Clarissa - Der Auftrag (Band 1)

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Clarissa - Der Auftrag (Band 1)
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Doreen Köhler

Clarissa

Der Auftrag

Sommernächte

Es ist Nacht, stillschweigend sitze ich an unserem alten Ort.

Die Dunkelheit umhüllt mich mit unheimlichen Schatten.

Der Park ist nicht mehr was er einst war, all die Wärme, sie ist fort.

Ich vermisse dich, die Nächte hier und alles was wir waren und hatten.

Mein trauriger Blick fällt in den Fluss, der vor mir fließt.

Für einen kurzen Augenblick spiegelt sich unser Spiegelbild.

Ich sehe uns wie früher, wie dein Körper meine Taille umschließt.

Für einen kurzen Moment spüre ich deine Wärme, die mich umhüllt.

Es dauert nicht lange, da holt mich die Realität wieder ein.

Mit jeder weiteren wegblinzelnden Träne, verblasst dein Bild mehr.

Nun bist du ganz verschwunden und ich sitze hier wieder allein.

Die Kälte kommt zurück, verdammt, ich vermisse dich so sehr.

Die Stunden vergehen, bald schon bricht der Morgen ein.

Doch ich will noch nicht gehen, vielleicht kommst du ja noch.

Verzweifelt schüttle ich den Kopf, ich weiß, das wird nicht so sein.

Trotzdem hoffe ich so sehr, du spürst die Verbundenheit irgendwann doch.

Dir ist es egal, wann werde ich es mir endlich eingestehen?

Denn hätte es dir etwas bedeutet, dann wärst du jetzt bei mir.

Mein Herz schreit, die Sehnsucht kreischt,

denn ich kann dich nirgends sehen.

Wie kann es sein, dass es mir so viel mehr bedeutet hat als dir?

Für dich war das mit uns nur ein kleiner Zeitvertreib, ein amüsantes Spiel.

Somit, herzlichen Glückwunsch, du hast mehr als nur das Spiel gewonnen.

Ich war eine von vielen, nichts Besonderes, einfach nur ein weiteres Ziel.

Du hast nicht nur den Sieg,

sondern auch mein Herz und Vertrauen mitgenommen.

Das Leben geht immer weiter.

Wenn es dir zu schnell geht und du nicht mehr hinterher kommst,

mache eine kurze Pause, um dann mit ganzer Kraft

Anlauf zu nehmen und aufzuholen.

Doreen Köhler

Kapitel 1

Auch wenn langsam die Abenddämmerung heranbrach und es immer kühler wurde, verspürte ich noch keine Anzeichen von Müdigkeit.

Wie so oft, nervte ich meine Mutter solange damit, mit mir noch ein bisschen Verstecken zu spielen, bis sie mein Gebettel nicht mehr ertrug und nachgab.

Unsere kleine Hütte, in der wir lebten, lag mitten in einem großen Wald. Deswegen wurde das Versteckspielen auch nie langweilig.

»Aber nur eine Runde, Lissa.« Meine Mutter lachte und lief los, um sich ein Versteck zu suchen.

Mit verschränkten Armen lehnte ich meinen Kopf an einen dicken Baumstamm und schloss die Augen.

Langsam und laut fing ich an zu zählen, wobei ich versuchte, ihren Schritten zu lauschen. Bei der Zahl Sieben ertönte jedoch ein entsetzliches, ohrenbetäubendes Kreischen, das die Vögel aus den Bäumen aufscheuchte und mich erschrocken einen Satz zur Seite machen ließ. Und dann erschollen markerschütternde Schreie. Das war unverkennbar die Stimme meiner Mutter gewesen.

»Mama?« Mit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem schaute ich mich um. »Mama?«, schrie ich jetzt. »Wo bist du? Mama?« Meine Stimme wurde immer lauter und hektischer, wobei sie noch längst nicht den Geräuschpegel meiner Mutter erreicht hatte.

Bei jedem Schritt, dem ich mich ihren angsterfüllten Schreien näherte, mutierten meine Beine immer mehr zu Wackelpudding. »Mama?«, kreischte ich wieder und wieder und immer wieder. Es schien fast so, als schrien wir um die Wette. Doch irgendwann gewann ich das ungewollte Duell. Ihre Stimme verstummte. Meine nicht. Ich brüllte immer noch den ganzen Wald zusammen. Und dann … brach auch meine Stimme ab.

Erstarrt blieb ich vor unserer Hütte stehen. Eine breite Blutspur lief entlang des schäbigen Holzes, bis um die Ecke. Auf zittrigen Beinen ging ich ihr nach, und blieb im nächsten Moment erneut abrupt stehen.

Meine Mutter lag regungslos in einer immer größer werdenden Blutlache. Eine Bestie, eine wie man sie sonst nur aus Märchen kannte, schlug ihre scharfen Zähne in den Hals meiner Mutter.

Auf den ersten Blick ähnelte das Ungeheuer einem Werwolf mit Flügeln, dessen Fell so schwarz wie die tiefste Nacht war. Die Flügel, die aus seinem kräftigen Rücken ragten, hatten Ähnlichkeit mit denen einer Fledermaus. Nur waren sie an die Größe des Monsters angepasst und daher riesig. Am unheimlichsten waren jedoch seine Augen. Sie waren komplett weiß. Und auch wenn sie im ersten Augenblick leer wirkten, lag darin doch ein Ausdruck von Hass und Gier. Aus seinem bedrohlichen Maul tropfte außerdem ekelerregender, blutiger Speichel auf den Boden.

Mein Herz setzte aus. Ich taumelte leicht nach hinten, sodass ich mich an einem Holzbrett der Hütte festhalten musste, um nicht nach hinten zu stolpern. Ich wollte wieder schreien, wollte weg, aber der Blick des Ungeheuers hielt mich gefangen. Ich konnte mich nicht bewegen. Meine Beine waren erneut wie festgenagelt und ich starr vor Angst.

Der Augenkontakt, den ich mit dem Biest hatte, dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Ich war von diesem Anblick auf eine kranke Art so gefesselt, dass ich jegliches Zeitgefühl verlor und mir mit einem Mal ganz schwindelig wurde. Es fühlte sich an, als würde jemand die Erdkugel als Basketball benutzen.

Bevor ich mich bewegen konnte, löste sich das unheimliche Wesen von meiner Mutter und machte ein paar Schritte rückwärts. Den Blick wandte es dabei nicht von mir ab. Ich zuckte zusammen, als sich die Kreatur abrupt umdrehte und sich in den Wald davon machte.

Mein Gehirn brauchte Zeit, um den Befehl weiterzugeben, aber dann schrie ich.

Das Geräusch eines schrillenden Weckers schreckte mich auf. Schweißgebadet fuhr ich unter der viel zu warmen Bettdecke auf und mir wurde klar, wo ich war.

Genervt drückte ich mir mein Kissen aufs Gesicht und holte nach dem Wecker aus. Mit einem Krachen fiel er vom Nachttisch und gab endlich die gewünschte Ruhe. Ich machte die Augen wieder zu und suchte nach einer bequemeren Position, doch ehe ich sie fand, stand mein Vater schon im Zimmer. Natürlich wollte er nachschauen, ob ich auch wirklich aufgestanden war.

Erbarmungslos zog er das Kissen von meinem Gesicht, ging zum Fenster und schob die Vorhänge zur Seite.

»Noch fünf Minuten, Papa«, flehte ich schon wieder im Halbschlaf und hielt mir die Hand vors Gesicht, weil die Sonne mich blendete.

»Das sagst du jeden Tag, Clarissa«, antwortete mein Vater gleichgültig und zog mir einfach die Decke weg.

»Schlafverderber«, brummte ich und rollte mich auf der Matratze zusammen, um die morgendliche Kühle nicht so an mich heranzulassen. Leider nur mit mäßigem Erfolg. Und wenn ich dann noch an die Schule dachte, braute sich ein unangenehmes Gefühl in meinem Magen zusammen, das einzig und allein mein Bett hätte mindern können. Allerdings ließ mein Vater das nicht zu.

»Morgenmuffel«, gab er lachend zurück und warf meine Bettdecke auf den Stuhl.

Seufzend gab ich auf, setzte mich aufrecht hin und rutschte zur Bettkante, die dabei ein unangenehmes Knarzen von sich gab.

»Hast ja gewonnen«, murmelte ich noch immer schläfrig, während ich meine Füße auf den kalten Fußboden stellte.

»Geht doch.«

Während mein Vater mit einem zufriedenen Grinsen aus meinem Zimmer verschwand, musste ich erneut an meinen schrecklichen und immer wiederkehrenden Traum denken.

Obwohl es nun schon fünf Jahre her war, sah ich es immer noch genau vor mir, meine Mutter, das Blut, das Monster.

Damals war ich zwölf Jahre alt gewesen, und bis heute glaubte mir, bis auf meinen Vater, niemand, was ich damals erlebt hatte. Ich verzog das Gesicht, als ich mich an das Gespräch mit den Polizisten erinnerte. Sie hatten gemeint, ich hätte zu viele Märchen gelesen und sich sogar darüber lustig gemacht.

Schön wär's, wenn es eine Erzählung von Rotkäppchen gewesen wäre. Schließlich sah der Wolf in dem Märchen tausendmal harmloser als der aus, den ich gesehen hatte.

Nachdem ich ein Jahr später immer noch dabeigeblieben war, dass das alles wirklich geschehen war, hatte die Sozialarbeiterin vom Jugendamt dafür gesorgt, dass ich in eine Psychiatrie für Kinder und Jugendliche geschickt worden war. Eine Nachbarin hatte es einmal als Besserungsanstalt bezeichnet.

Ich verzog das Gesicht. Besser war dadurch aber rein gar nichts geworden!

Im Gegenteil, es waren schreckliche drei Jahre gewesen, die ich hatte dortbleiben müssen. Jeden Tag der gleiche Ablauf: Aufstehen, Frühstücken, Unterricht, Mittagessen, Therapie, Abendessen. Ich war eingesperrt gewesen und hatte meinen Vater entsetzlich vermisst, den ich nur jedes zweite Wochenende hatte sehen dürfen.

Auch er hatte unter unserer Trennung gelitten. Er hatte seine Frau verloren, seine Tochter war für verrückt erklärt worden und niemand hatte ihm bei all seinen Problemen beigestanden. Plötzlich hatten unsere Bekannten und Verwandten eine neue Nummer gehabt oder aber waren für ihn aus anderen Gründen nicht mehr zu erreichen gewesen.

Natürlich war auch in unserem Dorf meine Version des Unfalls, wie man den Tod meiner Mutter offiziell bezeichnet hatte, herumgegangen wie ein Lauffeuer. Auch hier waren wir wie Ausgestoßene behandelt worden und daran hatte sich bis heute nichts geändert.

Ich glaubte inzwischen, dass die Leute sich nicht aus Bosheit so verhielten, sondern vielmehr aus Angst. Sie glaubten lieber einer schönen Lüge, als einer grausamen und furchteinflößenden Wahrheit ins Gesicht zu blicken.

 

Mit knapp sechzehn war ich dann endlich klug genug gewesen, zu behaupten, dass ich damals gelogen und mir die ganze Geschichte nur ausgedacht hatte, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Allerdings hatte mich meine Psychologin nach dieser Aussage trotzdem nochmals zu einer endlosen Zahl von Therapiesitzungen gezwungen. Doch dann, nach einem weiteren halben Jahr, durfte ich endlich zurück nach Hause, zu meinem Vater.

Und jetzt saß ich hier und dachte über mein beschissenes Leben nach, obwohl ich mich eigentlich schleunigst für die Schule fertig machen musste.

Seufzend stand ich auf und ging zu meinem Kleiderschrank. Das Erste was mir in die Hand fiel, war ein dunkelblaues T-Shirt, an das ein weißer Rock angenäht war. Das Outfit hatte ich in der Psychiatrie immer tragen müssen. Keine Ahnung, wieso ich es immer noch aufbewahrte. Eigentlich trug es nur schlechte Erinnerungen in sich.

Ich legte es zurück und entschied mich für ein einfaches weißes T-Shirt und eine dunkle Jeans.

Danach wusch ich mich, kämmte mir meine langen, kastanienbraunen Haare und trottete die Treppe hinunter in die Küche.

Mein Vater saß schon angezogen, mit einer Tasse Kaffee und der Zeitung vor sich und einem Marmeladenbrötchen in der Hand, am gedeckten Frühstückstisch.

»Guten Morgen.« Ich gähnte, streckte mich und ließ mich dann auf einem kleinen wackligen Stuhl ihm gegenüber nieder. Ich wählte ein Körnerbrötchen und schnitt es auf. Nachdem ich sorgfältig Butter darauf geschmiert hatte, klatschte ich eine ganze Scheibe Gouda hinterher und klappte es zusammen.

Ich war froh, dass mein Vater endlich gelernt hatte, Wurst und Käsescheiben nicht in eine gemeinsame Box, sondern in getrennte zu legen. Als Vegetarierin war Käse mit Wurstgeschmack nämlich nicht sehr appetitlich.

»Dein Schulbrot ist schon fertig«, schmatzte mein Vater und legte seine angebissene Brötchenhälfte auf den Teller, um einen Schluck Kaffee zu trinken.

»Danke«, sagte ich und kicherte über seine Essmanieren.

Die Marmelade, die er sich auf sein Brötchen geschmiert hatte, klebte an seinen Mundwinkeln und seiner Nasenspitze.

»Papa«, sagte ich lachend, »deine Nase und dein Mund … du siehst so aus, als könntest du nicht essen.«

Er schielte auf seine Nase, was noch komischer aussah, strich mit dem Zeigefinger einmal darüber und leckte sich den Rest von den Lippen.

»Schon möglich, aber daran erkenne ich immer wieder, dass du unverkennbar meine Tochter bist.« Er grinste noch breiter als ich, während er mir mit seinem Finger ein bisschen Butter von der Wange wischte.

Mein Vater war alles für mich. Ein Leben ohne ihn konnte und wollte ich mir einfach nicht vorstellen. Ich kannte keinen Menschen auf der Welt, der mehr Humor hatte als er und das trotz allem, was er an schlimmen Dingen erlebt hatte.

Doch obwohl er so unbekümmert wirkte, wusste ich, dass ihn der tragische Verlust meiner Mutter noch immer belastete. Ebenso wie die Ausgrenzung durch die Leute in Fahrendsberg.

Obwohl Mamas Tod nun schon fünf Jahre her war, sah ich ihn gerade in letzter Zeit oft am Tisch sitzen und durch ein altes Familienalbum blättern. Er glaubte wohl, ich würde schon schlafen und nicht sehen, wie er dann weinte.

Als ich aufgegessen hatte, packte ich mein Schulbrot ein und gab meinem Vater einen Kuss auf die Wange.

»Bis später, Lissa«, rief er mir hinterher, als ich die Haustür hinter mir schloss.

Da wir etwas abgelegen wohnten, dauerte mein Schulweg zu Fuß fast eine halbe Stunde. Ich ging ihn eigentlich ganz gern, aber auch nur, wenn es nicht regnete und ich von der Schule kam und nicht hingehen musste. Und da ich mich viel lieber in der Natur, als in der Stadt aufhielt, fand ich es herrlich, dass unser kleines Häuschen mitten im Wald stand. Okay, vielleicht nicht ganz mitten drin, aber auf jeden Fall um einiges von der Hauptstraße entfernt.

Wie immer, wenn ich auf dem Weg zur Schule war, fragte ich mich, was ich an diesem Ort überhaupt sollte. Eigentlich ging ich nur hin, um einen guten Abschluss zu schaffen, weil ich meinen Vater stolz machen wollte. Ich persönlich war der festen Meinung, keinen Abschluss zu brauchen. Mein Entschluss Malerin zu werden und damit in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten, stand ohnehin fest. Das war mein Traumberuf und ein anderer kam für mich nicht in Frage.

Ich hatte keine Lust darauf, so wie viele andere Menschen auch, meine wertvolle Zeit mit stumpfsinniger Arbeit in einer Fabrik oder einem öden Büro zu verschwenden. Die Vorstellung, jeden Tag bis zu acht oder noch mehr Stunden immer das Gleiche zu machen, fand ich abschreckend. Mein Ziel war es darum, mein Hobby zum Beruf zu machen und wie meine Mutter später mein eigener Chef zu sein. Sie hatte sich ihre Zeiten selbst einteilen können und gutes Geld mit ihrer Kunst verdient, denn sie war recht bekannt gewesen. Manche Leute waren sogar aus anderen Städten und dem Ausland angereist, nur um ihre Bilder bei Versteigerungen für einen hohen Preis zu erwerben. Natürlich hatte es nicht lange gedauert, bis sich ihr Tod auch in diesen Kreisen herumgesprochen hatte und auch die Geschichte, die ich darüber erzählt hatte. Wäre mir damals bewusst gewesen, dass ich mit meiner Aussage alles und jeden gegen uns aufhetzen würde, hätte ich lieber geschwiegen. In dem Alter hatte ich es aber nun einmal nicht besser gewusst und nicht verstanden, dass meine Geschichte nicht nur die Bilder meiner Mutter im Preis gedrückt hatte.

Auch meine Mitschüler wussten über das monströse Wolfswesen leider besser Bescheid, als mir lieb war. Seit ich aus der Psychiatrie entlassen worden war und wieder hier zur Schule ging, war ich für alle immer noch die Verrückte, die an Werwölfe glaubte. Dabei habe ich das Tier nie als Werwolf bezeichnet. Es war irgendetwas anderes … Etwas Schlimmeres.

Wenn meine Mitschüler nicht gerade damit beschäftigt waren, sich fiese Streiche für mich auszudenken, ignorierten sie mich oder lästerten. Sie gaben mir auf jeden Fall immer das Gefühl nichts wert zu sein und nannten mich Psycho.

Darum betrat ich auch an diesem Morgen den Klassenraum mit einem mulmigen Gefühl und setzte mich stumm an meinen Platz.

Meine ehemals beste Freundin Emma saß neben mir. Sie war eigentlich ganz okay. Immerhin sprach sie ab und zu noch mit mir. Allerdings nur, wenn es niemand mitbekam.

Ich sah mich um. Antonia und Lara, die größten Zicken aus unserer Klasse thronten auf der Fensterbank und waren mal wieder total aufgestylt. Sie lachten laut, sodass auch ja jeder mitbekam, wie toll sie waren. Ich verzog das Gesicht, mir wäre es viel lieber gewesen, wenn man mir überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

Thomas schrieb wie immer die Hausaufgaben von Tamara, der Streberin, ab. Sie stand total auf ihn. Thomas wusste das und nutzte es gnadenlos aus. Jeden Tag schrieb er bei ihr ab. Egal, ob bei den Hausaufgaben oder Arbeiten, und sie ließ es immer zu. Ich fragte mich, wie lange es noch dauern würde, bis Tamara es endlich checkte, dass Thomas sie nur ausnutzte. Hinter ihrem Rücken machte er sich sogar mit seinen Kumpels über sie und ihre viel zu große Streberbrille lustig.

Und dann sah ich zu Pascal und Fynn, die hinten in der Ecke hockten und ihr Plakat für Biologie fertigmachten.

Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken, als mir die Biopräsentation wieder einfiel. Jedes Mal, wenn ich irgendetwas vor der Klasse vortragen musste, gab es nur miese Kommentare, und fieses Gelächter und das würde auch heute wieder so sein. Meine Hände wurden ganz schwitzig, wenn ich nur daran dachte.

Ich wusste nicht, warum Frau Steinmeyer gerade meiner Gruppe das Thema Wölfe gegeben hatte. War es tatsächlich einfach nur Zufall, wie sie behauptete?

Allerdings konnte ich mir auch gut vorstellen, dass sie das mit voller Absicht getan hatte, um mir eins auszuwischen. Sie mochte mich aus irgendeinem Grund nicht. Genauso wenig, wie ich sie.

Mit Sicherheit hielt sie mich genauso verrückt, wie es alle anderen taten. Nie hatte jemand Mitleid gezeigt, obwohl ich mit eigenen Augen hatte zusehen müssen, wie meine Mutter umgebracht worden war. Ich hatte es auch nie von jemandem verlangt, aber von allen nur verspottet zu werden, tat weh. Ich hatte mir immer nur einfach eine einzige Freundin gewünscht, mit der ich über die ganze Sache reden konnte. Eine, die mir glaubte und die einfach zu mir stand und mich verteidigte, da ich es selbst nicht konnte.

Abbygail, meine Biopartnerin, hörte über Kopfhörer Musik, wobei ihr Bein, das sie über das andere geschlagen hatte, zum für mich unhörbaren Takt mitwippte. Im Gegensatz zum Rest der Klasse war sie eigentlich in Ordnung. Sie machte immer ihr eigenes Ding und beachtete kaum jemanden. Sie war schon etwas älter und hatte eine Klasse wiederholen müssen, obwohl sie ganz bestimmt nicht dumm war. Auf jeden Fall hatte sie ihren ganz eigenen Kopf und manchmal wünschte ich mir, genauso viel Selbstbewusstsein wie sie zu haben.

Ich versuchte mich möglichst unsichtbar zu machen, als ich aufstand und zu ihr ging.

Sie wirkte nicht erfreut, als sie ihren Kopfhörer in den Nacken schob, weil ich ihr auf die Schulter getippt hatte.

»Hast du das Plakat mit?«, fragte ich leise und versuchte, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.

Sie nickte kurz und setzte dann den Kopfhörer wieder auf.

Abbygail war die Einzige aus der Klasse, der ich es nicht übel nahm, wenn sie nicht mit mir redete. Das tat sie bei jedem. Es war einfach ihre Art. Sie war eben einfach lieber für sich.

Ich zuckte zusammen, als sich Abbygail plötzlich abrupt umdrehte und ihr Arm direkt vor meinem Gesicht in der Luft stehen blieb. Sie hatte eine Papierkugel abgefangen, die offenbar für meinen Kopf bestimmt gewesen war. Sie warf sie mit voller Wucht zurück.

»Behalt dein Gehirn bei dir«, zischte sie Antonia zu, die den Papierball mit ihren Armen abwehrte.

Bevor ich Zeit hatte, mich über ihre blitzschnelle Reaktion zu wundern oder mich für ihre Hilfe zu bedanken, betrat unsere Biolehrerin Frau Steinmeyer das Klassenzimmer. Ihre strenge Stimme hallte sofort durch den Raum. »Clarissa, setz dich bitte.«

Schnell huschte nicht nur ich auf meinen Platz.

Als sie ihre Aktentasche neben das Pult stellte, standen wir auf, um sie zu begrüßen. Danach breitete sie einen gelben Ordner vor sich aus und blätterte darin herum.

»Heute stellen die Gruppen Fledermäuse, Erdmännchen und Wölfe ihr Plakat vor«, erklärte sie bestimmt.

Verdammt, jetzt ging das Theater los.

Während meine Mitschüler der anderen beiden Gruppen gelassen ihre Präsentationen vortrugen, bebte ich am ganzen Körper und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Ich überlegte mir schon mal Kontersprüche für alle möglichen Beleidigungen, die gleich folgen könnten. Aussprechen würde ich sie zwar eh nicht, aber es beruhigte mich einfach, dass sie in meinem Kopf waren.

»Sehr schön.« Frau Steinmeyer nickte zufrieden, als die zweite Gruppe fertig war.

Sie sah wieder in den gelben Ordner vor sich und tippte mit ihrem Zeigefinger auf das Blatt. »Als nächstes kommt die Gruppe Wölfe von Abbygail, Cem und Clarissa.«

Lieber würde ich sechs Stunden Physik haben, als mir gleich das Gelächter der anderen anhören zu müssen. Seit der Psychiatrie, hatte ich extrem wenig Selbstbewusstsein. Um genau zu sein, so gut wie gar keins.

Mutig, zumindest galt das für mich schon als mutig, stellte ich mich trotzdem vor die Tafel, die Hände in den Jackentaschen versteckt und meinen Blick konzentriert nach unten gerichtet, so, als würde da ein Zehn-Euroschein liegen, den ich gern aufgehoben hätte.

Cem, der größte Klugscheißer, den die Welt je gesehen hatte, stand lässig neben mir und hielt das Plakat vor seinen breiten Körper. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Antonia und Lara, die mal wieder blöd kicherten, auf mich zeigten. Mir wurde heiß und ich merkte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss, bevor wir überhaupt angefangen hatten.

So unauffällig wie möglich, fuhr ich mir mit der Hand über meine feuchte Stirn. Während Cem und Abbygail ihren Teil vortrugen, stellte ich mir die ganze Zeit vor, wie ich von einem Bein auf das andere hüpfte, so hibbelig war ich.

Als nun ich an der Reihe war, meinen Teil der Präsentation vorzulesen, schaute Abbygail mich erwartungsvoll an. Mich traf es wie ein Blitz, als ich bemerkte, dass ich meine Karteikarten zu Hause auf den Schreibtisch vergessen hatte.

 

Improvisiere!

»Ähm, also …«, fing ich an zu stottern. Doch bevor ich einen richtigen Satz hervorbrachte, musste ich schon den ersten Spruch über mich ergehen lassen.

»Komm schon, Clarissa, du wirst ja wohl irgendwas über Wölfe wissen. Schließlich kennst du sie doch persönlich.«

Wie auf Kommando prustete die ganze Klasse los, während es mich wie ein Schlag ins Gesicht traf. Kevin war zwar für seine blöden Sprüche bekannt, aber musste er so langsam nicht mal wissen, dass andere Menschen auch Gefühle hatten?

Ich verdoppelte die sechs Stunden Physik auf zwölf und bemerkte, wie Abbygail Kevin einen finsteren Blick zuwarf. Nervös nahm ich meine Hände aus den Jackentaschen, tat so, als hätte ich den Spruch überhört und zeigte auf ein Bild, auf dem ein Rudel Wölfe zusehen war. Darunter stand ein kleiner Text.

Hoffnungslos versuchte ich noch einmal zu improvisieren. »Also … Wölfe sind Rudeltiere und jagen deshalb immer zusammen.« Super, wie originell.

»Du hattest aber immer nur von einem Wolf gesprochen«, hörte ich es von vorn. Der Spruch kam diesmal von Thomas und wieder lachten alle.

Allmählich reichte es mir.

Wenn es sein musste, war ich auch bereit dazu, die ganzen Sommerferien, jeden Tag, vierundzwanzig Stunden lang Physik zu haben. Alles wäre mir lieber, als hier vor der ganzen Klasse zu stehen, mir solche Scheißsprüche anzuhören und gegen meine Tränen anzukämpfen.

Hilfe suchend blickte ich zu Frau Steinmeyer, die mehrmals Ruhe brüllte und komisch herumfuchtelte, worüber die Klasse aber nur noch mehr lachte.

Wäre ich nicht so deprimiert gewesen, hätte ich wahrscheinlich selbst über unsere Lehrerin gelacht, aber so sah ich nur mit tränenverschwommenem Blick zu Abbygail und Cem hinüber. Abbygail runzelte mit ernster Miene die Stirn. Cem jedoch, grinste breit über beide Ohren.

»Wahrscheinlich hat deine Mutter sich selbst umgebracht, weil sie auch so ein Psycho war wie du«, grölte Antonia lachend.

Bis auf Abbygail und Frau Steinmeyer lachte die ganze Klasse mit. Sogar meine damals beste Freundin Emma konnte sich das Kichern nicht verkneifen.

Das gab mir den Rest. Ohne zu zögern ging ich zu meinem Platz und griff nach meiner Tasche. Beim Verlassen des Klassenraumes streckte ich meinen Mittelfinger in die Höhe.

»Clarissa Sommer, komm sofort zurück! Ansonsten rufe ich deinen Vater an«, hörte ich Frau Steinmeyer mit schriller Stimme hinter mir herrufen.

Sollte sie doch.