Herausforderungen der Wirtschaftspolitik

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Herausforderungen der Wirtschaftspolitik
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Dirk Linowski

Herausforderungen der Wirtschaftspolitik

UVK Verlag · München

Umschlagmotiv: © iStockphoto tobiasjo


Prof. Dr. Dr. h.c. Dirk Linowski studierte an der Universität Rostock und an der Université Paris I, Panthéon Sorbonne, Mathematik und Mathematische Statistik. Im Jahre 1999 promovierte er an der Universität Rostock in Betriebswirtschaftslehre. Nach einer Assistenzprofessur an der Universiteit Nijmegen in den Niederlanden und einem einjährigen Lehr- und Forschungsaufenthalt an der Tongji Universität Shanghai und der Shanghai Normal University (VR China) wurde er im Jahre 2004 auf den Lehrstuhl für Asset Management mit ab 2006 verbundenem Direktorat des Instituts for International Business Studies an der wissenschaftlichen Steinbeis-Hochschule Berlin berufen, das er seitdem innehat. Prof. Linowski war von 2005 bis 2009 MBA-Direktor eines gemeinsamen Programms der Universität Lettlands, deren Ehrendoktortitel er trägt, und der Steinbeis-Hochschule Berlin; er ist – neben zahlreichen Lehr- und Forschungsaufenthalten in den Niederlanden, Frankreich, Neuseeland, den USA, Namibia, Tunesien und Äthiopien – seit 2004 „Distinguished Guest Professor in Applied Mathematics“ an der Shanghai Normal University (VR China) und seit 2008 dauerhafter Gastprofessor an der Riga Graduate School of Law, Lettland.

© UVK Verlag 2021

– ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

utb-Nr. 5432

ISBN 978-3-8252-5432-2 (Print)

ISBN 978-3-8463-5432-2 (ePub)

Inhalt

  Einführung und Danksagung

  Vorwort

  Teil I: Demografie, Bildung und Arbeit

 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs1.1 Wendezeit? Versuch einer geopolitischen Einordnung1.2 Werte und Werteorientierung1.3 Positive vs. Normative TheorieExkurs: Ökonomie als Wissenschaft

 2 Demografie und Demografisierung2.1 Fertilität2.2 Altersverteilungen2.3 Bevölkerungsszenarien2.4 Migration2.4.1 Zu- und Abwanderung2.4.2 Alterung und BinnenmigrationExkurs: Zum täglichen Umgang mit Zahlen und Statistik

  3 Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung 3.1 Kranken- und Pflegeversicherung 3.2 Rentenversicherung Exkurs: Das Bruttoinlandsprodukt

  4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit 4.1 Bildung im Lauf der Jahrzehnte: Der Weg zu Massenabitur und Massenuniversitäten 4.2 Entwertung der Nichthochschulbildung 4.3 Bildungspolitik und Ideologie 4.4 Rahmenbedingungen für Bildung, Bildungseinrichtungen und Bildungsteilhabe 4.5 (Jugend-)Arbeitslosigkeit und Arbeit Exkurs: Zur gesellschaftlichen Diskursfähigkeit

  5 Die deutsche Volkswirtschaft im Weltmaßstab 5.1 Exportweltmeister? 5.2 Die deutsche Volkswirtschaft in der EU Exkurs: Kunst, Wissenschaft und Politik

  Zwischenresumé Teil 1

  Im Text direkt zitierte Literatur

  Teil II: Staat und technologischer Wandel

  Einführung

 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte6.1 Alle Jahre wieder6.2 Der „Giftcocktail“6.2.1 Währungsmärkte6.2.2 Zinspolitik von EZB und Fed6.2.3 Auswirkungen der Niedrigzinspolitik6.2.4 Taget2-SaldenExkurs: Von der Macht der Ideen (und den Grenzen des Verständnisses)

  7 Zur Rolle des Staates Exkurs: Zu Kompromissen verdammt

  8 Wettbewerb und Regulierung Exkurs: Modelle, Spieltheorie und Regulierung

  9 Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende 9.1 Grundprinzipien der Umweltökonomie 9.2 Muscheln in Helmut Schmidts Garten Exkurs: Nicholas Georgescu-Roegen und die vergessenen Denker

  10 Digitalisierung und Industrie 4.0 10.1 Innovationen 10.2 Historischer Abriss zur Digitalisierung 10.3 Bewertungen und (Markt-)Macht 10.4 Datenökonomie 10.5 Wirtschaftliche und erste politische Konsequenzen 10.6 Big Data 10.7 Medien 10.8 Krypto-Geld 10.9 Politische Dimensionen Exkurs: Die Wirtschaftsprüfung in der Wissensgesellschaft

  Zwischenresumé und -plädoyer

  Im Text direkt zitierte Literatur

  Teil III: Deutschland in der Welt

  Einführung

 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde11.1 Klassifizierungsansätze von Ländern gemäß ihres wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstandes11.2 Unternehmen vs. Staaten11.3 Zum Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion11.4 Die BRIC(S)-Märkte11.4.1 Indien11.4.2 Südamerika und BrasilienExkurs: Wallersteins Modern World System-Theorie

  12 Russland 12.1 Zur geopolitischen Situation im Jahr 2020 12.2 Investitionen in Russland 12.3 Russland und die EU Exkurs: Renten, Rentiers und Rentenökonomien

 13 Der Wiederaufstieg Chinas13.1 Geistige Wurzeln und Verbindungen zur Gegenwart13.2 Mao Zedong, Deng Xiaoping und Konfuzius13.3 Der wirtschaftliche Reformprozess in China seit 197813.4 Demografie Chinas13.5 Die Internationalisierung des chinesischen „Modells“13.5.1 Handelsbeziehungen und -politik13.5.2 Kulturexport13.6 Von der Reformpolitik in die Gegenwart13.7 Chinas Status im Jahre 2020Exkurs: Die BRI in Afrika

 

  14 Always with and behind us? Die (noch) verbliebene Supermacht USA Exkurs: Schulden Aufgaben zur Selbstüberprüfung

 15 Die unterste Milliarde15.1 Die wirtschaftliche Marginalisierung der ärmsten Länder15.1.1 Warenverkehr15.1.2 Kapitalströme15.1.3 MigrationExkurs: Rassismus vs. Sklaverei

  Schlussbetrachtung

  Direkt im Text zitierte Literatur

  Anhang

  A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung

  B. Abkürzungsverzeichnis

  C. Glossar

  D. Personenregister

  E. Literaturverzeichnis

  F. Sachwortverzeichnis

Einführung und Danksagung

Inhalt dieses Buches sind Wissen und Fragen, die ich ursprünglich meinen beiden Kindern vermitteln wollte.

Zu Papier gebracht habe ich einen Teil dieser Gedanken erstmalig im Jahre 2015 in Form von drei Studienheften, die ich für die Euro-FH in Hamburg verfasst habe und die Basis für die Vorlesungsreihe „Economic and Political Challenges for Europe“ an der Riga Graduate School of Law in Lettland waren.

Das Buch besteht aus den drei miteinander verbundenen Teilen „Demografie, Bildung und Arbeit“ (Teil I), „Staat und technologischer Wandel“ (Teil II) und „Deutschland in der Welt“ (Teil III), wobei im abschließenden Teil der Versuch unternommen wird, Deutschland in Europa mit den USA, China, Russland, Brasilien und Indien und den Ländern der sogenannten Untersten Milliarde zu einem Gesamtbild zu vereinen, in dem alle Menschen, Unternehmen und Staaten auf vielfältige Art und Weise miteinander verbunden sind. Dass die Ausführungen zu China deutlich umfangreicher als zum Beispiel die zu Russland oder den USA ausfallen, liegt primär daran, dass China in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten zu dem systemischen Rivalen des westlichen Gesellschafts- und damit Wirtschaftsmodells erwachsen ist. Etwa 70% der Weltbevölkerung leben bereits im Einzugsgebiet der chinesischen Belt and Road Initiative, die in Kapitel 13 und dem nachfolgenden Exkurs ausführlich besprochen wird. Ich habe insgesamt ungefähr vier Jahre meines Berufslebens in China verbracht und denke, die Grundlinien chinesischen politischen Denkens – die die chinesische Führung übrigens offen kommuniziert – gut genug zu verstehen, um diese einem interessierten Laienpublikum hinreichend präzise und verständlich erläutern zu können.

Der Ihnen vorliegende Text ist kein klassisches Fachbuch. Sie werden eine Vielzahl von Begriffsabgrenzungen, Verweisen und Referenzen vorfinden; es wird häufig aber auf die eine exakte Definition eines Terminus und eine entsprechende Zitation verzichtet, weil Begriffe bzw. Definitionen in den Sozialwissenschaften oft nicht nur subjektiv, sondern ebenso zeit- wie ortsveränderlich sind. Wir werden also mit robusten Definitionen bzw. Begriffsabgrenzungen von vielfach „unscharfer Materie“ auf Ingenieursart arbeiten: Nicht so genau wie möglich, sondern so genau wie nötig.

Um die Lesbarkeit des Textes nicht übermäßig zu behindern, wird deshalb nachrangigen bzw. einordnenden Behauptungen nicht immer eine präzise Quelle zugeordnet sein. Im Grunde haben Sie den Versuch einer intelligenten Kompilation bekannten Wissens zur Beschreibung unseres Status quo und möglicher Ausblicke für Deutschland und Europa in der Hand. Es handelt sich dabei nicht um den Versuch, die Zukunft vorherzusagen, sondern um den hoffentlich Erfolg versprechenderen Versuch, mögliche Zukunftspfade (bzw. deren Unmöglichkeit mangels erfüllter Voraussetzungen, die in der Gegenwart bzw. nahen Zukunft bestimmt werden) zu antizipieren.

Dies ist ebenso kein Text zur Erkenntnistheorie, die grundsätzlich auf das Verstehen der Gegenwart referiert: Machen Sie sich an dieser Stelle, falls Sie es noch nicht kennen, mit Platons Höhlengleichnis vertraut.

Die Gegenwart lässt sich nicht aus der Gegenwart erklären. Wenn Sie auf dem Weg sind, die Welt etwas besser verstehen zu wollen, müssen Sie sich notwendigerweise mit Geschichte beschäftigen und ebenso mit Philosophie: Das heißt Dinge zu hinterfragen, die wir normalerweise als gegeben annehmen.

Das Buch beinhaltet zahlreiche Übungen, die Sie zum Nachdenken und Nachfragen anregen sollen und für deren Beantwortung Sie zumeist auf weitere Quellen zurückgreifen müssen, sowie Fragen zur Selbstreflexion. Zu den Übungen finden Sie einige Anmerkungen, die aber keine Musterlösungen im klassischen Sinn darstellen, im Anhang. Alle Internetquellen, auf die in diesem Buch verwiesen wird, wurden letztmalig im Januar 2021 überprüft.

Bis auf eine Ausnahme werden Sie in diesem Buch nicht die aus der Mikro- und Makroökonomieliteratur gewohnten Angebots- und Nachfragegrafiken finden. Dies ist aus meiner Überzeugung begründet, dass mit Hilfe solcher Grafiken bei komplexen Fragestellungen oft unzulässig vereinfacht wird und dass damit beim Leser vielfach eine Illusion befördert wird, dass Zusammenhänge verstanden wurden, obwohl dies nicht der Fall ist.

Am Ende des Buches finden Sie neben einem Sachwortverzeichnis ein Namensverzeichnis. Wenn es Ihnen gelingt, in diesem Buch aufgeführte Fragen, Probleme und Methoden mit einigen der dort aufgeführten Personen zu assoziieren, sollte Ihnen das die Lektüre dieses Buches nicht nur erleichtern, sondern auch Neugier auf mehr machen.

Ich danke Marcus Bysikiewicz und Irene Rath von der Euro-FH für die Begleitung der ersten Schritte zu diesem Buch. Der Text in der vorliegenden Form hat sehr von Korrekturhinweisen, Ratschlägen und Fragen von Iris Bockholt, David Kantel, Jacob Kleinow, Verena Lindow und Silvana Stahl profitiert. Ihnen bin ich mit mit tiefem Dank verbunden. Die nicht von mir selbst erstellten Grafiken wurden mir freundlicherweise von den in der jeweiligen Legende genannten Unternehmen, Forschungsinstituten bzw. öffentlichen Einrichtungen kostenfrei zur Verfügung gestellt. Ihnen bin ich ebenso zu Dank verpflichtet. Herrn Jürgen Schechler und Frau Tina Kaiser vom Verlag danke ich für die geduldige wie sachkundige Begleitung des Manuskriptes hin zum Buch.

Ich widme dieses Buch dem gebildetsten Menschen, den ich in meinem Leben kennengelernt habe, meinem Vater, und mit ihm den vielen klugen Menschen, die viel gedacht und geschrieben haben und von denen wir nichts wissen.

Rostock, im Januar 2021

Dirk Linowski

Vorwort

Mit dem Schlachtruf „It’s the economy, stupid!“ gewann Bill Clinton 1992 den Kampf um die US-amerikanischen Präsidentschaft. Diese Zuspitzung stellte natürlich eine bewusste Verkürzung dar: Konsens sollte allerdings darüber herrschen, dass eine funktionierende Volkswirtschaft notwendige Voraussetzung eines funktionierenden Gemeinwesens ist. Wiederum zugespitzt: Eine funktionierende Volkswirtschaft ist zwar nicht alles, aber ohne eine solche ist alles nichts.

Das Ereignis des Jahres 2020 war nicht, wie noch zu Beginn des Jahres antizipiert, der Brexit, es waren nicht Folgen der von Greta Thunberg initiierten „Klimabewegung“, nicht die Entwicklung der Handelstreitigkeiten bzw. die geopolitische Rivalität zwischen den USA und China, und es wird ebenso nicht die im November 2020 von Joe Biden gewonnene Präsidentschaftswahl in den USA gewesen sein: Das Ereignis des Jahres 2020 war der Ausbruch und die anschließende weltweite Verbreitung des Corona- bzw. Covid-19-Virus‘1 und die unterschiedlichen Auswirkungen und „Antworten“ auf und von Individuen, Unternehmen und Staaten bzw. Regierungen.

Auch wenn bei Drucklegung dieses Textes bereits zweifelsfrei feststeht, dass die westlichen Gesellschaften in kurzer Zeit fundamentale Veränderungen hinsichtlich ihres Gesellschaftsverständnisses und damit auch hinsichtlich ihres Wertschöpfungsmodells durchlaufen, so werden die tatsächlichen Veränderungen unserer Gesellschaft naturgemäß erst nach größerer zeitlicher Entfernung klarer sichtbar sein. Wir sind noch mittendrin.

Dieses Buch ist den Herausforderungen der Wirtschaftspolitik und damit dem Umfeld, in dem Wirtschaftpolitik stattfindet, gewidmet. Unabdingbare Voraussetzung für dessen adäquate Behandlung stellen ein Grundverständnis der Prinzipien der Volkswirtschaftslehre und insbesondere klare bzw. geklärte Begriffe dar, um sicherzustellen, dass weitgehende Einigkeit besteht, worüber überhaupt geredet wird. Mit Definitionen ist es nicht nur in der Wirtschaft so eine Sache: Ist die Definition zu eng formuliert, grenzt sie zu sehr aus und ist damit für die Praxis untauglich, ist sie zu weit gefasst, erklärt sie nicht mehr hinreichend präzise.2

Unter Wirtschaftspolitik werden in diesem Text zielgerichtete Eingriffe in den Bereich der Wirtschaft durch dazu legitimierte Instanzen verstanden: Wer das ist und wer nicht, wird in diesem Buch erörtert. Wir wollen also verstehen, was die Wirtschaftspolitik, die in Deutschland auf den unterschiedlichen Ebenen von den Kommunen und Landkreisen über die Bundesländer und den Nationalstaat Bundesrepublik Deutschland bis hin zur Europäischen Union stattfindet, im Zusammenspiel mit der Geldpolitik und der Rechtsprechung leisten kann und was nicht. Dabei werden wir uns weniger mit den technischen Instrumenten der Fiskal- und der Geldpolitik beschäftigen – dafür gibt es einschlägige Fachliteratur – als vielmehr versuchen, ein Verständnis des Rahmens, in dem die Wirtschaft bzw. unser Leben stattfindet, zu entwickeln.

Wie beim Erlernen einer (Fremd-)Sprache bedarf es in jeder Wissenschaft eines Vokabulars, um anschließend Sätze bilden zu können. Um den Ihnen vorliegenden Text gewinnbringend zu lesen, sind keine Spezialkenntnisse, wohl aber eine Vertrautheit mit den grundlegenden Begriffen und Konzepten der Mikro- und der Makroökonomie erforderlich.

Die Verwendung wissenschaftlicher Methoden ist in unserer Zeit der präferierte Zugang zum Verständnis der Welt. Ein alternativer Zugang kann über die Kunst erfolgen.3 Das nun ca. 400 Jahre alte Gedicht von John Donne in deutscher Übersetzung von Paul Baudisch, das Ernest Hemingways über seinen berühmt gewordenen Roman „Wem die Stunde schlägt“ stellte, zeigt uns, dass bestimmte Gedanken nicht neu sind, oder positiver ausgedrückt, dass sie nicht aus der Mode kommen.

Kein Mensch ist eine Insel,

ganz für sich allein;

jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents,

ein Teil des Ganzen.

Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird,

wird Europa weniger,

genauso als wenn’s eine Landzunge wäre,

oder das Haus deines Freundes oder dein eigenes.

Jedermanns Tod macht mich geringer,

denn ich bin verstrickt in das Schicksal aller;

und darum verlange nie zu wissen,

wem die Stunde schlägt;

sie schlägt für dich.

Die Folgen der weltweiten Verbreitung eines Corona-Virus’ werden im öffentlichen Raum direkt mit den Begriffen Krise (oft mit vorgeschalteten starken Attributen) und Schwarzer Schwan versehen. Während unter dem Begriff der Krise mehr oder weniger einheitlich eine schwierige bzw. gefährliche zeitlich beschränkte Situation, in der richtungsweisende Entscheidungen zu treffen sind, verstanden wird, wird der Begriff Schwarzer Schwan, ein in unserem Kontext wirtschaftliches bzw. die Wirtschaft beeinflussendes Ereignis, welches nicht vorhersehbar ist und welches alle Beteiligten völlig unvorbereitet trifft, zumeist weit weniger zutreffend verwendet. (Ausführlichere Betrachtungen zu Schwarzen Schwänen finden Sie in Kapitel 6 zu den Aktien-, Rohstoff- und Währungsmärkten.)

 

Tatsächlich haben wir Menschen die wohl unvermeidbare Tendenz, die Ereignisse, die in unserer eigenen Lebenszeit stattfinden, als besonders bedeutend wahrzunehmen, auch weil es uns nicht gegeben ist, mehr als ein oder zwei Generationen weiter zu denken. Krisen oder gesellschaftliche Umbrüche sind aber so alt wie die Zivilisationsgeschichte: Wenn Sie „lediglich“ etwas mehr als die vergangenen 100 Jahre in Deutschland Revue passieren lassen, gab es zwei furchtbare Weltkriege mit vielen Millionen Toten, womit das Leid der meisten Überlebenden nicht beendet war. Jedes Land der Erde hätte hier seine Geschichte(n) zu erzählen. Etwas näher an der Gegenwart: Die Ölkrisen der 1970er Jahre, der friedliche (!) Zusammenbruch der Sowjetunion und damit des Ostblocks, die Angriffe islamistischer Terroristen auf die USA im Jahre 2001 und der darauf von US-Präsident George W. Bush ausgerufene Krieg gegen den Terror und selbst die Finanzkrise, die 2008 mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers in New York ihren Ursprung nahm, sind für viele, nicht nur junge, Menschen bereits sehr weit weg.

Tatsächlich sah jede Krise an ihrem Ende nicht nur Verlierer, sondern ebenso Gewinner. Wirklich vorbereitet waren dabei stets die Wenigsten: Eine klassische Krisenbewältigung ist zuvorderst ein Blick in den Rückspiegel. Die westliche Antwort auf die letzte große Krise bestand somit aus Maßnahmen, die darauf zielten, das Finanzsystem robuster und die Banken sicherer zu machen: Die Beschäftigung mit Krankheitsverbreitung und Seuchenbeherrschung gehörten jedenfalls nicht dazu. Ebenso sicher wird irgendwann eine neue Krise kommen, bei der uns die ab dem Jahr 2020 gewonnenen Erkenntnisse vermutlich wenig nützen werden.

Demografie und Technologie

Wesentlicher Bestandteil oder – je nach Betrachtungswinkel – Basis jeder Volkswirtschaft ist die in ihr lebendende Bevölkerung, die als Individuen und Unternehmen konsumieren und produzieren.

Bevölkerungen sind aber nichts Statisches. Insgesamt sind die Menschen in Europa in den vergangenen Jahrzehnten älter geworden und sie bekamen weniger Kinder; tatsächlich können wir diese vergangenen Entwicklungen aber nicht einmal mittelfristig „seriös“ extrapolieren. In Teil I dieses Buches werden Ihnen zunächst die Grundkonzepte und -erkenntnisse der Demografie und die damit verbundenen Probleme der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung sowie von Bildung – Bildungspolitik ist im erweiterten Sinne Wirtschaftspolitik! – und Arbeit erläutert.

Als den zweiten großen Treiber von gesellschaftlicher Entwicklung werden wir neben der demografischen die technologische Entwicklung herausstellen.

Krisen sind fast nie Ursachen für gesellschaftliche Entwicklungen, sie sind Auslöser und Beschleuniger. Zu keinem Zeitpunkt der Menscheitsgeschichte gab es mehr technologische Entwicklungen in der Fahrzeugindustrie als während der beiden Weltkriege und kurz danach – von Autos über Panzer zu Flugzeugen und Raketen – und es waren die historisch jungen Krankheiten Poliomyelitis (auf deutsch Kinderlähmung) und Aids, die die Virusforschung vorantrieben.

Einige Gewinner der Zeit nach der Corona-Krise sind bereits sichtbar. Die über Jahre beschworene Digitalisierung bzw. die sie vorwärtstreibenden Unternehmen, die passende Produkte anzubieten haben, ist nun dabei, weltweit den entscheidenden Schub bzw. Durchbruch zu erfahren. Lern- und Meetingsoftware entwickeln sich rasant und ermöglichen nicht nur die Abhaltung von Online-Veranstaltungen, sondern insgesamt zunehmend effizientes Arbeiten im Home-Office und wirken damit auf unsere Studier- und Arbeitsweise zurück. Ebenso erfordert es im Jahre 2021 weder viel Phantasie noch Prophetie, um enorme Entwicklungen in der Medizintechnik und der Gentechnik vorherzusagen. Frei nach Karl Marx: Die Produktivkräfte treiben die Produktionsverhältnisse, die den Rahmen abgeben, in dem sich die Produktivkräfte bewegen und entwickeln, wobei die Produktionverhältnisse aber wieder auf die Produktivkräfte zurückwirken. Diese Argumentation kann auch auf Staaten übertragen werden. Deutschland hatte Anfang 2020 im Gegensatz zu vielen EU-Partnern gut gefüllte Kassen und Deutschland konnte seine Unternehmen und Bürger somit deutlich besser unterstützen, als dies z.B. in den süd- und südostdeutschen EU-Staaten der Fall war. Deutschland und seine Unternehmen werden also a priori im Sinne eines „Macht-Nullsummenspiels“ durch die Corona-Krise in der EU stärker werden müssen; ganz sicher nicht zu jedermanns Begeisterung.

Auf der Ebene der Volkswirtschaften wird seit Ende der 2010er Jahre ein Trend zur Deglobalisierung4 nicht nur beobachtet, sondern ebenso im öffentlichen Raum kommentiert: Damit wird stark vereinfacht ein wirtschaftspolitischer Kurs von Staaten oder Staatenbündnissen verstanden, die sich einer weiteren Weltmarktintegration (teilweise) „verweigern“ bzw. sich und ihre Wirtschaftssektoren mit protektionistischen Maßnahmen zu schützen versuchen. Wichtige Gründe der Deglobalisierung bestehen darin, dass sich die Kostenvorteile bei den Aufwendungen für Löhne in den einstigen „Billiglohnländern“ wie insbesondere China relativiert haben, ebenso die Erkenntnis, dass es in den entwickelten Ländern viele Globalisierungsverlierer gibt und das Erscheinen sogenannter populistischer Parteien, die Auswirkungen der strategischen Rivalität zwischen den USA und China u.v.m. Deutschland als Exportland von Investitionsgütern war bzw. ist dabei (noch) ein Profiteur von freiem oder gering reguliertem Welthandel. Es war somit bereits vor Ausbruch der Corona-Krise zu erwarten, dass eine Abschwächung der Weltkonjunktur in Verbindung mit protektionistischen Maßnahmen nicht nur der USA große Auswirkungen auf die Beschäftigung und die Profitabilität zahlreicher deutscher Unternehmen haben wird. Diese Entwicklung wird nun mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit deutlich schneller werden.

Wir werden also auch in der Wirtschaftspolitik lernen müssen, besser in Szenarien zu denken. Verweise auf Schwierigkeiten bei der Schätzung objektiver Wahrscheinlichkeiten bringen uns hier nicht weiter; notwendig wie hinreichend ist, dass eine Situation für möglich erachtet wird, um sich darauf entsprechend vorzubereiten.

Ein übergeordneter Trend zur Monopolisierung bzw. Steigerung des Konzentrationsgrades wird ceteris paribus5 jedenfalls in Teilen der westlichen Volkswirtschaften beschleunigt. Dieser bleibt allerdings keinesfalls zwingend (vgl. Kapitel 7 zur Rolle des Staates und Kapitel 8 zu Wettbewerb und Regulierung). Wie oft lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Äußerst aufschlussreich ist hier die Beschäftigung mit der Entwicklung der Anti-Trust-Gesetzgebung und -rechtsprechung in den USA und den Auseinandersetzungen zwischen diversen US-Regierungen und Rockefellers Standard Oil Company von 1890 (Verabschiedung des Sherman-Acts) bis 1911 (endgültige Zerschlagung von Standard Oil).6 Ähnliches wäre um die Jahrtausendwende übrigens fast der damals als übermächtig wahrgenommenen Firma Microsoft passiert und wird in der Gegenwart immer wieder bezüglich Facebook, Amazon und Google diskutiert.

Wie vor mehr als 100 Jahren gilt heute ebenso, dass Macht (fast immer) Geld sticht. Inwieweit der unterstellte Trend zur Monopolisierung tatsächlich übergeordneter Natur war, kann historisch also bezweifelt werden. Der Anteil der KMU in Deutschland bzw. der EU an der Gesamtbeschäftigung (ca. ⅔) sowie der Bruttowertschöpfung (ca. die Hälfte) war über Jahrzehnte näherungsweise konstant (vgl. Teil II). Grundsätzlich gilt in den modernen westlichen Gesellschaften unverändert, dass ein Unternehmen mindestens mittelfristig innerhalb einer existierenden (und sich verändernden) Rechtsordnung im schlechtesten Fall eine Schwarze Null erwirtschaften muss (zu Schulden von Staaten, Unternehmen und Haushalten siehe Kapitel 7, 8 und 14). Während zahlreiche kleine und mittelgroße Unternehmen im Servicebereich die Corona-Krise nicht überstehen konnten oder können werden, ist u.a. bereits absehbar, dass Amazon c.p. noch mächtiger wird.7 Um die Logik dieser Entwicklung zu sehen, müssen Sie die Eigenschaften und den Zusammenhang zwischen Erlösen, Fixkosten, variablen Kosten und Gesamtkosten sowie die Rolle von Schulden in Verbindung mit Zinsen im betriebswirtschaftlichen wie im gesamtwirtschaftlichen Kontext verstanden haben.

In Deutschland waren seit dem Jahr 2010 recht stabil ca. ¾ der Beschäftigten im Dienstleistungssektor tätig, wobei die Gesamtbeschäftigung in dieser Dekade mit der Bevölkerung von 41,1 Mio. auf ein Allzeithoch von 45,3 Mio. im Jahr 2019 wuchs (die geleisteten Erwebsstunden pro Beschäftigten und die Quote der Selbstständigen waren dabei seit 2012 leicht rückläufig).

Der Dienstleistungssektor umfasst Tätigkeiten, die Leistungen im sogenannten tertiären Wirtschaftssektor erbringen. Dazu zählen u.a. Buchhalter und Leichenbestatter, Kellner und Wirtschaftsprüfer, Polizisten und Krankenpfleger8 und grundsätzlich alle Dienstleisungen, die im öffentlichen Sektor erbracht werden. Es ist weitgehend deterministisch absehbar, dass Berufe, die auf persönlichem Kontakt beruhen, sich zumindest verändern werden bzw. dass „nach der Krise“ insbesondere in niedrig bezahlten Tätigkeiten wie im Hotel-, Gaststätten- und Tourismusgewerbe – also dort, wo enger persönlicher Kontakt nicht zu vermeiden ist – weniger Menschen tätig sein werden als zuvor. Vor allzuviel Optimismus der Hochschulabsolventen muss hier allerdings deutlich gewarnt werden! Empfohlen sei an dieser Stelle die Lektüre des Vater-und-Sohn-Buches von Richard und David Susskind aus dem Jahre 2017 „The Future of the Professions: How Technology Will Transform the Work of Human Experts“, in dem mögliche zukünftige Auswirkungen der Digitalisierung auf Anwälte, Lehrer und Professoren, Architekten, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer und einige weitere freie Berufe besprochen werden. Die Verfasser stellen dabei fest, dass fast alle Interviewpartner und Leser den Grundthesen des Buches zustimmten, aber gleichzeitig verneinten, selbst substanziell von der Digitalisierung betroffen zu sein. Es lohnt sich somit sehr, darüber nachzudenken, warum z.B. Ärzte glauben, dass Steuerberater im Gegensatz zu sich selbst einem rabiaten technologischen Wandel unterworfen sein werden und umgekehrt. Kognitionspsychologen verwenden hier den Begriff confirmation bias: Menschen nehmen bevorzugt Informationen auf, die ihre vorgefasste Meinung bestätigen bzw. ihre Erwartungen erfüllen. Anders ausgedrückt: Intelligenz und Bildung begünstigen a priori weder Erkenntnisfähigkeit noch die Fähigkeit zur Selbstkritik, sondern sie verstärken (wenn auch nicht immer) oft eigene Vorurteile.

Status quo

Deutschland stand Mitte des Jahres 2020 im internationalen Vergleich wirtschaftlich sowohl absolut als auch relativ gut da. Die vielgeschmähte Schwarze Null sorgte dafür, dass die Kassen der öffentlichen Hand und der meisten Sozialversicherungsträger gut gefüllt waren. Die ArbeitslosigkeitArbeitslosigkeit war im internationalen Vergleich gering, ProduktivitätProduktivität und Beschäftigungsquote befanden sich auf hohem Niveau.

Tatsächlich war bereits Jahre vor der Corona-Krise in der Mitte der deutschen Gesellschaft eine tiefe Verunsicherung zu konstatieren, gepaart mit sozialen Abstiegsängsten der Mittelschicht. Dabei stellte die seit Sommer 2015 virulente Flüchtlingskrise in vielerlei Hinsicht einen Kristallisationspunkt dar, dies verbunden mit Fragen, in welcher Art von Gesellschaft wir und unsere Kinder zukünftig leben wollen. Blicke zu unseren europäischen Nachbarn (Stichwort u.a. Gelbwesten in Frankreich) zeigen uns, dass wir mit dieser Unsicherheit nicht allein sind.

Bereits seit Beginn der 2010er Jahre mehren sich die Stimmen aus Wissenschaft und Medien, die die deutsche Gesellschaft vor zu viel Selbstgefälligkeit warnen und die – innerhalb von weniger als zwei Generationen – eine mehr oder weniger düstere Zukunft für unser Land zeichnen. Dabei hatten die „Entzauberung des Sommermärchens“9 und der seit Herbst 2015 andauernde und fünf Jahre später noch immer nicht vollständig bewältigte Abgasskandal, in den die deutschen „Vorzeigefirmen“ Volkswagen und Daimler verstrickt sind, sehr sicher die Qualitäten von Brandbeschleunigern. Nach etwa 25 Jahren relativer Ruhe in Europa befinden wir uns in zahlreichen Debatten bis hin zur Abschaffung des Bargelds, die vor allem eines zeigen: einen Mangel an Orientierung.