Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie
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Dirk Kellner

Charisma als Grundbegriff der

Praktischen Theologie

Die Bedeutung der Charismenlehre für die

Pastoraltheologie und die Lehre vom Gemeindeaufbau

Impressum

© 2018 Dirk Kellner

2. korrigierte und für die digitale Veröffentlichung bearbeitete Auflage

Die erste Auflage erschien 2011 als Print-Ausgabe im TVZ Zürich (ISBN-13: 978-3290175818)

Das Cover enthält eine bearbeitete Aufnahme von Gunther Klenk (churchphoto.de)

Verlag:

Dirk Kellner

Am Neugraben 4

79585 Steinen

dirk.kellner@posteo.de

ISBN e-Book: 978-3-7450-8777-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort des Autors zur zweiten Auflage

Die erste Auflage dieses Werkes ist seit einiger Zeit vergriffen. Hin- und wieder erreichen mich Anfragen nach einer Neuauflage. Das Interesse ist unterschiedlich motiviert: Die einen befassen sich exegetisch, theologiegeschichtlich oder dogmatisch mit der Charismenlehre, die anderen wollen einen Überblick über die Oikodomik und Pastoraltheologie gewinnen, manche suchen Impulse zu Einzelthemen wie zum Beispiel dem Verhältnis von Heiligem Geist und pastoraler Kompetenz, von Geistesgabe und natürlicher Begabung, von Ordination und innerer Berufung.

Mit der zweiten Auflage und digitalen Veröffentlichung komme ich diesen Bedürfnissen nach und mache das Buch zugleich denen zugänglich, die die höheren Kosten der Druckausgabe bislang scheuten.

Die Rezensionen der ersten Auflage waren durchweg positiv und würdigten den Ansatz, die Praktische Theologie grundzulegen in der Praxis Gottes, die uns als Auftrag, Verheißung und Wirklichkeit begegnet. Es freut mich, dass diese Impulse aufgenommen wurden, so zum Beispiel im praktisch-theologischen Grundriss von Stephan Schweyer und Helge Stadelmann (Brunnen 2017).

Bereits 2012 wurde die Arbeit mit dem Johann-Tobias-Beck-Preis prämiert. Dr. Eckhard Hagedorn wünschte ihr in seiner Laudatio «Leserinnen und Leser, ja wirkliche Studierende unter denen, die in der Praktischen Theologie Verantwortung tragen für Forschung und Lehre, für die Gestaltung von Curricula und für den wissenschaftlichen Nachwuchs». Besonders freut mich seine Zuversicht, dass «auch die Praktiker, die eigentlich für dieses Buch zunächst keine Zeit haben und sie sich dann doch nehmen,... für diese ihre ‹Tapferkeit vor dem Buch› belohnt werden».

Auch die zweite Auflage dieses Buches widme ich meiner Frau und meinen Kindern. Sie sind - jeder auf seine Art - Spiegel der bunten und kreativen Gnade Gottes.

Ich danke dem Heilsarmee Bildungszentrum Basel/Biel und dem Theologischen Seminar Chrischona für die Möglichkeit, nebenberuflich einzelne Module zu unterrichten. Die Dozententätigkeit machte Freude, sie motivierte und forderte mich heraus, trotz der vielfältigen Aufgaben im Gemeindedienst die theologische Weiterbildung nicht zu vernachlässigen.

Zuletzt danke ich den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der evangelischen Kirchengemeinde Steinen. Der treue Einsatz ihrer Gaben und die Bereitschaft, sich von Gottes Geist leiten und in Dienst nehmen zu lassen, sind eine lebendige und ermutigende Erinnerung an die Verheißung Jesu: «Ich werde meine Gemeinde bauen und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.» (Mt 16,18)

Vorwort des Autors zur ersten Auflage

Wer eine Arbeit über die praktisch-theologische Bedeutung der Charismenlehre schreibt und Charisma als einen Grundbegriff der Praktischen Theologie erweisen will, betritt wenig begangene Wege, zum Teil Neuland. Wie jede Expedition in eine ‹terra incognita› ist diese Unternehmung ein Wagnis. Sie steht in der Gefahr, sich im Dickicht der Details zu verlieren, ohne grundlegende Wegmarkierungen herauszuarbeiten.

Dass die vorliegende Dissertation trotz ihres Umfangs vor dieser Gefahr bewahrt wurde, verdanke ich meinem Betreuer Herrn Prof. Dr. Zimmerling (Leipzig), der mich immer wieder zu exemplarischem Arbeiten ermutigt und ermahnt hat. Seine lutherische Akzentuierung reformatorischer Theologie war ein wichtiger Kontrapunkt zu den reformierten Prägungen, die ich als Kind der badischen Bekenntnisunion erfahren habe. Die spannenden Diskussionen führten zwar nicht immer zu einer Veränderung der Standpunkte, waren aber stets gewinnbringend und bereichernd.

Danken möchte ich Herrn Prof. em. Dr. Peter Stuhlmacher, Herrn Prof. em. Dr. Christian Möller und der Sozietät der theologischen Fakultät Leipzig. Ihr Interesse und ihre Ermutigung haben diese Arbeit gefördert. Weiterhin gilt meine Anerkennung den unermüdlichen Korrekturleserinnen und Korrekturlesern, von denen ich stellvertretend Herrn Pfr. i. R. Reinhard Fritsche, Herrn Pfr. Dr. Eckhard Hagedorn, Frau Pia von Usslar-Gleichen und Frau Pfrin Christine Gellrich erwähne. Für die Promotionsförderung durch die Deutsche Studienstiftung danke ich deren Präsidenten Herrn Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth.

Der Theologische Verlag Zürich hat die Arbeit in sein Verlagsprogramm übernommen und mir durch Frau Marianne Stauffacher eine freundliche und kompetente Ansprechpartnerin zugewiesen. Die Evangelische Kirche in Baden, die Evangelische Kirche in Deutschland und die Georg-Strecker-Stiftung haben die Veröffentlichung durch großzügige Druckkostenzuschüsse gefördert. Dafür ein herzliches Dankeschön.

Der Impuls zu dieser Untersuchung kam aus der Praxis. In den Kirchengemeinden, in denen ich in den letzten Jahren haupt- und ehrenamtlich tätig war, spiegelte sich die bunte Vielfalt der bewegenden Gnade Gottes wider, die Menschen als Charisma zuteil wird. Mein Dank gilt daher auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirchengemeinde Sulzfeld, der Gemeinde an der Christuskirche Lörrach und der Petrusgemeinde Steinen.

Zu guter Letzt danke ich den vielen Menschen, die mich in der Zeit der Entstehung dieser Arbeit auf vielfältige Weise unterstützt haben: meinen Eltern, meinen Freunden, den Leuten von ChurchConvention und vor allem meiner Frau Sanne und unseren Kindern Matthea und Jonathan. Sie gehören (im übertragenen Sinn) zu den größten «Gnadengeschenken», die mir Gott anvertraut hat.

Der Epheserbrief spricht von der «Herrlichkeit» und dem «überschwänglichen Reichtum» der Gnade Gottes (Eph 1,6; 2,7), die sich den Menschen nie gänzlich erschließt, sie aber zu Lob und Anbetung bewegt. Und so danke ich letztlich, dass mich das theologische Nach-Denken über die Charismen bei allen noch offenen Fragen immer wieder ins Danken und Staunen über ihren Urheber geführt hat. Ich wünsche den Leserinnen und Lesern eine ähnliche Erfahrung.

1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Forschungsstand

«Charisma» ist zu einem beliebten Modewort der Alltagssprache geworden. Mit ihm verbindet sich die Sehnsucht nach etwas Außergewöhnlichem, nach etwas Besonderem, das die Routine durchbricht und Farbe in das Grau des Alltags bringt. Wer eine Anleitung zur Verbesserung des persönlichen Charismas auf dem populären Buchmarkt veröffentlicht, kann mit einem guten Absatz rechnen. Wer möchte nicht mehr Charisma haben, mehr gewinnende Ausstrahlungskraft besitzen, mehr bewundernde Aufmerksamkeit erfahren? Charisma ist für viele eine Zauberformel, die privaten und beruflichen Erfolg zu garantieren scheint.

Äußerst divergente Reaktionen löst der Begriff im Kontext von Theologie und Kirche aus. Hoffnungen und Ängste werden wachgerufen, wenn das Charisma zum Thema wird. Während der eine seine Sehnsucht nach geistlicher Erneuerung des eigenen Glaubens und der gesamten Kirche auf das Charisma richtet, wittert der andere die Gefahr eines schwärmerischen Enthusiasmus. Beide ahnen: Im Charisma konkretisiert und manifestiert sich die Dynamis des Geistes, dessen Wirken Altes überholt, Neues schafft und sich dabei nicht immer nach unseren dogmatischen Prämissen und kirchlichen Institutionen richtet. «Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde», so dichtet Kurt Marti.[1]

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wird der Charismenlehre eine zunehmende Beachtung in der wissenschaftlichen Theologie zuteil. Vor allem in der historischen, exegetischen und dogmatischen Forschung erschienen zahlreiche Untersuchungen. Doch kommt ihr auch in der Praktischen Theologie eine besondere Bedeutung zu? Konnte sich Charisma als praktisch-theologischer Grundbegriff etablieren? Wenn Ernst Käsemanns Feststellung zutrifft, dass der Begriff «Wesen und Aufgabe aller kirchlichen Dienste und Funktionen theologisch präzis und umfassend beschreibt»[2] und die Charismenlehre nichts anderes ist als eine «Projektion der Rechtfertigungslehre in die Ekklesiologie hinein»[3], dann müsste ihr eine praktisch-theologische Relevanz zukommen, die der systematisch-theologischen Bedeutung des articulus stantis et cadentis ecclesiae vergleichbar wäre.[4] Charisma müsste ein Grundbegriff der Praktischen Theologie sein.[5]

Praktisch-theologische Grundbegriffe sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass sie in Handbüchern und Enzyklopädien zum Thema eingehender Reflexionen werden. So wird man zum Beispiel in keinem dieser Werke ausführliche Erörterungen zu «Kirche» oder «Amt» vermissen müssen, bündeln sich in diesen Grundbegriffen doch zentrale theologische Fragen und Einsichten. Wie steht es in dieser Hinsicht mit dem Begriff des Charismas? Konsultiert man die enzyklopädischen Werke der letzten Jahrzehnte, wird man nur selten fündig. Im «Wörterbuch des Christentums» (WdC) und in der vierten Auflage des Handwörterbuchs «Religion in Geschichte und Gegenwart» (RGG 4. Aufl.) fehlen praktisch-theologische Ausführungen zum Stichwort «Charisma». Es bleibt bei religionswissenschaftlichen, soziologischen, exegetischen und systematisch-theologischen Erörterungen.[6] Dem Charisma bzw. der Charismenlehre scheint keine praktisch-theologische Relevanz zuzukommen – ganz im Gegensatz zu «Amt» oder «Pfarrer», die beide explizit zum Gegenstand praktisch-theologischer Betrachtung werden.[7] Eine Ausnahme bildet Rudolf Landaus Artikel in der «Theologischen Realenzyklopädie» (TRE), der lakonisch mit der Bemerkung einsetzt: «Die Charismen waren kein zentrales Thema der Praktischen Theologie von ihren Anfängen bei Schleiermacher an.»[8] Die praktisch-theologischen Handbücher zeigen ein ähnliches Bild. Das Fehlen eines entsprechenden Artikels in den von Peter C. Bloth und Heinrich Ammer herausgegebenen mehrbändigen Werken lässt sich durch ihre spezielle Architektonik erklären. Auffallend ist allerdings, dass das von Birgit Weyel und Wilhelm Gräb herausgegebene «Handbuch Praktische Theologie» Charisma weder zu den «Grundbegriffen» zählt, die als «stets wiederkehrende elementare […] Begriffe einer Einführung bedürfen», noch zu den «Phänomenen» rechnet, die die Religionspraxis in ihren vielfältigen kulturellen und institutionellen Erscheinungsformen prägen.[9]

 

Wie ist das weitgehende Schweigen der Praktischen Theologie zu deuten? Kann man mit Cicero «cum tacent, clamant»[10] behaupten und in der geringen Berücksichtigung des Charismas einen Hinweis sehen, dass die Pneumatologie nur marginale Bedeutung für die Praktische Theologie hat und das überwunden geglaubte pastorale Paradigma weiterhin seinen verborgenen Einfluss ausübt? In dieser pauschalen Gestalt ist das Urteil sicherlich nicht angemessen, dennoch sollte es die Praktische Theologie mit Unbehagen erfüllen, dass ein biblisch-theologischer Zentralbegriff wie Charisma, bzw. die sich in ihm bündelnde Charismenlehre, bisher kaum Eingang in sie gefunden hat.

Dieses Unbehagen ist seit dem 19. Jahrhundert vereinzelt geäußert worden. David Schulz sieht in der Charismenlehre eine «tief eingreifende Grundlehre des Christentums», die unmittelbaren Einfluss «auf die Gestaltung des Lebens der Christgläubigen» hat.[11] Umso bedauerlicher sei daher, dass man «eine den wichtigen Gegenstand in dasjenige Licht setzende Arbeit, dessen derselbe […] wohl empfänglich scheint, fortdauernd vermisst»[12]. Hermann Cremer klagt in ähnlicher Weise, dass «dort, wo man eine eingehendere Behandlung erwarten sollte, in den Arbeiten zur praktischen Theologie, […] man dieselbe vergebens [suche]»[13]. Moritz Lauterburg schließt seine grundlegende Untersuchung mit dem Wunsch, dass «insbesondere in den Arbeiten zur praktischen Theologie […] der Begriff des Charisma nicht länger vermißt werden»[14] sollte. Wie bereits deutlich wurde, hat sich dieser Wunsch bisher nur zum Teil erfüllt. So bemerkt schließlich Rudolf Bohren im Blick auf die Arbeiten von Ernst Käsemann und Eduard Schweizer zum paulinischen Verständnis charismatischer Gemeinde, dass «die praktisch-theologische Relevanz der exegetischen Ergebnisse bis jetzt nicht annähernd ausgeschöpft worden» sei.[15]

Andererseits sind Versuche nicht zu übersehen, die Charismenlehre aus ihrem Schattendasein zu befreien und ihr die Relevanz, die ihr exegetisch und dogmatisch zugesprochen wird, auch in der praktisch-theologischen Reflexion zukommen zu lassen. So betonen z.B. einige Konzepte des missionarischen Gemeindeaufbaus die grundlegende Bedeutung, die den Charismen der Mitarbeitenden zukommt. Christian Möller regt an, den Begriff «Charisma» für die Pastoraltheologie wiederzugewinnen und könnte dabei auf August F. Chr. Vilmar oder Carl Immanuel Nitzsch verweisen.[16] Schließlich fragt Rudolf Bohren nach der Möglichkeit, die Praktische Theologie grundsätzlich «als Charismatik»[17] zu entwerfen.

Eine umfassende Übersicht und kritische Würdigung der vorhandenen Ansätze ist seit über einem Jahrhundert nicht mehr erarbeitet worden. Ebenso fehlt ein Versuch, die praktisch-theologische Relevanz der Charismenlehre in kritisch-konstruktiver Aufnahme der exegetischen und systematisch-theologischen Forschung prinzipiell zu begründen und zu entfalten. Beides stellt ein Desiderat praktisch-theologischen Arbeitens dar und umschreibt das Ziel der vorliegenden Untersuchung.

Im Jahre 1898 veröffentlichte der Berner Pfarrer Moritz Lauterburg mit seiner Dissertation die erste monographische Abhandlung, die die praktisch-theologische Rezeption der Charismenlehre nachzeichnet und grundsätzlich nach der Bedeutung des Begriffs Charisma für die Praktische Theologie fragt.[18] Er geht dabei von der Prämisse aus, dass es sich bei der paulinischen Charismenlehre nicht um eine «Illusion über vermeintliches Hineinragen höherer geistlicher Kräfte in diese Welt» handle, sondern sie auf der «Realität des durch den Glauben an Christum sich den Menschen mitteilenden Gottesgeistes» beruhe.[19] Daher komme ihr mehr als nur ein geschichtlicher Wert, sondern «ein stetsfort actuelles Interesse»[20] zu. Lauterburgs Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile:

Zunächst bietet er eine «Entwicklung des Begriffes Charisma im Anschluss an Paulus»[21]. Er hebt dabei vor allem seinen «transitiven Charakter» hervor: «Sein Ursprung und Inhalt ist die Gnade Gottes, welche einen einzelnen also zu ihrem Organe macht, daß er andern die göttliche Gabe vermittelt.»[22] Der pneumatische Ursprung und die Ausrichtung auf die Gemeinde sind die beiden konstitutiven Elemente.[23] Umgekehrt haben aber auch die Charismen eine zentrale ekklesiologische Bedeutung. Sie sind «Lebensbethätigungen der Gemeinde als solcher»[24]: «Was irgend der Gemeinde dienlich und förderlich ist, es geschehe nun durch das Mittel des Worts oder der That, kraft unmittelbaren oder überlegten Handelns, beruht auf einem Charisma.»[25]

Der zweite Hauptteil zeichnet die «geschichtliche Entwicklung des Begriffes Charisma» von den Apostolischen Vätern bis in die Neuzeit in groben Zügen nach. Bereits in den ersten Jahrhunderten sei das Charisma zunehmend auf das Gebiet des Wunderhaften verlegt worden, so dass der «für die Kirche fruchtbare Begriff»[26] weitgehend verloren gegangen sei. Erst im 19. Jahrhundert sei zu Bewusstsein gekommen, «daß dieser Begriff der Theologie und der Kirche wohl noch etwas mehr zu sagen hätte, als bisher geschehen ist»[27].

Im dritten Hauptteil erarbeitet Lauterburg schließlich «die Bedeutung des Begriffes Charisma für die praktische Theologie».[28] Er skizziert sie zunächst für die «principielle Lehre von Wesen und Erfordernissen des geistlichen Amtes» und entwickelt ein Verständnis der inneren Berufung zum kirchlichen Amt (vocatio interna ad ministerium), die sich vollständig durch die charismatische Ausrüstung konstituiert. Die Vocatio könne nicht das Produkt eigener Frömmigkeit oder Bildung, sondern müsse eine freie Gabe des Geistes sein, die zugleich eine besondere Aufforderung an den Menschen enthält. «Das ist aber eben das Charismatische.»[29] Weiterhin lässt Lauterburg von der Charismenlehre her «Licht auf die drei großen Principienfragen»[30] der Praktischen Theologie fallen. Sie kläre die Frage nach einem «echt reformatorischen […] und […] praktisch verwertbaren Kirchenbegriff»[31], nach der «Stellung des geistlichen Amtes»[32] und dem Verhältnis zur römisch-katholischen Theologie. Abschließend skizziert Lauterburg ein Verständnis von Praktischer Theologie als «Charismatik»[33], «als die Lehre von den durch die Charismen vermittelten Thätigkeiten zur Erbauung der Gemeinde Christi»[34].

Insgesamt geurteilt, bietet Lauterburgs Studie viele wertvolle Einsichten, die von der Praktischen Theologie bisher kaum wahrgenommen wurden.[35] Nach über 100 Jahren bedürfen sie allerdings einer kritischen Prüfung, Aktualisierung, Ergänzung und Bewährung im Kontext gegenwärtiger praktisch-theologischer Ansätze und Fragestellungen.[36]

Silke Obenauers Dissertation «Vielfältig begabt», die nach der Fertigstellung und Einreichung der eigenen Untersuchung erschien (2009), ist seit Lauterburgs Impuls die erste praktisch-theologische Monographie, die sich intensiver mit der Thematik befasst.[37] Sie entwickelt ausgehend von gemeindepraktischer Literatur eine Theorie der gabenorientierten Mitarbeit in der evangelischen Kirche. In diesem Zusammenhang rekurriert sie exegetisch und systematisch-theologisch auf die «Gaben»; der Begriff «Charisma» bzw. «Charismen» wird von Obenauer weitgehend gemieden. «Gabe» definiert sie als «eine vom dreieinigen Gott aus Gnade jedem Christen individuell gegebene Begabung…, die von Gott je aktuell und ereignishaft in Dienst genommen wird und derart vom Empfänger zur Ehre Gottes und zum Wohl des Menschen eingesetzt wird.»[38] Der Zielrichtung der Dissertation entsprechend konzentriert sich Obenauer auf gemeindepraktische und kirchentheoretische Fragen. Die Auswahl der Literatur und die Perspektive ihrer Bearbeitung orientiert sich an der zu entwerfenden Theorie der gabenorientierten Mitarbeit, so dass die grundlegende Bedeutung der «Gaben» für den untersuchten (oikodomischen) Teilbereich ersichtlich wird. Die vorliegende Arbeit öffnet einen breiteren Fragehorizont. Sie rekonstruiert die Rezeption der Charismenlehre in zwei Teildisziplinen der Praktischen Theologie und fragt grundsätzlich nach ihrer praktisch-theologische Relevanz. Obernauers Studie bietet aber anregende Impulse und wichtige Einsichten, die eine erfreuliche Kongruenz zur vorliegenden Arbeit aufweisen. Trotz jeweils unterschiedlicher Akzentuierung entsprechen sich nicht nur die Versuche einer trinitarischen Konzeption der Charismenlehre, sondern auch die Betonung des habituellen und dynamisch-ereignishaften Moments der Charismen.[39]

1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, Charisma als einen Grundbegriff der Praktischen Theologie zu erweisen. Die Spezialisierung, die die Praktische Theologie seit ihrer Etablierung als wissenschaftliche Disziplin erfahren hat, nötigt zu einem exemplarischen Vorgehen.[40] Die praktisch-theologische Relevanz der Charismenlehre wird zunächst im Kontext der Pastoraltheologie und Oikodomik validiert. In diesen beiden Teildisziplinen ist es bereits seit Mitte des 19. bzw. 20. Jahrhunderts vereinzelt zu einer Rezeption der Charismenlehre gekommen, von der aus sich ihre Bedeutung erheben und im Kontext gegenwärtiger Fragestellungen bewähren lässt. In der oikodomischen und pastoraltheologischen Relevanz der Charismenlehre spiegelt sich ihre grundsätzlich praktisch-theologische Bedeutung wider. Durch einen Transfer der Ergebnisse in weitere Teildisziplinen und ins Gebiet der praktisch-theologischen Prolegomena lässt sich Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie erweisen.

Die Arbeit gliedert sich in fünf Argumentationsschritte:

1. Ein theologiegeschichtlicher Abriss skizziert die zunehmende theologische Marginalisierung der Charismenlehre und die Wiederentdeckung ihrer theologischen Relevanz im 19. und 20. Jahrhundert (Kapitel 2). Dabei werden zum einen Fehldeutungen erkennbar, die teilweise bis in die Gegenwart wirksam sind und die praktisch-theologische Wahrnehmung der Charismenlehre trüben. Zum anderen zeigen sich Einsichten und offene Problemdiskussionen, die für die weitere Untersuchung von Bedeutung sind und einer weiterführenden Reflexion bedürfen.

2. Die beiden folgenden Kapitel rekonstruieren die Rezeption, die die Charismenlehre in der Oikodomik (Kapitel 3) und in der Pastoraltheologie (Kapitel 4) erfahren hat. Anhand von jeweils fünf repräsentativen Positionen wird der Beitrag erhoben, den die Charismenlehre im Kontext der jeweiligen Argumentation zu praktisch-theologischen Fragestellungen leistet und an dem sich ihre oikodomische bzw. pastoraltheologische Relevanz ablesen lässt.

3. In der praktisch-theologischen Rezeptionsgeschichte zeigen sich problematische Implikationen eines biblisch-theologisch unzureichend geklärten Charismabegriffs. Daher wird als Zwischenschritt eine kriteriologische Vergewisserung erforderlich, die die Grundlinien der Charismenlehre biblisch-theologisch rekonstruiert (Kapitel 5). Sie intendiert keinen eigenständigen exegetischen oder systematisch-theologischen Forschungsbeitrag, sondern zielt auf einen praktisch-theologischen Charismabegriff, der Vereinseitigungen und Defizite in der gegenwärtigen Rezeption überwindet und die Frage nach der oikodomischen bzw. pastoraltheologischen Relevanz der Charismenlehre einer umfassenden, kriteriologisch vergewisserten Antwort zuzuführen vermag.

 

4. Die Ergebnisse der ersten drei Arbeitsschritte werden gebündelt, kritisch-konstruktiv weiterentwickelt und in die aktuelle oikodomische (Kapitel 6) und pastoraltheologische Diskussion (Kapitel 7) eingebracht. Die praktisch-theologische Relevanz der Charismenlehre wird anhand des Beitrages erhoben, den sie zum vertieften Problembewusstsein bzw. zur kreativen Lösungsfindung bei umstrittenen oder auch vernachlässigten Fragen beisteuert. Die Arbeit zielt dabei nicht auf die Entwicklung einer eigenständigen Gemeindeaufbaukonzeption oder Pastoraltheologie. Sie benennt aber ausgehend von der Charismenlehre regulative Prinzipien, die sich als kritisch-konstruktive Theorieelemente in eine solche einfügen lassen.

5. Das letzte Kapitel versucht, die praktisch-theologische Bedeutung der Charismenlehre in weiteren Subdisziplinen (Homiletik und Poimenik) und im Gebiet der praktisch-theologischen Prolegomena exemplarisch zu verifizieren (Kapitel 8).

Charisma erweist sich als Grundbegriff der Praktischen Theologie. Charisma wird nicht zum Zauberwort, das der Theorie alle Probleme löst oder der Praxis oikodomischen und pastoralen Erfolg garantiert. Die Charismenlehre eröffnet aber eine Reflexionsperspektive, die der Theorie und der Praxis den Blick auf die Promissio des Geistes lenkt, der in Freiheit und Treue «einem jeden zuteilt, wie er will», und «alles in allen» wirkt (1Kor 12,6.11). Damit wird die Charismenlehre zu einem integralen Bestandteil einer Praktischen Theologie, die das biblische Zeugnis nicht als gesetzliche Norm, sondern als Verheißungsperspektive «wahr-nimmt». Der, «der ist, der war und der kommt» (Offb 1,4), ist aller Theorie und Praxis des christlichen Glaubens voraus und will doch in ihr Gestalt gewinnen.[41]