Sammlerherz

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Sammlerherz
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Dorina Kasten

SAMMLERHERZ

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Personen und Handlung des Romans sind frei erfunden.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Lektorat: Birgit Rentz, Itzehoe

Titel- und Porträtfoto: © Sandra Bergemann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Teil 1

1

2

3

4

5

6

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Teil 2

1

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Teil 3

1

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Danksagung

Die Autorin

Für Ramona (1965 – 2018)

Prolog

Als der Waldboden mit seinen ersten trockenen Frühherbstblättern, herumliegenden kleinen Ästen, fliehenden Käfern und eiligen roten Ameisen näher kam, riss Nora erstaunt die Augen auf. Sie begriff zwar, dass sie wie von Geisterhand aus dem Sattel gehoben worden war, konnte sich aber nicht erklären, wieso. Warum mochte das ihr, einer geübten Reiterin, passieren? Irgendwer oder irgendwas musste ihr Pferd erschreckt haben. Der Wallach hatte gescheut – jedenfalls hallte noch sein wütendes Schnauben in ihren Ohren. Das Vibrieren seiner Lungen hatte sie bereits Sekundenbruchteile vor seinem Aufbäumen gespürt. Sie war aus ihrer Träumerei geschreckt, zu spät. Und nun fiel sie immer noch, unaufhaltsam, wie in Zeitlupe, als sei ein Sturz etwas, was man auskosten müsse. Es kam ihr vor, als sei sie schon minutenlang auf ihrem Weg vom Sattel bis zur Erde unterwegs. Merkwürdig, dass sie sich nicht gegen den Fall wehrte. Nichts in ihr schrie: Nein! Das geht doch nicht! Plötzlich war die seltsame Reise zu Ende. Nora schlug hart auf. Irgendwo hörte sie einen Specht klopfen. Die Waldbewohner gingen zur Tagesordnung über. Dann wurde es schwarz um sie herum.

 

Teil 1
1

„Irgendwas stimmt nicht mit ihr.“ Nora setzte die Kaffeetasse ab und sah Leo mit gekrauster Stirn an. Sie hatte sich in der Frühstückspause zu ihrem Kollegen gesellt. In seiner Restaurierungswerkstatt im Keller der Städtischen Galerie in Neustadt war es zwar nicht sehr gemütlich und es roch nach Chemikalien, aber Nora war gern mit ihm zusammen. Außerdem musste sie unbedingt ihre neuesten Vermutungen über ihre Chefin loswerden.

„Meinst du?“, nahm Leo den Faden auf.

„Du bist doch sonst immer so einfühlsam Frauen gegenüber!“, neckte sie ihn. „Ich finde, sie wird immer zickiger. Oder ist es normal, dass sie dich in der Dienstberatung so anblafft, weil du vergessen hast, ihr rechtzeitig die Liste mit den bestellten Restaurierungsmitteln zu geben?“

„Na ja“, Leo kratzte sich am Kopf, „ehrlich gesagt, hatte sie mich schon zwei Mal ermahnt.“

„Aha“, erwiderte Nora trocken, „die Schneekönigin lässt sie jedenfalls auf die gleiche Art und Weise abblitzen, was ich wiederum nur begrüßen kann. Wenn man bedenkt, wie die immer dem armen Günther im Nacken saß.“ Sie schüttelte unwillig den Kopf und trank ihren heißen Kaffee, als ob sich die bittere Erinnerung herunterspülen ließe. Günther, ihr Ex-Chef, war vor mehr als einem Jahr in den vorzeitigen Ruhestand geschickt worden. Immer öfter hatte er sich Eskapaden mit seiner Trinkerei geleistet und war einmal zu viel der Arbeit ferngeblieben. Die Bürgermeisterin, wegen ihrer eiskalten Art von allen nur „Schneekönigin“ genannt, hatte mit der ihr eigenen Effizienz dafür gesorgt, dass Günther das Feld räumen musste. Er war zurück nach Berlin gegangen und man hatte seine Stelle ausgeschrieben. Drei Monate später war Josefine Kürlein in das Direktorenzimmer eingezogen. Sie war vierzig Jahre alt, groß und schlank, trug stets Hosenanzüge und zwirbelte ihr dünnes blondes Haar zu einem Knoten auf. Kinder hatte sie keine. Ihr Mann war auf Montage, und so blieb ihr viel Zeit zum Arbeiten. Sie kam früh und ging spät. Manchmal brannte das Licht in ihrem Arbeitsraum noch nach einundzwanzig Uhr, hatte einer der Wachdienstleute Nora berichtet.

„Was hast du eigentlich gegen sie? Sie schlägt sich doch ganz tapfer. Ist ja schließlich auch alles neu für sie“, wandte Leo ein.

„Stimmt, sie schäumt über vor Ideen, bombardiert uns damit und vergisst, dass wir viel zu wenige sind, die das alles umsetzen können. Und sie ist ein Kontrollfreak. Ständig fragt sie nach, ob ich dieses und jenes nicht vergessen habe. Manchmal komme ich mir wie ein Schulmädchen vor“, schnaubte Nora.

Leo schüttelte sich vor Lachen und strich sich über den Bart, den er neuerdings trug. „Aber vergiss nicht, dass sie schon zwei Förderanträge durchgekriegt hat, und nun kannst du deine Leihgaben für die neue Sonderausstellung von einem teuren Kunsttransport abholen lassen.“

„Stimmt auch.“ Nora blies sich den Pony aus den Augen. „Aber dafür hat sie mir vorgeworfen, dass ich zu wenige Führungen mache. Ich hab einfach nicht mehr Zeit, und im Winterhalbjahr haben sich kaum Leute angemeldet. Sie sollte lieber dafür sorgen, dass eine Museumspädagogin eingestellt wird.“

„Ach, gib ihr einfach noch ein bisschen, sie ist nicht mal ein Jahr hier. Sie wird schon noch ruhiger werden.“

Was Nora dann doch für sich behielt, war ihr gestriges Erlebnis in der Damentoilette. Sie hatte jemanden schluchzen hören, während sie sich die Hände abtrocknete. Erschrocken hatte sie gefragt, ob sie helfen könne, und war erstaunt gewesen, dass sie nach ein paar Sekunden die Stimme ihrer Chefin hörte, die, schon wieder ganz die Alte, „Nein, danke!“ rief. Verstört hatte Nora den Raum verlassen. Warum mochte Josefine Kürlein geweint haben? Das passte so gar nicht zu dieser disziplinierten, strengen Frau. Aber weshalb sollte nicht auch sie irgendeine schwache Stelle haben? „Na gut, Leo, dann will ich nicht weiter meckern, ich seh schon, du bist auf ihrer Seite.“ Gespielt beleidigt griff sie nach ihrer leeren Kaffeetasse und schlenderte zur Tür.

„He, he, du spinnst wohl! Bring mich nicht in so eine Zwickmühle, Nora Schönemann! Du glaubst gar nicht, wie ähnlich sie dir ist, genauso eine Perfektionistin wie du!“ Leo grinste herausfordernd.

„Nein! Bin ich gar nicht!“

„Doch!“

Nora streckte Leo die Zunge heraus. „Na gut, ein bisschen.“

Zurück in ihrem Arbeitszimmer, setzte sie sich wieder an den Schreibtisch und wandte sich ihrem derzeitigen Lieblingsthema, der Ausstellung mit Bildern von Wilhelmine Ernst, zu. Die Malerin, die 1867 in Neustadt geboren worden war, hatte Nora von Anfang an fasziniert. Sie stammte aus gutem Hause und war ihren eigenen Weg gegangen. Sie hatte sich nicht darum geschert, dass ihre Eltern ein anderes Leben für sie vorgesehen hatten. Sie sollte reich heiraten und Kinder bekommen. Als sie volljährig war, zog sie nach Berlin und nahm Malunterricht. Nora war auf ein Gemälde von ihr gestoßen, während sie die Dauerausstellung zur Geschichte Neustadts vorbereitete. Schon damals hatte sie beschlossen, später eine Sonderausstellung nur mit Wilhelmines Werken zu zeigen. Die sollte nun in wenigen Monaten eröffnet werden. Aber noch immer war Nora auf der Suche nach Bildern. Einen Nachlass in dem Sinne gab es nicht, die Gemälde waren weit verstreut, und manchmal gelangte Nora nur durch Zufall an das eine oder andere. Dass sie nicht alle Bilder fand, machte sie verrückt. Es musste doch noch mehr geben! Wilhelmine war sechsundsechzig geworden, über vierzig Jahre lang musste sie gemalt haben. Nora hatte schon einen Zeitungsaufruf gestartet, in anderen Museen nachgefragt ebenso wie bei Wilhelmines Familie. Es gab eine Ururgroßnichte. Sie war zwar ganz nett, wusste über ihre Tante aber noch weniger als Nora. Angeblich war das einzige Bild, das die Familie je besessen hatte, bereits als Schenkung an die Stadt gelangt. Und das war ebenjenes Gemälde, das Nora vor zwei Jahren aus dem Depot des geschlossenen Stadtmuseums geholt hatte und das jetzt in der Stadtgeschichtsausstellung der Galerie hing. Es zeigte eine Szene auf dem Neustädter Bahnhof am Tag seiner Einweihung. Wilhelmines Vater hatte es gekauft, als seine Tochter schon berühmt war. Spätestens da hatten die Eltern sich wohl damit abgefunden, dass sie eine Künstlerin in der Familie hatten. Wilhelmines Atelier war lange in Berlin gewesen. Erst mit über fünfzig war sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Sie hatte keine Kinder gehabt. Das Erbe war an die Nachkommen ihres Bruders gegangen, die nun angeblich nichts über Wilhelmine wussten. Nora stützte das Kinn auf die Hände. Wo konnte sie ansetzen? Hatte die Malerin vielleicht Freundinnen gehabt, die etwas hinterlassen hatten? Sie dachte an das Tagebuch, das Wilhelmine als junges Mädchen über wenige Monate geführt hatte. Es war Nora ebenfalls im alten Depot des Stadtmuseums in die Hände gefallen. Über den Inhalt hatte sie mit niemandem gesprochen. Wilhelmine schilderte darin ihre verzweifelte Lage kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, als ihr Vater sie mit dem hiesigen Bäckermeister Kunkel verheiraten wollte. Dann hatte sie sich auch noch in einen jungen Maler aus Irland verliebt, der in Neustadt einen Freund besuchte. Als Nora las, dass die beiden ein Schäferstündchen miteinander verbracht hatten, beschloss sie endgültig, Wilhelmines Wunsch zu respektieren und die Existenz des Tagebuchs zu verschweigen. Allerdings stellte sie diskret Nachforschungen an, was aus der im Tagebuch erwähnten Gräfin Hermine von Rattau geworden war. Wilhelmine hatte deren kleiner Tochter Malunterricht gegeben. Die beiden jungen Frauen verstanden sich gut. Im Hause der Gräfin hatte Wilhelmine auch den irischen Maler wiedergetroffen. Leider fand sich unter dem Namen Rattau im Stadtarchiv nichts Besonderes. Nur ein paar belanglose Zeitungsartikel, in denen Hermine erwähnt worden war, bekam Nora zu lesen. Sie musste unbedingt noch einmal ins Archiv, um zu recherchieren, ob vielleicht eine Künstlerin, eben eine Seelenverwandte, unter Wilhelmines Mitschülerinnen gewesen war. Vielleicht existierten Briefe oder weitere Tagebücher. Das war zwar nur eine Vermutung, aber man wusste ja nie.

2

Nora saß in ihrem Lieblingscafé in Neustadt und wartete auf ihre Schwester Hanna, die wie fast immer zu spät kam. Das „Pussicat“ war renoviert worden. Rosi, die Inhaberin, hatte sich diesmal für Tapeten mit Lilienmuster entschieden. Auch die Rosen waren als Dekoration aus dem Café verschwunden. Lilien in verschiedenen Farben dominierten nun in Vasen und Blumentöpfen, auf Sofabezügen und als Zeichnungen auf der Speisekarte. „Hab ich mich halt dran sattgesehen“, war Rosis Antwort auf Noras Frage nach dem Warum gewesen. „Jede Frau braucht doch mal eine Veränderung, oder?“ Sie hatte ihr halblanges Haar geschüttelt, das zu einem Bob gekürzt worden war, und mit gesenkter Stimme gesagt: „Du hast schließlich auch deine Haare abgeschnitten – in einer bestimmten Situation in deinem Leben.“ Ha, die Situation war eine Katastrophe gewesen! Nora hatte herausgefunden, nein, sie war quasi dabei gewesen, als ihr Mann sich nach dreißig Ehejahren eine andere schnappte. Wochen- und monatelang hatte Nora gelitten und war zu Sanne gezogen, ihrer besten Freundin. Noch jetzt, nach zwei Jahren, zeigte sich eine steile Falte auf ihrer Stirn. Rosi verzog sich hinter die Theke.

„Was hast du denn?“ Hanna ließ sich neben ihre Schwester auf das Sofa fallen. „Warum guckst du so böse, hm?“ Dann umarmte sie Nora und zerrte sich die Handtasche von der Schulter.

„Nichts. Ich wurde nur gerade mal wieder an mein Dilemma vor zwei Jahren erinnert. Aber gut, das ist Geschichte.“

Rosi fand sich wieder ein und das Thema war beendet. Statt der früher üblichen Haremshosen trug sie nun eng anliegende Kleider, die ihre üppigen Kurven zur Geltung brachten. „Na, ihr beiden Hübschen? Was darf ich euch denn bringen lassen?“

„Mohntorte!“, riefen die Schwestern wie aus einem Mund und alle drei Frauen mussten lachen. Nachdem sie auch den Kaffee bestellt hatten, lehnten sich Nora und Hanna bequem zurück. Rosi verschwand, nicht ohne noch einmal ihren Bob zu schütteln.

„Wie geht es denn mit deiner Ausstellung voran?“, fragte Hanna.

„Ich komme nicht wirklich vorwärts“, gestand Nora. „Am dreißigsten Oktober soll die Eröffnung sein, aber ein paar Bilder fehlen mir noch. Ich kann zwar den Umfang der Sonderausstellung selbst bestimmen, mir wäre es jedoch lieber, wenn ich aus dem Vollen schöpfen könnte, verstehst du? Ich bin mir sicher, dass es noch mehr Bilder gibt. Ich weiß nur nicht, wo ich nach ihnen suchen soll. Ich spüre, dass da eine Lücke in meinem Wissen ist, irgendein Geheimnis, das Wilhelmine verbirgt.“ Sie rieb sich nachdenklich die Stirn. „Ich hätte im letzten Jahr gleich nach meiner Rückkehr mit den Vorbereitungen beginnen sollen. Aber es gab so viel anderes zu tun, und wir hatten uns ja dann entschlossen, die Ausstellung erst dieses Jahr zu zeigen. Es ist immer das Gleiche, am Schluss läuft einem die Zeit davon. Zuerst bekam ich so viele Hinweise auf Bilder, dass ich dachte, es geht immer so weiter. Nun habe ich zu wenig, und ich weiß nicht, wo ich noch suchen kann.“ Nora klang deprimiert.

Ein Kellner in weißer, langer Schürze erschien und brachte die Bestellung. Nachdem er Kaffee und Kuchen auf dem Tisch platziert hatte, schwenkte er das leere Tablett hinter den Rücken und verbeugte sich leicht. Nora war jedes Mal fasziniert von der höflichen und zurückhaltenden Art der Bedienung im „Pussicat“. Sie wusste, dass Rosi ihr Personal selbst schulte.

„Hm“, machte Hanna und griff zur Kuchengabel, „und was willst du jetzt tun?“

„Ich werde noch einmal ins Stadtarchiv gehen. Vielleicht habe ich irgendwas übersehen. Ich brauche einen Hinweis, der mich zu weiteren Bildern führt. Möglicherweise hatte Wilhelmine Freundinnen, in deren Familien Gemälde aufbewahrt werden. Oder es gibt noch Nichten und Neffen, die mehr wissen. Es wird mühselig“, klagte Nora, „aber ein bisschen Zeit habe ich noch.“

 

Hanna schob ihren leeren Teller beiseite und lachte gackernd. „Oh Mann, hatte ich einen Hunger!“ Den Kuchen hatte sie in Windeseile verschlungen. Schon als Kind war sie von ihrer Mutter ermahnt worden, nicht so schnell zu essen.

Nora fiel in das Lachen ein. Im Grunde war sie froh, dass ihre Schwester nicht wieder mit der Diätschiene begann. Sie war zwar nicht so schlank, wie sie wohl gern wäre, aber immer schön anzusehen. Meist trug sie Röcke oder Kleider und schminkte sich sorgfältig. Ihre blonden Haare fielen ihr weich ins Gesicht und die modische Brille betonte ihre großen Augen. Unwillkürlich schaute Nora an sich herab und dachte daran, wie hastig sie sich heute Morgen wieder zurechtgemacht, eine Jeans und eine kurzärmlige Bluse übergestreift und außer etwas Rouge kein Make-up benutzt hatte. Sie krauste die Stirn. Das war auch schon mal besser gewesen.

„Hast du Mutti schon gefragt?“

Nora blickte ihre Schwester verständnislos an.

„Na, überleg doch mal: 1933 ist Wilhelmine gestorben. Mutti ist 1930 geboren, zwar ein paar Kilometer weiter in Friedrichshagen, aber als sie zehn war, sind ihre Eltern mit ihr nach Neustadt gezogen. Das war damals ein Nest, so viele Malerinnen wird es hier ja nicht gegeben haben, oder?“

Auf die Idee, ihre Mutter zu fragen, war Nora bisher nicht gekommen. „Mensch, Hanna!“, rief sie und schlug sich die Hand vor die Stirn. „Manchmal ist man aber auch betriebsblind. Klar, das mache ich. Über unabhängige Frauen, wie Wilhelmine es war, wurde immer getratscht, und sicher auch noch nach ihrem Tod.“ Zufrieden trank sie ihren Kaffee aus. Gleich morgen würde sie im Stadtarchiv anrufen, um sich Akten zu bestellen, und noch diese Woche bei ihrer Mutter vorbeischauen.

3

Karl Kiesewetter versuchte, die Speisekarte zu entziffern. Zu dumm, dass er seine Ersatzbrille nicht dabeihatte! Noch viel dümmer war, dass er seine Brille beim Putzen fallen gelassen hatte und zu allem Unglück auch noch draufgetreten war. Er musste sie zum Optiker bringen, der versprochen hatte, sie in der nächsten Stunde zu reparieren. Halb blind wegen seiner starken Kurzsichtigkeit war er in das nahe gelegene Café gestolpert. „PUSSICAT“ stand in großen Lettern über dem Eingang. Das konnte er gerade noch lesen. Der Optiker hatte ihm zwar angeboten, dass sein Azubi ihn begleitete, aber das hatte er vehement abgelehnt. Ein Mann von fünfundfünfzig war doch kein Tattergreis. Er wusste sich schließlich zu helfen. Unauffällig zog er eine Lupe aus der Aktentasche und hielt sie auf die Karte. Na bitte! Er winkte der netten Frau hinter dem Tresen, die ihn an den Tisch gebracht hatte. Irgendwie musste sie gemerkt haben, dass er unsicher war. „Ich möchte die Mohntorte und einen Pott Kaffee.“

„Gern, Herr …?“, säuselte sie.

„Kiesewetter“, antwortete er etwas überrumpelt. Musste man hier als Gast seinen Namen nennen? Nachdem er seine Bestellung aufgegeben hatte, spitzte er die Ohren. In diesem Café herrschte eine angenehme Atmosphäre. Die Musik war nicht zu aufdringlich und die Einrichtung sehr gemütlich, soweit er das beurteilen konnte. Und es roch gut. Irgendjemand musste Lilienduft versprüht haben. Mit der rechten Hand tastete er nach dem Bild, das gut verpackt an das Tischbein gelehnt stand. Wenigstens das war heil geblieben! Hoffentlich schaffte er den letzten Zug nach Berlin. Er hatte keine Lust, noch länger in diesem Kaff zu bleiben, obwohl sich seine Reise nicht nur wegen des Abstechers in die Galerie Meise gelohnt hatte. Die Zeichnungen von Waldemar Grieger waren wirklich exzellent. Er stellte sehr selten aus, galt als schwieriger Typ. Da konnte Frau Meise sich was drauf einbilden. Er kannte die Galeristin noch aus ihrer Berliner Zeit. Als Angestellte eines großen Museums hatte sie Workshops für Schüler angeboten. Er war mit seinen Kunstklassen öfter dort gewesen. Anscheinend hatte sie ihn heute auch gleich wiedererkannt, denn kaum hatte er die Galerie betreten, war sie in ihrer unnachahmlichen Art auf ihn zugeschwebt. Er musste zugeben, dass sie immer noch klasse aussah, aber den Flirt, den sie sofort begonnen hatte, hätte sie sich sparen können. Mit dem Thema Frauen war er durch.

Lautes Lachen von einem der Nachbartische riss ihn aus seinen Gedanken. Er wandte den Kopf und versuchte, das unscharfe Bild auf seiner Netzhaut zu analysieren. Zwei Frauen saßen nebeneinander auf der Couch und waren in ein regelrechtes Gegacker ausgebrochen. Wider Willen musste er lächeln. Leider konnte er sie nicht so genau erkennen, um ihr Alter zu schätzen. Den Stimmen nach mussten sie wohl noch jung sein. Die eine mit dem längeren, blonden Haar war etwas fülliger, die andere schlank. Die Stimmen klangen ziemlich gleich, vielleicht waren die beiden Schwestern.

Ein Kellner brachte den Kaffee und die Mohntorte. Karl schob sich einen Bissen in den Mund und war entzückt. Der Kuchen erinnerte ihn an seine Kindheit. Seine Oma hatte so einen immer gebacken, allerdings aus Hefeteig und zu einer Rolle geformt. Zu jedem Geburtstag und auch zu Feiertagen hatte die Mohnrolle auf dem Tisch gestanden. Als Karl älter gewesen war, hatte er den Hefeteig schlagen dürfen, bis er ganz locker geworden war. Dann hatte seine Oma die Schüssel in die Nähe des Ofens gestellt und Karl war alle paar Minuten hingerannt, um nachzusehen, ob der Hefeteig schon gegangen war. Er schmunzelte. Als kleiner Junge hatte er wirklich geglaubt, der Teig würde verschwinden. Karl wischte sich mit der Serviette den Mund ab und überlegte, ob er noch ein Stück Kuchen bestellen sollte. Erneut winkte er der Frau hinter dem Tresen, bat dann aber kurz entschlossen um die Rechnung und fragte sie nach der Uhrzeit. Seine Brille würde nun wohl fertig sein. Mit dem Bild unter dem Arm verließ er das Café.

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