und Matthew Walhout, Prodekan für Forschung, schenkten meinen Bedürfnissen ein offenes Ohr und unterstützten meine Arbeit.

Alle Karten in diesem Buch wurden von Jason Van Horn und Caitlin Strikwerda an Calvins Geographischem Institut gezeichnet, für die deutsche Ausgabe übernahm Peter Palm nach ihren Vorlagen die Kartenerstellung. Victoria Seaburg, die in Calvins Abteilung für Lehrgrafik tätig ist, hat viele der Abbildungen für die Veröffentlichung aufbereitet. Und da das Calvin College zwar eine ausgezeichnete Bibliothek besitzt, aber nicht viele Bücher in türkischer Sprache, war die Expertise der für die Fernleihe zuständigen Bibliothekarin Kathy Struck unabdingbar. Die Gebühren für den Nachdruck verschiedener Fotografien und Textauszüge wurden durch einen Zuschuss der Calvin College Alumni Association finanziert.

Sechs Monate bevor Marigold Acland mir dieses Projekt vorschlug und die Unterstützung der Cambridge University Press zusicherte, kam mir die eigentliche Idee für ein derartiges Buch durch Erlebnisse in der Türkei während einer Exkursion mit Collegepräsident Gaylen Byker und einer Gruppe treuer Förderer des Calvin College im Frühjahr 2006. In der Türkei brachte ich eine großartige Zusammenarbeit mit zwei ausgezeichneten Reiseleitern auf den Weg, Ender Tan und Orhan Sezener, deren Freundschaft und Ideenreichtum ich schätzen gelernt habe.

Die beiden ersten Kapitel entstanden während eines Forschungsfreisemesters als Fellow am Collegium Budapest Institute for Advanced Study. Man gewährte mir eine wunderbare Unterkunft im Schlossviertel von Buda, einen Computerzugang und die liebenswürdige Gesellschaft anderer Forscher, die mit den unterschiedlichsten Projekten in den Natur- und Geisteswissenschaften befasst waren. Géza Dávid war so freundlich, mir die Bibliothek und weitere Ressourcen des Lehrstuhls für Turkologie an der Eötvös-Lorand-Universität Budapest zur Verfügung zu stellen, und Pál Fodor und Marcus Köhbach unterstützten mein Vorhaben. Von Budapest aus konnte ich bei einem Treffen des Comité International des Études Pré-Ottomanes et Ottomanes in Zagreb den Rat weiterer Kolleginnen und Kollegen einholen und hatte außerdem Gelegenheit zu Forschungsaufenthalten in Sarajevo, Sofia und der Türkei. Im Jahr 2012 ermöglichte mir ein Sommerstipendium des National Endowment for the Humanities einen Forschungsaufenthalt in der Türkei und die Abfassung von Kapitel 5. Die Istanbuler Außenstelle des American Research Institute in Turkey (ARIT), ihre Mitarbeiter und Direktor Tony Greenwood sorgten für ein angenehmes Forschungsumfeld. Megan Berglund vom Development Office am Calvin College brachte den Stipendienantrag erfolgreich ins Ziel. Die Forschungsarbeit für Kapitel 7 erfolgte im Frühjahr 2012 in der Library of Congress während meiner Zeit als Direktor des Calvin College in Washington, D.C. Das Personal im Handschriftenlesesaal und im Lesesaal der Abteilung für Fotografien und Drucke unterstützte mich dabei.

 

Meinen Kolleginnen und Kollegen auf dem Gebiet der Turkologie und Osmanistik möchte ich für ihre überaus engagierte Arbeit und ihre Sorge um ein angemessenes Verständnis der osmanischen Geschichte danken. Wir sind ein relativ kleiner Kreis aus Gelehrten und Freunden, die einander überwiegend persönlich kennen, und stehen auf den Schultern früherer Generationen. Meine Position in den aktuellen Debatten unseres Forschungsfeldes dürfte Spezialisten unmittelbar ins Auge springen und lässt sich in den Anmerkungen nachvollziehen. Die konzeptionelle Grundlage, ohne die dieses Buch nicht hätte entstehen können, ist das Ergebnis der Arbeit von vier Giganten auf diesem Gebiet. Das eigenständige Denken von Rifa’at Ali Abou-El-Haj, für das beispielhaft sein bahnbrechender Aufsatz „The Ottoman Vezir and Paşa Households“ aus dem Jahr 1974 und sein Buch Formation of the Modern State (1992) stehen, hat einer Neukonzeption der osmanischen Geschichte jenseits der Narrative von Aufstieg und Fall erst den Weg geebnet. Victoria Holbrooks The Unreadable Shores of Love. Turkish Modernity and Mystic Romance (1994) sowie die Arbeiten von Walter Andrews – in Poetry’s Voice, Society’s Song (1985) und in den seitdem entstandenen Tagungsreferaten und gemeinschaftlichen Übersetzungen – haben die Dichtung auf überzeugende Weise ins Zentrum jeder Behandlung der osmanischen Kultur gerückt. Ariel Salzmanns hat mit ihrer Neuinterpretation des fiskalischen Modells der Osmanen in ihrer Dissertation und in dem Aufsatz „An Ancien Régime Revisited. ‚Privatization‘ and Political Economy in the Eighteenth-Century Ottoman Empire“ von 1993 die allzu simple Dichotomie von Zentralisierung oder Dezentralisierung überwunden.

Zahlreiche Beteiligte haben sich Zeit für ausführliche Gerspräche genommen. Ihre Erkenntnisse sind durch ebenso kontroverse wie freundschaftliche Diskussionen, gelegentlich hitzig, häufig aber in gelöster Atmosphäre geführt, unmerklich in dieses Buch eingeflossen. Virginia Aksan las das gesamte Manuskript gegen und steuerte wertvolle Kommentare bei. Géza Dávid las mehrere Kapitel, korrigierte viele Fehler und war stets mit gutem Rat zur Stelle. Nicht vergessen möchte ich Gábor Ágoston, Virginia Aksan, Walter Andrews, Palmira Brummett, John Curry, Linda Darling, Suraiya Faroqhi, Cornell Fleischer, Pál Fodor, Jane Hathaway, David Holt, Paul Kaldjian, Reşat Kasaba, Hasan Kayalı, Rudi Lindner, Nenad Moačanin, Victor Ostapchuk, Leslie Peirce, Amy Singer, Bill Wood, Madeline Zilfi und den leider verstorbenen Donald Quataert. Alle Fehler, die es trotz all dieser Filter noch in die gedruckte Ausgabe geschafft haben, gehen auf mein Konto.

Mehrere Kolleginnen und Kollegen haben mir freundlicherweise Materialien zukommen lassen, die mir sonst unzugänglich geblieben wären, darunter auch unveröffentlichte Aufsätze. Besonderen Dank schulde ich Virginia Aksan, Snježana Buzov, Bert de Vries, Pál Fodor, Gottfried Hagen, Tijana Krstić, Vjeran Kursar, Rudi Lindner, Nenad Moačanin, Victor Ostapchuk und Tahir Nakıp. Darüber hinaus profitierte ich von den unveröffentlichten Abschlussarbeiten mehrerer Bachelor- und Masterstudierender am Calvin College, darunter Will Clark, Spencer Cone, Lauren DeVos, Melanie Janssens, Ryan Jensen, Abby Nielsen, Emma Slager und Josh Speyers. Danke auch für die scharfsinnigen Bemerkungen von Nathan Hunt als Antwort auf eine Frage in der Abschlussprüfung.

Danke, Elisabeth und Gottfried Hagen, Carolyn und Dan Goffman, Ágota und Géza Dávid für Eure langjährige Freundschaft und Gastlichkeit. Dank auch an Telle und Gustav Bayerle für vieles, was ich gelernt habe.

Danke, Sandy, für alles.

Einleitung

Der berühmte türkisch-armenische Fotojournalist Ara Güler hat einmal erzählt, wie er 1958 losgeschickt wurde, um über die Einweihung eines neuen großen Staudamms am Fluss Mäander (Menderes) in der Türkei zu berichten. Er reiste aus Istanbul an, und für die dreistündige Anfahrt zu diesem Termin stellte ihm der Provinzgouverneur einen Wagen samt Fahrer zur Verfügung. Der Fototermin zog sich in die Länge. Auf der Rückreise behauptete Gülers Fahrer, er kenne eine Abkürzung durch die Berge, aber sie verirrten sich, die Sonne ging unter, und im Dunkeln konnten sie die Richtung nicht ausmachen. Als sie vor sich ein Licht sahen, hielten sie in einem Dorf an einem Kaffeehaus und fragten, ob es eine Übernachtungsmöglichkeit dort gebe. Während sich Gülers Augen an das trübe Licht im Innern gewöhnten, erkannte er in dem Kaffeehaus nicht etwa Tische, sondern sah, dass die Männer auf den Oberseiten antiker Säulen Karten spielten.1

Am nächsten Morgen machte Güler einen Rundgang und fotografierte dabei. Das Dorf namens Geyre war vollständig inmitten der Ruinen einer antiken römischen Stadt errichtet worden. „Etwas Seltsameres habe ich nie im Leben gesehen“, erinnerte er sich später. „Die Leute sagen zwar: ‚Eine Ruine ist wie die andere‘, aber das hier war etwas völlig anderes – Vergangenheit und Gegenwart existierten übereinander.“2 Gülers Fotos sorgten für einiges Aufsehen, als er sie zurück nach Istanbul brachte und seiner Redaktion zeigte. Eine amerikanische Zeitschrift wollte die Bilder und gab einen Artikel in Auftrag. Als Autor schlug Güler den angesehenen Archäologen Kenan Erim von der New York University vor. Im Lauf der nächsten drei Jahrzehnte besorgte Professor Erim die nötigen Geldmittel und grub die Fundstätte aus – aber erst nachdem das ganze Dorf an einen neuen, gut anderthalb Kilometer entfernten Standort verlegt worden war.

Wer heute Aphrodisias besucht, ist beeindruckt vom Ausmaß des Ruinenfelds, von den umfangreichen Überresten, die sich an einer landschaftlich ausgesprochen schönen Stelle erhalten haben, und von dem nahe gelegenen, attraktiven Museum, in dem zahlreiche Funde ausgestellt sind. Aber ohne das Dorf und nach der Verwandlung der Grabungsstätte in eine große Touristenattraktion war das „Aphrodisias des Lebens“, wie Güler es nannte, in dem die Menschen die Ruinen in ihr Alltagsleben einbezogen hatten, verschwunden. Der Ort, bemerkte er, sei jetzt Geschichte.3

In Gülers Fotografien aus den 1950er-Jahren finden Grundzüge einer Lebenseinstellung, einer Weltsicht Ausdruck, die das Thema dieses Buches sind. Seine Bilder boten weder nostalgische Momentaufnahmen vom Landleben für ein Stadtpublikum, noch stellten sie gönnerhaft eine vermeintliche dörfliche Überzeitlichkeit einem vermeintlichen modernen Geschichtsbewusstsein gegenüber. Stattdessen zeigten die Fotos den vertrauten Umgang der Dörfler mit antiken Überresten, ihre leichtherzige Hinnahme der Natürlichkeit eines Lebens zwischen den Trümmern der Vergangenheit, die ihre alltägliche Landschaft bevölkerten. Diese Haltung steht dem Bedürfnis entgegen, Ruinen zu sammeln und auszustellen, mit Absperrungen zu umgeben und zu konservatorischen oder pädagogischen Zwecken zu musealisieren.

Aphrodisias, die antike Stadt, war in römischer Zeit ein wichtiges Zentrum des Aphroditekults und eine Kunstmetropole. Nach der Christianisierung wurde es in der Spätantike Bischofssitz. Seit etwa 1000 n. Chr. machten wandernde Turkmenenstämme Aphrodisias zum Ziel blutiger Überfälle, die Stadt entvölkerte sich langsam und wurde schließlich aufgegeben.4 Doch in den Katastern des Osmanischen Reiches ist das Dorf verzeichnet und trägt den Namen Gerye. Zwar noch nicht in den ersten Vermessungsakten der Region aus den 1460er-Jahren,5 sehr wohl aber in der Landesaufnahme von 1530 erscheint es, und dazu ein Markt.6 Irgendwann während der Jahrzehnte zwischen den beiden osmanischen Katastervermessungen ist das Ruinenfeld neu besiedelt worden. Mit seiner Lage inmitten der Ruinen war Gerye exemplarisch, aber wahrscheinlich kein Einzelfall. Die osmanische Geschichte, der Gegenstand dieses Buches, spielte sich in alten Ländern mit langer Vergangenheit ab, die an wichtige Wasserwege wie die Ägäis, das Schwarze Meer und das Mittelmeer grenzten. Überall in dieser Landschaft verstreut lagen Ruinen.

Abb. I.1: Dörfler auf den Feldern in Aphrodisias (1958). Foto: Ara Güler. Mit freundlicher Genehmigung von Magnum Photos

Ruinen als Metapher

Für Autoren der osmanischen Zeit standen Ruinen für Verlust, jedoch für etwas weit Größeres als nur verlorene Kulturen oder den Verlauf der Zeit. Gleichwohl pflegten osmanische Autoren die Erinnerung an die Vergangenheit. In einem denkwürdigen Abschnitt des Buches der Bittgebete, das um 1500 entstand und für Generationen osmanischer Leser zu einem spirituellen Klassiker wurde, marschiert eine lange Reihe von Helden durch eine lyrische Litanei auf die verlorene Zeit. Die Propheten sind vertreten, angefangen mit Jesus und Moses, dazu die Heiligen, von den rechtgeleiteten Kalifen bis zu Sufi-Meistern wie Rumi. König Dareios kommt vor, Nebukadnezar und die Pharaonen von Ägypten. Die Meister der hellenistischen und indischen Wissenschaften treten auf, unter ihnen Platon, Aristoteles und Galen, dazu die ganze Heldenschar aus dem persischen Schāhnāme (Buch der Könige), „die alle auf der Wahrheit gegründet wohnten, manche freudig, andere voller Leid“. Die Aufzählung endet mit einer Klage:

Wo sind die Kaiser, Byzanz-Hegemone,

Wo, die als „Chosrau“ besaßen die Throne?

Wo sind, die als Kalifen den Muslimen befahlen?

Wo sind, die als Fürsten sich diesen Menschen empfahlen?

Wo ist der Marwaniden Pracht,

Wo ist der Abbasiden Macht?

Wo Dschingis-Khan und Söhne nun spielen,

Wo seine Kinder und Enkel, die vielen?

Seldschukische Fürsten sind wo nur geblieben,

Die Osmanensultane wohin jetzt vertrieben?

Wo blieb Sultan Mehmet und seine Größe,

Auf deren hehre Kraft man noch stöße?

Wohin verschwand seine rohe Gewalt,

Wozu nahm sein Springen und Reiten Gestalt?

Wo sind Regierungskraft und Entschluss?

Wo Größe und Mut aus einem Guss?7

Doch für osmanische Schriftsteller waren die Ruinen mehr als nur das. Ruinen standen für den Verlust, den alles im tiefsten Inneren trug. Wenn osmanische Dichter von „Ruinen“ sprachen, meinten sie üblicherweise das Herz oder aber eine Schänke – sie waren ein und dasselbe, und beide waren Trümmerstätten. Figani (gestorben 1532) schrieb:

Seit das steinerne Herz meines Herzens Provinz hat verheert,

Man sieht: Kein Stein auf dem andern, die Stadt ist zerstört.8

Oder Esrar Dede (gestorben 1796):

In Kneipen tust du´s oder lässt es dir tun –

Als Ruinen die gebauten Werke nur ruhn.9

In den Augen von Yahya (gestorben 1644) entsprachen die Ruinen, die sich über die Landschaft verteilten, dem verwüsteten und verwaisten Zustand seines Herzens.

Das Hausherz zerstöre, lasse nicht Stein auf Stein –

Dies tue, den Fremden sollen es Ruinen sein.10

Aber in Ruinen zu liegen war für die Dichter nichts Schlechtes. So schmerzlich die Erfahrung auch sein mochte, begrüßten sie sie doch, denn sie allein bot ihnen die Möglichkeit zum Einblick in das wahre Wesen der Dinge. Ruiniert zu sein, in einem Zustand völligen Verlorenseins – nur unter solchen Umständen war ein innerer Wandel möglich, und innerer Wandel war das, worum es im Leben ging. Verfall war keine Tragödie, er war der Sinn der Sache. Das dunkle Innere einer Taverne, eingehüllt in den Schmerz des Verlangens und Liebeskummers, erhellte das Innere des Herzens. Sich langsam zu betrinken war wie in einen Schlaf zu sinken, jedoch in einen, aus dem ein spirituelles Erwachen möglich war. So zum Beispiel Fuzuli (gestorben 1556):

 

Den Schatz seines Wohls im Winkel der Kneipe Fuzuli sich fand,

Das Segens-Reich nicht zerfalle, Gott verleihe Bestand!

Und Revani (gestorben 1524):

Dem Wein wie sein Schaum die Frömmler gaben die Kronen,

Betrunken von Kneipe zu Kneipe die Welt nun bewohnen.11