TSCHEPLANOWA

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TSCHEPLANOWA
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Valery Tscheplanowa trat wie eine Explosion auf die Bühne. „Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern“. Mit diesen Worten fesselte sie 2007 das Publikum im Deutschen Theater Berlin von der ersten Sekunde an. Murmelnd, rufend, schreiend. Seit dieser Inszenierung von Heiner Müllers Hamletmaschine in der Regie von Dimiter Gotscheff sind 13 Jahre vergangen, in denen Valery Tscheplanowa wie ein Irrlicht durch die Stadttheater zog und längst auch ihren Weg zum Film gefunden hat. Es waren trotz beglückender Momente auch Kämpfe, die sie dort austrug – gegen den Betrieb und für lebendige Arbeit.

Dieser reich bebilderte Gesprächsband schildert die Reise einer eigenwilligen Schauspielerin, die 1980 im sowjetischen Kasan beginnt, den Leser durch die Wirren des Systemumbruchs in ein einsames norddeutsches Dorf führt, von russischen Schamanen, hilflosen Intendanten und palästinensischen Macho-Frauen erzählt und mit ihrer Theaterarbeit mit Dimiter Gotscheff und Frank Castorf noch lange nicht endet.

Dorte Lena Eilers

TSCHEPLANOWA

backstage

Mit Gedichten von Valery Tscheplanowa

und einem Nachwort von Josef Bierbichler


Inhalt

Fünf Gedichte

Die Geste ist blank

Setzung

Ungezählte Deine Namen

Lied vom Selbstmitleid

Abgang

NACHWORT

Rollenverzeichnis

Bildnachweis

Fünf Gedichte

von Valery Tscheplanowa

Die Geste ist blank

Und es beginnt

Der Umriss sich zu meißeln

Und ich erkenne das Gesicht,

Das Du zu Anbeginn am Herzen trugst. Ich stehe nebst zur Seite

Und Wache halt ich,

Adler Echo, über Dich,

Der Du den Aufbruch wagst ins Eigne.

Setzung

Engel und Affen sind eitel.

Der beliebige Raum ist Kirche.

Du bist unschuldig.

Gnade und Ungnade ist Rauschgift.

Vielleicht ist ein Seufzen.

Du bist eine Anzahl von Engeln und Affen.

Den Einlass bringt nicht Sehnsucht noch Gewalt.

Jedweder Angriff trifft ins Leere,

Da dort der wahre Widerstand

Den Aufenthalt verschweigt.

Ungezählte Deine Namen

Ohne Kleider und Erbarmen ohne Andacht, ohne Ohnmacht,

Nur ein klaglos offen Obdach,

Eine Klippe überm Meer und ein Moor, das naht.

Gut ist, wenn Du nackt und schweigsam,

Täglich bei dem Hochzeitsmahle mein Gesicht vergessen hast

Und Dich wundert, wer sie ist, die an Deiner Seite isst.

Tausche mein Gesicht. Ich bleibe.

Mach die Tür zu. Ich bin hier.

Schneide meine Haut. Ich weine.

Trotzdem bin ich, trotzdem hier.

Der Verdacht, dass ich Dich brauche, endet,

Wenn Du siehst,

Wie ich Dein Gesicht beweine.

Wenn Du nicht mehr bist.

Deine Hand, die halt ich heute, morgen auch und gestern nicht.

Und der Lohn, den ich erschleiche, ist nur Dein Gesicht.

Deine Kinder nenn ich Bäume, Gräser, Milch und Stadt

Und das eine oder andere wird nicht satt.

Unser Haus ist eine Straße, die zum Grab uns führt.

An den Rändern lauter Leiber, die wir nicht berührt.

Und im Grab, da leg ich meinen Arm um Dich, denn erst dort,

So nackt und schweigsam fliehst Du nicht.

Lied vom Selbstmitleid

Fällt der Tag so auf mich nieder

Ohne Gnade aufs Gefieder

Schlägt mich nieder

Schlägt mich wieder

Ohne Gnade aufs Gefieder

Ich erlahme ich ersticke ich verende ich verrecke

Ich ersaufe ich verlaufe mich in meinen Zimmerecken

Kommt denn niemand mich zu wecken

Mich aus meinem Schlaf zu schrecken

So zu enden ist doch schrecklich

So zu enden mich zu schrecken

Mich aus meinem Schlaf zu wecken

Leider muss ich immer weiter leider find ich keine Ruh

Leider geht es immer weiter leider steht die Ruhe mir nicht zu

Und ich stehe wacklig steh ich und vergehe so im Stehen

Immer tiefer immer weiter immer nur hinab die Leiter

Grabe Wurzeln in die Erde grabe mir mein eigen Grab

Abgang

Wieder auf Wieder

Den Schädel an den Wolken sich stoßen

Und Fall auf Fall nicht Trauer tragen

Denn Schritt auf Schritt drängt es mich zu denen

Die zu leuchten wissen

Wie die Heiligkeit

Erhalten dessen was ich vor dem Wissen gewusst

Wie klaglos weil kein Schmerz mehr trügt

Den Ort nicht mehr verlassen

Wo das Meer sich öffnet meinwärts

Dem Tod

Ein Bett kaufen

Und seine Hand halten

Während er neben mir schläft

Aber für einen Menschen bereite die Kissen

Habe keine Angst

Ich hänge am Himmel

Nicht an Dir.


Valery Tscheplanowa in Die Hamletmaschine, Regie: Dimiter Gotscheff, Deutsches Theater Berlin 2007

Valery Tscheplanowa, Sie kommen gerade aus Salzburg, wo Sie bei den Festspielen im diesjährigen Jedermann die Buhlschaft spielen. Hugo von Hofmannsthal sagte vor einhundert Jahren über diese Stadt: Das mittlere Europa habe keinen schöneren Raum. Der ewige Salzburg-Hasser Thomas Bernhard hingegen sprach von einer perfiden Fassade, derer man so schnell wie möglich entfliehen solle. Steht Ihr Fluchtauto auch schon bereit?

Beides trifft zu! Ich empfinde die Stadt aber als sehr angenehm. Die Leute haben, vor allem, was den Jedermann betrifft, teils ein enormes Wissen …

… und können wahrscheinlich die ganze Rezeptionsgeschichte herunterbeten.

Oh ja! Letztens nahm ich zwei Zuschauer in meinem Taxi mit, die standen da so am Straßenrand herum. Der Mann erzählte, dass man früher die Buhlschaft nach der Qualität ihres Schreis beurteilt habe. Anders als in unserer Stückfassung gab es damals noch keinen dritten Auftritt für die Buhlschaft, keine Szene, in der sie sich, kurz bevor der Jedermann stirbt, von ihm verabschiedet. Daher habe sie, wenn der Tod kam, einfach nur geschrien. Und dieser Schrei war das Wichtigste.

Das ist interessant. Denn tatsächlich ist das Erste, wenn ich an Valery Tscheplanowa auf der Bühne denke, ihr Schrei. Als Zuschauer der Hamletmaschine von Heiner Müller, Ihrer ersten großen Arbeit am Deutschen Theater Berlin 2007 in der Regie von Dimiter Gotscheff, wurde man von Ihrem Schlussschrei als Ophelia, „Im Namen der Opfer!“, förmlich vom Sitzplatz gefegt. Ein Jahr zuvor hatten Sie mit Gotscheff Die Perser geprobt, eine Inszenierung, in der Sie letztlich nicht mitspielten. Mark Lammert, der für diese Produktion die berühmte gelbe Wand geschaffen hatte, berichtete 2018 in seiner Laudatio zur Verleihung des Ulrich-Wildgruber-Preises an Sie, dass die Proben mit Ihnen größtenteils aus zwei Elementen bestanden: einem „elfenhaften Drehen der Wand“ und einem „wesenhaften Schreien“.

Ja! Das war der Anfang!

Wie entdeckt man diesen Schrei? Diesen eigenen Ton? Sicherlich nicht auf der Schauspielschule.

Ich habe mal eine Kritik über Edith Clever gelesen, in der stand, sie habe ein Antlitz und einen Schrei. Diese Beschreibung hat mich so getroffen! Ich dachte: Ja, das ist es! Man muss als Schauspieler ein Antlitz und einen Schrei haben. Diesen Schrei zu finden, ist für mich wie das Zentrum des Bühnendaseins. Es gibt eine lustige Geschichte aus der Schauspielschule. Ich spielte Anna Petrowna aus Iwanow und sollte in einer Szene jemanden rufen. Einer meiner Dozenten sagte: „Du rufst so, dass man mitschreien will.“ Angeblich ist er hinterher in seinen Schuppen gegangen und hat es ausprobiert.

Den Schrei?

Ja! (lacht) Also so zu schreien, dass es einen mit dem Schrei wegträgt.

Nachdem ich mit den beiden Zuschauern in Salzburg im Taxi gesessen hatte, dachte ich: Komisch, warum ist der Schrei weg? Ich würde gerne mal recherchieren, wer zuletzt geschrien hat.

Und was bedeutet Antlitz?

Auf jeden Fall nicht bloß ein Gesicht. Es ist eher das Wesen, das einem innewohnt. Und das auch nicht damit beschrieben ist, dass ich eine Frau bin, dass ich 39 Jahre alt bin, dass ich aus Russland stamme. Der Schrei wiederum hat für mich auch damit zu tun, noch zu wissen, wie man als Kind geschrien hat.

 

Valery Tscheplanowa und Tobias Moretti in Jedermann, Regie: Michael Sturminger, Salzburger Festspiele 2019

Er hat etwas Ursprüngliches.

Genau. Es gibt ein Schreien, das einen nicht heiser macht.

Das ist aber Technik.

Nicht nur. Es ist eine Art von Zustand. Denn das Kind schreit aus einem Gefühl des Vertrauens heraus. Und zwar zur Mutter, zur Welt, zum eigenen Körper. Wenn es mir gelingt, so zu schreien, ist das etwas sehr Angenehmes, ich glaube, auch für den Zuschauer.

Wobei es auch den Angstschrei gibt. Etwa wenn einem, wie im Jedermann, der Tod begegnet. Auch den Schrei der Empörung, den Verzweiflungsschrei. Ein Kind schreit aus einer Not heraus, weil es sich noch nicht anders artikulieren kann.

Ja, der Ort, von dem der Schrei kommt, ist für mich entscheidend. Ich glaube, wer den Schrei in sich findet, hat auch den Zugang, um emotionale Räume zu gestalten. Viele Stücke handeln von Zuständen, von Sackgassen oder von Figuren, die in Not geraten. Diese Not zu beschreiben, erfordert in der Regel viel Sprache – und die will geführt sein, will zum Klingen gebracht sein. In der Suche nach einem Schrei liegt der Ursprung, diesen ausdeklinieren zu können, davon erzählen zu können.

Eine Art Kristallisationspunkt für alles.

Genau. Und Djadja Mitja, also Onkel Mitja – so nannte ich Dimiter Gotscheff –, suchte diesen Schrei von Anfang an. Er ließ mich wochenlang nur schreien. (lacht) Daraus entstand später Die Hamletmaschine.

Gotscheff soll gesagt haben: „Ein Ton ist wichtig in unser Gewässer Raum“. Mir kam es zunächst seltsam vor, ein Gespräch über ein Schauspielerleben mit einem Stück zu beginnen, das wie der Jedermann von den letzten Dingen handelt. Aber für Sie ist es möglicherweise gar nicht seltsam.

Ja, das stimmt.

Denn das steckt für mich auch in diesem Schrei: Ich habe das Gefühl, da steht jemand auf der Bühne, der über ein größeres Weltwissen verfügt als andere.

Was für ein Wort! Weltwissen!

Ja, ein Wissen um das Leben und eben auch um den Tod. Für mich hat Ihre Präsenz auf der Bühne – und das mag an einer Erfahrung liegen, die ich selbst einmal in Sibirien gemacht habe – etwas Schamanisches. Ich will nicht in die Folklore-Kiste greifen, aber könnte dieser Eindruck auch etwas mit der Landschaft zu tun haben, aus der Sie kommen? Sie sind in Kasan geboren, Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan in Russland.

Das ist wirklich verrückt, dass wir hier anfangen. Ich habe in Vorbereitung auf dieses Gespräch festgestellt, dass ich eine Menge steiler Thesen habe, und gedacht: Jetzt mal langsam. Wo verorte ich den Ursprung meiner Gedankenwelt? Hatte ich erzählt, dass ich jetzt zum ersten Mal bei einem Schamanen war?

Nein!

Tatsächlich. Seit zehn Jahren habe ich davon geträumt. Und diesen Winter sagte einer meiner Freunde, ein sechzigjähriger Professor, plötzlich: „Komm, wir machen eine Spritztour in die Wälder!“ Ich fragte ihn, wohin es denn gehe. Und er sagte: „Zum Schamanen!“ Ich bin auf dieser Fahrt für zweieinhalb Stunden eingeschlafen vor Aufregung. Es hätte ja auch sein können, dass es ganz doof wird und gar nicht das, was ich mir erhoffte. Und dann kamen wir an. Es waren Minus 25 Grad, in der Nähe gab es eine heiße Quelle.

Die Praxis des Schamanen in der Nähe von Marijnka

Wo war das genau?

In der Nähe von Marijnka, das ist dreieinhalb Stunden von Kasan entfernt. Diesen Ort kennen nur diejenigen, die den Schamanen kennen und einen Termin haben. Wobei es nie klar ist, ob er einen dann auch empfängt. Uns hat ein Chemiker mitgenommen, der ihn seit Jahren aufsucht, weil er beruflich mit giftigen Chemikalien arbeiten muss. Als wir in diesen Wald kamen … Moment! Ich zeige Ihnen ein Bild! Sie müssen sehen, wie es dort aussieht. (zeigt ein Foto auf ihrem Handy) Dort ist die heiße Quelle und hier ein kleines Häuschen.

Das sieht gar nicht nach Wohnhaus aus.

Das ist auch kein Wohnhaus, das ist seine Praxis. Mitten im Wald. Er wohnt irgendwo anders. Ich zeige Ihnen auch ein Bild von ihm.

(Auf dem Foto ist ein Mann mit halblangen schwarzen Haaren und schwarzer Lederjacke zu sehen.)

Der sieht ja aus wie ein Rockstar!

Als wir ankamen, lachte es uns aus diesem Häuschen entgegen. Plötzlich kam er herausgerannt und bremste direkt vor meinem Gesicht. „Wer bist du?“, fragte er. Ich sagte: „Vica.“ Das ist mein Spitzname. Er sagte: „Okay. Du kannst gleich rein.“ Alle anderen mussten draußen bleiben. Er ließ mich eineinhalb Stunden in diesem Häuschen sitzen, während er nach und nach die anderen hereinholte, um sie zu behandeln. Er hat mir sozusagen gezeigt, wie er arbeitet. Dann war ich an der Reihe.

Wie läuft eine Behandlung bei ihm ab?

Er führt ganz praktische Dinge durch und Dinge, die nicht erklärbar sind. Praktische Dinge sind: Er gibt einem Ameisensäure zu schnupfen, sodass einem die Plörre aus allen Öffnungen schießt, Augen, Nase, Ohren, das pustet alles frei …

… als Reinigung …

Ja. Danach gibt er einem unbeschreiblich bittere Kräuter zu trinken. Später legt er einen auf den Bauch, zieht an der Haut, knackt die Wirbel ein, knackt den Rumpf an das Becken. Und dann – und das ist das Gruseligste, die Leute vor mir haben geschrien wie am Spieß, ich sagte mir, ich werde nicht schreien … Ich habe so geschrien! Er greift mit den Fingern in den Körper und ertastet über Hitze Krankheiten, Entzündungen, Geschwüre … Es war ein junger Mann da, dem er sagte, es sei schon zu spät für eine Behandlung bei ihm selbst, er müsse zum Arzt. Auch bei mir hat er etwas ertastet, nichts Schlimmes, aber auch ich bin zum Arzt und sagte zu ihm: „Entschuldigen Sie, ich war beim Schamanen, können Sie mal gucken?“ (lacht) Der Arzt hat die Diagnose bestätigt und meinte, ich könne ruhig weiter zum Schamanen gehen.

Die Vereinigung von Wissenschaft und Metaphysik.

Er liest auch in den Augen und sagte zum Beispiel zu mir, dass ich etwas Neues beginnen werde und dass ich meinem Partner noch nicht vertraue. Ich glaube, er meinte meine Agentin. (lacht) Das hat sich inzwischen geändert.

Hatten Sie keine Zweifel, dass er einfach mit Versatzstücken arbeitet und den Leuten erzählt, was sie hören wollen?

Da war ich sehr aufmerksam. Ich habe schon erlebt, dass Leute eine Art Technik haben. Auch Regisseure. Was mich an dem Schamanen so beeindruckt hat, war zum einen sein Wissen um den Körper und zum anderen sein Wissen um sehr konkrete Dinge, von denen er im Grunde nichts wissen kann.

Nicht einmal durch Google-Recherche?

Nein. Zumal ich ja unerwartet kam. Er sagte zum Beispiel – und das hat mich umgehauen: „Du wohnst aber nicht im Putin-Land.“ Ich sagte: „Nein.“ Und er sagte: „Dort, wo du lebst, wird funktionieren, was du vorhast.“ Ich müsse nur sehr viel Verantwortung übernehmen, so viel wie möglich, mit der Zeit immer mehr, je mehr, desto besser.

Insofern: Zweifel? Nein. Und sowieso: Er hat mir ja auch gezeigt, wie er arbeitet. Wenn sich jemand derart in die Karten gucken lässt, ist das für mich immer das beste Zeichen, dass jemand das ist, was er vorgibt zu sein. Und: Er hat keinen Preis. Du gibst, was du willst. Du kannst auch nichts geben. Du kannst auch deine Jacke dalassen.

Auch Gotscheff stammt aus einer Gegend, den Rhodopen in Bulgarien, wo der Zugang zum Leben kein rein wissenschaftlicher ist. Es heißt, er habe in seiner Jugend seinem Vater geholfen, der Tierarzt war, und auf diese Weise miterlebt, wie Leben entsteht und auch endet.

Was an dem Schamanen auch sehr wichtig war: Er hat wahnsinnig viel gelacht und war sehr unverschämt. Er war ungeheuer unmittelbar und verhielt sich auch nicht wie eine Autorität, sondern eher wie eine Art Pendel. Er war sehr sensibel und hat schnell reagiert. Was ich toll fand: Er ging ständig raus und hat das, was er empfing, immer abgeschüttelt. Ich meine, was für ein Glück! Ein europäischer Arzt sitzt den ganzen Tag in seiner Praxis, muss alles schlucken, was seine Patienten mitbringen, und hat bloß eine Mittagspause. Der Schamane kann alle 15 Minuten raus in die Natur. Deswegen wirkt er tatsächlich wie ein Rockstar. Weil er frisch ist. Die Haare waren bestimmt gefärbt. Ich schätze schon, dass er weit über sechzig Jahre alt ist. Aber voller Leben.

Nun würde man Schamanismus und den Jedermann in der Regie von Michael Sturminger gar nicht zusammenbringen. Der Abend ist mit seinem Bühnenbild, den Kostümen und dem auf Psychologie setzenden Spiel durchaus für ein Salzburger Domplatzpublikum gebaut. Nichtsdestoweniger fand ich, dass Ihre Buhlschaft – auch dadurch, dass Sie sehr viel singen, ein aus dem Schrei heraus entwickeltes Singen – etwas Ursprüngliches hat. Inwieweit hat die Erfahrung mit dem Schamanismus Ihre Beschäftigung mit dem Jedermann, diesem Stück über den Tod, beeinflusst? Was mich wahnsinnig anzieht, ist die Rolle des Todes. (lacht)

Der Tod ist in der hundertjährigen Aufführungsgeschichte des Jedermann in Salzburg nur einmal mit einer Frau besetzt worden: mit Ulrike Folkerts 2005 in einer Wiederaufnahme der Inszenierung von Christian Stückl, aufgefrischt von Martin Kušej. Das Stück basiert ja auf dem englischen Mysterienspiel Everyman aus dem späten 15. Jahrhundert. Auch verwendete Hugo von Hofmannsthal Versatzstücke aus Hans Sachs‘ Von dem sterbenden reichen Menschen, Hekastus genannt und aus mittelalterlichem Minnesang. Statt Individuen treten mit Gott, Tod, Teufel, Mammon, Werke, Glaube eher Allegorien auf. Seit der ersten Aufführung in Salzburg durch Max Reinhardt 1920 waren die Inszenierungen immer sehr schlicht, fast archaisch gehalten, setzten auf die Kulisse des Domplatzes und auf das Spiel. Erst 2002 modernisierte Christian Stückl den Jedermann.

Für meinen Geschmack kann das alles auch sehr viel rauer gestaltet werden. Ich finde, es muss auch nicht weiterentwickelt werden, sondern eher im einfachen Sinne bewahrt, als Phänomen: Wir treffen uns und denken gemeinsam über den Tod nach. Wir erschaffen diesen Augenblick, wo wir unter freiem Himmel – das ist schon toll! – das Nachdenken spürbar machen. Solche Momente gibt es auch in unserer Inszenierung, aber sie könnten simpler sein. Deshalb war ich froh, dass ich singen durfte, weil ich dadurch den Domplatz einnehmen konnte. Das ist etwas, das mich von Anfang an beschäftigt hat. Bevor ich zum Theater ging, habe ich mich gefragt: Wie stelle ich mir Theater vor, wenn ich nicht weiß, was es ist? Für mich war es immer diese gemeinsame Zeremonie, bei der wir zusammen über ein Thema nachdenken, das grundlegend ist. Und am heilsamsten ist die Frage nach dem Tod. Es geht also um eine Versinnbildlichung oder ein Spürbarmachen von Tod. Von Todesnähe. Und das Stück hat das.

Fühlen Sie sich in der Inszenierung von Michael Sturminger fremd?

Ja. Aber ich fühle mich akzeptiert. Und das mag ich daran sehr. Auch Tobias Moretti, der den Jedermann spielt, und ich sind uns fremd. Aber in dieser Fremdheit kommen wir uns doch erstaunlich nah. Vor allem aber ist es der Domplatz, der mich annimmt, die Stadt, die Menschen, der Ort. Ich träume davon, in einer anderen Zeit wiederzukommen, mit einem anderen Regisseur, mit einem geradlinigeren Zugang, um diesen Ort noch einmal anders zu erobern.

Valery Tscheplanowa und Tobias Moretti, 2019

Der Domplatz wird dominiert von dem riesigen sakralen Barockbau des Salzburger Doms, vor dessen Portal der Jedermann spielt. Das Thema Religion erzeugt heutzutage die größte Reibung. Die Institution Kirche bildet, so wie sie sich auch hier in diesem Bau manifestiert, nicht mehr das metaphysische Zentrum unserer Gesellschaft. Trotzdem schreitet der Jedermann auch in dieser Inszenierung, wenn er in sich geht und Buße tun soll, auf das Kirchenportal zu. Peter Lohmeyer als Tod entführt den Jedermann ebenfalls in diese Richtung. Welche Rolle spielt der Dom für Sie? Welche Rolle Religion in der heutigen Zeit?

 

Da muss ich wieder vom Schamanen erzählen. Der stellte mir relativ schnell zwei Fragen. Die erste war: „Gehörst du einer Religion an?“ Ich sagte: „Nein.“ Er sagte: „Halte das so. Gehe aber in jede Art von Gotteshaus. Das sind gute Orte. Gehe zu den Buddhisten, den Muslimen, den Christen … Besuche diese Orte, aber schließe dich nicht an.“ Dann fragte er mich: „Hast du jemals deinen Nachnamen geändert, also den Namen eines Mannes angenommen.“ Ich sagte: „Nein.“ Und er sagte: „Halte das so. Trage deinen Namen, und ordne dich in der Gesellschaft nicht einem männlichen Prinzip unter.“ Das ist bei Schamanen ganz wichtig. Die Frauen geben ihre Linie an die Töchter weiter, die Männer an die Söhne. Und das Dritte, was er sagte, war: „Achte darauf, dass du isst, wenn du Hunger hast, und nicht, wenn es 13 Uhr ist. Ordne dich also nicht den Gegebenheiten der Nahrungsaufnahme eines Breitengrades unter.“ Das ist eine Form von Archaik, die ich unterschreibe. Das heißt: Religion ist für mich Respekt vor der Natur. Nicht mehr und nicht weniger. Das Gotteshaus ist ein Symbol für – ich würde sagen – Stil und Fantasie. Es ist eine Art, Religion auszudeklinieren. In der Bibel steht: „Du sollst auch nicht auf Stufen zu meinem Altar steigen, dass nicht deine Blöße aufgedeckt werde vor ihm.“ Ich meine, jedes Gotteshaus hat doch Stufen!

Ausgebranntes Haus in der Nähe von Kasan

Und auch der Salzburger Dom, wobei die Bühnenbildner Renate Martin und Andreas Donhauser diese durch eine Überbauung noch multipliziert haben. Der Jedermann muss ganz schön kraxeln, um ins Jenseits zu gelangen.

Darin steckt für mich etwas Wahres: Nicht über Stufen in einen Raum der Religion gehen. Der Raum der Religion ist ein kollektiver Raum. Und er hat auch kein Zentrum, keine Mitte, keine Ausrichtung. Dieses ganze Beten nach rechts oder links, hier steht der Altar …

… dort oben die Kanzel …

… der Predigende geht über Stufen dort hinauf.

Ich war in der ältesten Moschee Kasans. Dort wurde die Utopie, keine Mitte zu haben, verwirklicht, und trotzdem gibt es dann doch ein Podest, auf dem derjenige steht, der spricht …

… Frauen und Männer sind getrennt …

Ich glaube, dass jeder Mensch die poetische und schöpferische Kraft hat, eine Religion zu gestalten. Genau das ist doch die Bibel: ein Gemeinschaftswerk von unzähligen Menschen. Es wäre schön, wenn man sie immer weiterschreiben würde. Religion ist für mich Ausformulieren. Wie eine künstlerische Äußerung. Für mich ist das, was Gotscheff praktiziert hat, eine Religion. Das Ausformulieren und Gestalten einer Gemeinschaft. Für diese Religion gibt es keine Regeln, nur den Geschmack oder die Lust des Künstlers. Auch Frank Castorf praktiziert eine Form von Religion. Sicherlich auch mit allen Untiefen einer Religion (lacht), aber es ist eine lebendige, eine von ihm erschaffene.

Bei der der Zuschauer sofort merkt, ob er Teil von ihr werden kann oder nicht.

Sie haben von Weltwissen gesprochen: Ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der allen bewusst ist, dass wir in der Natur etwas verletzt haben, was wiederum das kollektive Weltwissen und unsere Körper beschädigt. Wir wollen „zurück“, unsere Gewohnheiten überprüfen und sehnen uns nach Einfachheit, wobei ich mit Einfachheit Verbundenheit meine. Was fördert Verbundenheit und was irritiert sie? Das kann schon ein Mikroport sein. (lacht) Denn ich würde schon gerne wissen, wie meine Stimme fliegt, wenn ich auf dem Domplatz spiele. Bei den Proben habe ich es immer genossen, wenn mein Mikroport noch nicht an war und ich dem Regisseur etwas zu sagen hatte. Der hört’s ja! Bei Gotscheff habe ich erlebt, dass ich Licht machen kann, wenn der Regisseur es zulässt. Beim Hydra-Monolog …

… von Heiner Müller, den Sie in Gotscheffs Inszenierung von Zement am Münchner Residenztheater 2013 gesprochen haben …

… da haben wir eine Nacht vor der Premiere gesagt: Wir machen das Licht im ganzen Bühnen- und Zuschauerraum an. Denn wenn das Licht an ist und ich anfange zu spielen, verändert mein Spiel das Licht im Raum, und nicht der Scheinwerfer, der auf mich gerichtet ist, macht das Licht.

Ein Schamane ist ein Schamane, wenn er zeigt, was er macht. Wenn er etwas verschleiern muss, ist er keiner. Tageslicht, keine Musik, keine Requisiten, er hat ein bisschen Maultrommel gespielt, alles war handgemacht. Das ist es: Was kann ich körperlich tun? Das Geschenk Gotscheffs war es, mich nicht zuzudecken.

Als ich in Salzburg in der Schlange zum Einlass stand, war eine Frau hinter mir, die sich fürchterlich über eine Zuschauerin echauffierte, die ihrer Meinung nach schlecht angezogen war. Sie sagte: „Da leistet die sich eine Karte für zweihundert Euro und kann sich nicht mal angemessen kleiden.“ Ich dachte erst, sie meint mich mit meinen Turnschuhen. Insofern habe ich generell, was die Sehnsucht nach Einfachheit angeht, im Sinne eines Gespürs für die Verbundenheit, meine Zweifel. Das Publikum in Salzburg scheint durchaus Geld zu haben und dies auch zeigen zu wollen. Es entspricht vielleicht wirklich diesem Jedermann, der Geld hat …

… der es missbraucht …

… der seine Leidenschaft in weltliche Dinge investiert. Das Publikum schaut sich das an, tut vielleicht innerlich ein bisschen Buße – und kann beruhigt weitermachen wie bisher. Eine sehr katholische Art von Reinigung. Castorf sagte, nach seiner Sympathie für den Katholizismus gefragt: „Was ich wunderbar finde: Ich begehe Sünden, und durch die Gnade der Vergebung kann ich die nächste Sünde begehen. Das ist mir sehr nahe, dieses Perpetuum mobile des Menschen, seiner Moral, seiner Asozialität.“

Wenn die Inszenierung vermittelt, dass alles in Butter ist, erfüllt sie nicht den Zweck. Es muss eine Art von Schreck bleiben! Daher habe ich mich auch entschieden, im nächsten Jahr die Rolle der Buhlschaft nicht mehr zu spielen.

Warum?

Weil ich als Tod wiederkommen will.

Was für ein Satz!

Wenn ich nächstes Jahr wiederkommen würde und alles brav noch einmal so spielte wie jetzt, würde ich das, was ich dieses Jahr hingelegt habe, kaputt machen. Ich möchte den nächsten Schritt gehen.

Ursprünglich sollten Sie im nächsten Jahr zusätzlich zur Buhlschaft die Werke spielen.

Man müsste dann aber das ganze Ensemble zusammenlegen, das heißt nicht nur Buhlschaft und Werke, sondern zum Beispiel auch Vettern und Mammon …

… Teufel und Geselle sind bereits zusammengelegt, Gregor Bloéb spielt beide Rollen.

Aber je mehr Rollen doppelt besetzt sind, desto mehr verdichtet sich das Stück. Das muss man wollen. Und können. So etwas lässt sich auf diese sanfte, bürgerliche Art nicht erzählen.

Was hätte Sie an der Rolle der Werke gereizt?

Die Korrespondenz zwischen der Frau, die vom Jedermann beachtet wird, aber geht, weil sie leben will, und dieser Frau, die immer unbeachtet an seiner Seite war – und bleibt.

Sie würden die Werke als Frau bezeichnen?

Besser als Prinzip. Die Buhlschaft ist ja auch eher ein Prinzip, oder: eine Allegorie. Die Werke haben etwas sehr Alptraumhaftes. Wie ein Aufschrei der Erde, etwas Misshandeltes. Und dieses Misshandelte begleitet den Jedermann. Ich finde, dass da noch einiges zu holen ist an Dunkelheit in diesem Geschöpf.

Von der Buhlschaft erwartet der Jedermann vorrangig Befreiung und zwar von sich selbst. „Sprengst ums Herz die ewgen Ketten“, lässt ihn Tobias Moretti in seiner 2019 vorgelegten Aktualisierung des Hofmannsthal-Textes sagen. Es heißt, dass besonders hochrangige Manager die Dienste von Dominas in Anspruch nehmen, damit sie, als die ewigen Entscheider, auch einmal Macht abgeben können, was wiederum als Befreiung erlebt wird.

Für mich ist die Buhlschaft ein Aspekt, die Lesart einer Beziehung. Interessant aber, dass sich gerade dieser „Aspekt einer Beziehung“ so lange hält und diese Aufmerksamkeit bekommt. Seit hundert Jahren wird über diese dreißig Sätze ein solches Bohei gemacht.

Sie haben die siebenhundertste Vorstellung gespielt!

Ja, wirklich Wahnsinn. Selbst die Journalisten sind eingesperrt in der Rezeption dieser Figur. Darin spiegelt sich auch eine Gesellschaftsstruktur wider, die sehr zu überprüfen ist. Ich habe manchmal bewusst gebohrt: „Wollen Sie mir jetzt die Frage zu dem Kleid stellen?“ „Ehrlich gesagt: Nein.“ „Na, dann stellen Sie doch eine andere.“ Und dann kamen auch andere. Meistens die Frage, ob ich den Jedermann spielen will.

Klar. Er ist das Zentrum. Man könnte das Stück sogar als Monolog denken, der sich in seinem Kopf abspielt.

Ja. Die anderen laufen Spalier, treten kurz auf und wieder ab. Das sind Abschiede.

Dennoch ist es immer ein Mann, der da im Mittelpunkt steht und dessen Gedanken wir folgen. Insofern ist die Frage, ob Sie den Jedermann spielen wollen würden, auch verständlich. Eben wie es gemeint ist: Jedermann, Jedefrau …

Jedermensch!

Genau.

Mann und Frau müssten die Rolle spielen. Der Gedanke kam mir, als ich Birgit Minichmayr und Nicholas Ofczarek im Jedermann sah. Die beiden sind ein so starkes Spielteam! Die könnten sich einfach Szene für Szene abwechseln. Ein Kostüm – und fertig. Das würde ich sehr gerne sehen. Denn wenn lediglich eine Frau den Jedermann spielt, gut, dann dreht man es einfach um. Ich finde sowieso: Das, was mich am Männerspielen interessiert, ist gar nicht das Männerspielen. Gleichzeitig müssten Männer Frauen spielen und zwar nicht im Kleid, sondern genauso unkommentiert, wie ich Männer spiele. Das würde ich gerne mal erleben: zwischen den Geschlechtern wechseln zu können, ohne das Stück aufschneiden zu müssen, um Texte irgendeines Philosophen zu integrieren. Man sollte Themen einfach als Mensch beleuchten können und mit den Geschlechtern jonglieren.

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