Der Zaun

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Dietmar Telser

Der Zaun

Wo Europa an seine Grenzen stößt

Mit Fotos von B. Stöß


Inhalt

Cover

Titel

Vorwort

Prolog

I. Europas Rand

II. Inseln der Hoffnung

III. Am Drehkreuz

IV. Tod auf dem Meer

V. Verschollen

VI. Im Ghetto

Anmerkungen

Impressum

Vorwort

Diese Reportagen sind im Jahr 2014 entstanden. Das Thema Flüchtlinge schien damals nicht nur geografisch noch weit entfernt. Drei Monate lang reisten wir an den Außengrenzen Europas entlang und machten nichts anderes, als mit den Menschen zu sprechen: mit Grenzschützern, Bürgermeistern, „Frontex“-Mitarbeitern, Flüchtlingen und Menschenrechtsaktivisten. Die Recherche führte von Bulgarien nach Griechenland, in die Türkei, nach Italien, Tunesien und Marokko. Es war das Jahr, in dem sich vieles von dem, was heute „Flüchtlingskrise“ genannt wird, abgezeichnet hat, in dem sich viele der Debatten an den EU-Außengrenzen so anhörten, wie wir sie derzeit in Österreich und Deutschland erleben. In Italien wurde über die Rettung von Menschen und eine Willkommenskultur diskutiert, in Griechenland und Bulgarien war die Diskussion von der Begrenzung der Flüchtlingszahlen, der Abwehr von Migranten und Flüchtlingen, aber auch von Fremdenfeindlichkeit geprägt.

Wir haben bei unseren Recherchen viele unterschiedliche Ansichten gehört, aber wir haben niemanden getroffen, den die Situation an den Grenzen gleichgültig gelassen hätte. Grenzschützer, Politiker, Polizisten und Helfer waren selten der gleichen Ansicht, zogen aber dennoch manchmal die gleichen Schlüsse. Dazu gehörte etwa, dass das „Dublin-System“, das Schutzsuchende dazu anhalten sollte, in dem Land einen Asylantrag zu stellen, in das sie als Erstes einreisen, nicht funktionierte. Und es gab einen zweiten Punkt, bei dem sich die Einschätzungen kaum unterschieden: Zäune und Grenzkontrollen allein würden diese Krise nicht lösen können.

Mehr als eine Million Flüchtlinge und Migranten reisten im Jahr 2015 über die Mittelmeerrouten nach Europa ein. Die Balkanroute über Griechenland in den Norden war durchlässiger geworden, die Schlepper professionalisierten sich, die Not in den Herkunfts- und Nachbarstaaten wuchs. Im September 2015 sahen Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und ihr österreichischer Amtskollege Werner Faymann angesichts Tausender Flüchtlinge, die sich den Grenzen näherten, keine andere Lösung, als die Menschen aufzunehmen.

Jetzt, im Jahr 2016, in dem die Zahl der Flüchtlinge kaum sinkt und auch deutlich wird, wie groß die Herausforderung der Integration sein wird, sehnt sich wieder mancher nach einem Europa der starken Grenzen. Das ist wenig überraschend. Zäune waren immer schon ein Fetisch der Grenzpolitik. Im Sommer 2014, als wir uns auf den Weg machten, hatte Bulgarien gerade einen Grenzzaun fertiggestellt. Der Zaun vor der Exklave Melilla wurde verstärkt gesichert. Griechenland hatte eineinhalb Jahre zuvor einen Teil seines Grenzverlaufs mit einem Zaun geschlossen. Es gab zudem zahlreiche Hinweise darauf, dass Grenzschützer Schutzsuchende mit Gewalt an der Einreise gehindert haben sollen.

Die Menschen aber kamen trotzdem. Der Flüchtlingsstrom verlagerte sich auf das Meer: auf die ägäischen Inseln Griechenlands, auf die Route über Libyen nach Italien. Mit jedem Tag machten sich mehr auf den Weg. Sie ignorierten die Meldungen von den Toten auf dem Mittelmeer, sie umgingen die Barrieren, sie schufen sich ihre Wege mithilfe krimineller Schleuser. Abstruse Reisewege waren darunter, von Syrien nach Jordanien, in den Libanon, über Algerien und Libyen zum Beispiel. Ein Zurückdrängen an den Grenzen, das zeigte sich bereits 2014, ist nicht nur schwer mit internationalem Recht vereinbar, es ist auch lebensgefährlich und schwer umsetzbar, gerade auf See. Wie soll ein Schiff der Küstenwache reagieren, wenn Flüchtlinge ihr Schlauchboot beschädigen, um gerettet zu werden?

Zäune allein können Menschen wohl nie gänzlich davon abhalten, sich auf den Weg zu machen, sie sind aber nicht wirkungslos. Sie bremsen die Menschen, die nach Europa kommen, indem sie den Leidensdruck erhöhen und die Flucht auf neuen Routen gefährlicher machen, vor allem für Frauen und Kinder, also für die, die des größten Schutzes bedürfen. Für Zäune bezahlen wir mit unseren humanitären Werten.

Dieses Europa stieß zuletzt an die Grenzen seiner Aufnahmebereitschaft, nicht unbedingt an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit. Das ist ein Unterschied. Und es ist eine Enttäuschung, da sich dieses Europa in der Krise schwach und unsolidarisch zeigt. Aber es ist vielleicht zugleich dessen größte Chance. Die Europäische Union kann jetzt Regeln im Umgang mit Schutzsuchenden entwickeln, die mit Menschenrechten und moralischen Grundsätzen vereinbar sind und nicht allein auf jene setzt, die stark genug sind oder das Geld besitzen, Zäune zu umgehen. Europa muss es gelingen, ein System zu etablieren, das Menschen, die Hilfe benötigen, ein faires Verfahren und ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Das heißt: legale Einreisemöglichkeiten für Schutzsuchende, also Kontingente, die es auch wert sind, so genannt zu werden, faire Asylsysteme in den EU-Außenstaaten, aber auch in Ländern wie der Türkei, Tunesien oder Marokko. Gelingt es den Staaten, die Menschen zu integrieren, die es aufgenommen hat, dann kann dieses Europa stärker sein als zuvor. Der Umgang mit Migration ist aber niemals allein Aufgabe der Politik. Wir werden in Zukunft daran gemessen, wie wir mit dieser Herausforderung umgegangen sind: Zweifel sind wichtig, es kann aber nicht gut sein, wenn wir von Angst getrieben das Positive nicht mehr sehen wollen.

Dieses Buch kann keine Antwort geben und keine Schuldigen finden. Es wird all jene enttäuschen, die erfahren möchten, ob die Europäische Union an dieser großen Herausforderung der Flüchtlingskrise zerbrechen wird, es kann keinen Hinweis darauf geben, ob Österreich und Deutschland am Ende von den vielen Flüchtlingen, die kommen, profitieren werden oder auch nicht, es kann keinen optimistischen und noch viel weniger einen pessimistischen Ausblick geben und schon gar nicht schnelle Lösungen anbieten. Dieses Buch kann nur einen Eindruck vermitteln, wie sich das Leben für die Menschen an unseren Außengrenzen anfühlt. Und dass es nicht gut ist, so wie es ist.


Prolog

Mancher kann dem Sterben nicht mehr zusehen und einer, der dem Tod entronnen ist, mag vom Leben nichts mehr wissen. Das ist Mutaz, der sein Gesicht zu verbergen sucht, der sich als einziger der Überlebenden an Bord abgewandt hat, der die Stirn an seinen Unterarm legt, als sich das Schiff dem Hafen nähert, weil er nicht sehen will, was kommt. Er wird uns später seine Geschichte erzählen, er wird berichten von dem, was draußen auf dem Meer geschehen ist. Wir werden ihn nicht vergessen, den Geruch der wenigen geborgenen Leichen, die in Plastiksäcken auf dem Deck eines Marineschiffs liegen, werden sie nicht vergessen, die Überlebenden im Hafen auf der Suche nach Freunden und Angehörigen, einen Syrer mit dem Oberkörper eines Kraftsportlers, der weint wie ein Kind, die Mediziner von „Ärzte ohne Grenzen“, die erschöpft und mit leerem Blick spät am Abend keine Worte mehr für all das finden, das an diesem Tag geschehen ist. Mehr als hundert Flüchtlinge haben diese Überfahrt von Zuwarah in Libyen nach Italien nicht überlebt. Es ist nichts, das in diesen Jahren noch große Schlagzeilen machen wird. Etwa 3500 Menschen ertrinken1 im Jahr 2014 im Mittelmeer. Aber wir werden erfahren, dass man sich dennoch nicht gewöhnen kann an das Leid und an den Tod, die auf dieser Reise ständige Begleiter sind.

Die Geschichte beginnt knapp zwei Monate zuvor im Juli 2014. Man muss an den Anfang zurück, um nachvollziehen zu können, was in diesen Monaten an Europas Grenzen geschieht. Wir wollen verstehen, weshalb sich Menschen in Gummiboote setzen, um ihr Leben auf hoher See zu riskieren, weshalb sie sich in die Hand von Kriminellen begeben, denen nichts heilig ist außer Geld, weshalb sie alles zurücklassen für eine Zukunft, die voller Zweifel ist und kaum Gewissheit kennt. Drei Monate werden wir an den Grenzen Europas entlangreisen, weil wir spüren wollen, wie sich das Leben für Flüchtlinge und für Grenzschützer am Rande dieser sogenannten Festung anfühlt, weil wir wissen wollen, was Zäune mit Menschen machen und wie es uns, dieses Europa, verändert. Aber wir werden schnell merken, dass man nur aufschreiben und aufnehmen, aber niemals verstehen kann. Wir werden bald erkennen, dass es nicht allein eine Reise zu den Menschen, sondern auch eine zu Europa und dem zerplatzenden Traum einer Gemeinschaft ist, die doch auch ein humanitärer Gedanke einen sollte.

 

Es ist das Jahr, in dem der Krieg in Syrien in den vierten Sommer geht. Die Auseinandersetzungen haben nichts mehr von den Anfangstagen der „Arabellion“. Es ist nicht mehr allein der Kampf der Rebellen gegen das Regime von Baschar al-Assad, nicht Gut gegen Böse, wie es so oft in den ersten Tagen der Revolution dargestellt wurde. Der Konflikt hat sich verselbstständigt, ist undurchdringbar und komplex geworden, Milizen terrorisieren die lokale Bevölkerung, die libanesische Hisbollah und der Iran gehen gegen Islamisten vor, „Jabhat al-Nusra“, ein „Al-Kaida“-Ableger, mordet mit, der „Islamische Staat“ („IS“) expandiert im Sommer 2014 und nimmt in kürzester Zeit beinahe widerstandslos auch große Teile des Iraks ein. Im Jahr 2015 wird „Daesh“2, wie die Dschihadisten des „IS“ auch verächtlich genannt werden, den Terror schließlich nach Europa bringen.

Die Konfliktlinien dieses Krieges haben sich längst durchkreuzt, überlappt, und manche wurden neu gezogen, sie verhindern heute eine schnelle diplomatische Lösung. Denn es geht jetzt um viel mehr als um die Ablösung eines Tyrannen, es geht um die regionale Vorherrschaft zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, um den Mächtepoker zwischen den USA und Russland, es geht um religiöse Konflikte zwischen Sunna und Schia und schließlich auch um die Sicherheit in Europa. Und während Frankreich mithilfe deutscher Aufklärungstornados Angriffe auf Stellungen des IS fliegt, lässt Assad über seiner Bevölkerung weiter Fassbomben abwerfen.

Die Menschen sind auf der Flucht. Sie haben ihre Grundstücke, ihre Läden, ihre Häuser verkauft und verlassen ihre Heimat. Die größte Gruppe der Flüchtlinge, die nach Europa kommt, stammt aus Syrien. 2014 kommt fast jeder dritte Bootsflüchtling in Europa aus dem Bürgerkriegsland,3 2015 bereits jeder zweite.4 Aber es ist keine plötzlich neue Fluchtbewegung, wie es das unvorbereitete Europa in diesen Tagen so häufig vermittelt. Die Menschen sind bereits seit Jahren unterwegs. Europa will es lange nur nicht wahrnehmen. Werden im Dezember 20115 noch gerade 8000 Syrer vom UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in den Nachbarstaaten registriert, ist die Zahl Ende 2013 bereits auf mehr als zwei Millionen angewachsen. Ein Jahr später werden es mehr als drei Millionen Syrer und Ende 2015 sogar 4,6 Millionen sein. In der Türkei, im Libanon, in Jordanien wird das Leben mit jedem Jahr schwieriger. Im Oktober 2014 reduziert das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen auch noch die Hilfe für syrische Flüchtlinge um 40 Prozent.6 Wen aber interessiert dies schon im Jahr 2014? Noch viel mehr Menschen irren in Syrien von Stadt zu Stadt, um den Bomben des Assad-Regimes und der Tyrannei des „IS“ zu entkommen. Auf mehr als sieben Millionen schätzt der UNHCR allein die Zahl der Binnenflüchtlinge.7

Die Welt blickt auf Syrien. Aber auch aus anderen Ländern brechen die Menschen auf. Der Irak wird von einer Welle der Gewalt erschüttert, im Jahr 2014 sterben dort rund 9900 Menschen allein durch Terroranschläge, das sind etwa 55 Prozent mehr als im Jahr zuvor.8 In Afghanistan erkämpfen sich die radikalislamischen Taliban Dorf für Dorf von der erodierenden afghanischen Armee zurück, die Zahl der zivilen Opfer in dem Konflikt ist so hoch wie noch nie seit der ersten UN-Erhebung 2009.9 Auch aus Afrika fliehen Menschen nach Europa. In Somalia tobt seit mehr als zwei Jahrzehnten ein Bürgerkrieg, der keine Sieger kennt, in Eritrea regiert Isaias Afwerki mit unnachgiebiger Hand. Nicht jeder Flüchtling muss akut um sein Leben fürchten, aber die Menschen eint, dass sie den Glauben in ihre Heimat verloren haben. Dann gibt es noch all die Menschen, die einfach nur auf der Suche nach einem etwas besseren Leben sind. Aus Gambia, Bangladesch und Marokko brechen sie auf. Sie versuchen ihr Glück und hängen sich an die Flüchtlingstrecks.

Es ist die Zeit der großen Migrationsbewegung, aber es schlägt auch wieder die Stunde der Abwehr, weil europäische Staaten auf die neue Herausforderung zunächst nur die altbekannten Antworten kennen: Zäune, Kameras und Polizei. Unsere Reise beginnt deshalb im Juli 2014 in Bulgarien, wo einst der Eiserne Vorhang den Osten vom Westen trennte und sich in diesen Jahren mancher einen ebensolchen zurückwünscht.


Golyam Dervent, Grenzgebiet zur Türkei, Bulgarien

Der Rand von Europa ist eine traurige Angelegenheit. Ein paar brüchige Klinkerhäuser mit verrutschten Dachziegeln, die grau verputzte Fassade eines Rathauses und gegenüber ein Kiosk, in dem es alles und nichts gibt: Einwegrasierer, Plastiksandalen und Lollis. Keine hundert Menschen leben in Golyam Dervent. Von hier ist es noch gut ein Kilometer bis zur Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei.

Hier verläuft die Außengrenze der Europäischen Union. Das Gebiet ist nur schwer zu kontrollieren. Es gibt viele kleine Wege, die es Schleppern auf türkischer Seite einfach machen, mit ihren Pkws bis nah an die Grenze heranzufahren. Auch im Winter, wenn der Regen den Boden aufweicht. Wer diese Grenze überschreitet, hat eine der wichtigsten Etappen seiner Flucht genommen. Die grüne Landgrenze ist so in den vergangenen Jahren für syrische, afghanische und irakische Asylbewerber zu einer der meistgenutzten Fluchtrouten nach Europa geworden.

Sie haben uns am Morgen vor dem Hauptquartier des „Joint Forces Command“ am General-Totleben-Boulevard in Sofia mit einem natogrünen Bus abgeholt. Ein gutes Dutzend Journalisten ist auf der vom Verteidigungsministerium organisierten Pressefahrt dabei. Verteidigungsminister Angel Naydenov muss in wenigen Wochen seine Amtsgeschäfte übergeben. Länger als ein Jahr hat Bulgariens Bevölkerung nach einer umstrittenen Besetzung von Staatsposten gegen die Minderheitsregierung protestiert. Nun steht der Rücktritt des Kabinetts bevor. Aber zuvor will der Minister noch ein bisher gut gehütetes Geheimnis lüften.

Schon im Herbst 2013 war mit dem Bau eines Zaunes an der Grenze begonnen worden. Über den Baufortschritt drang nur wenig an die Öffentlichkeit. Korruptionsskandale bremsten die Arbeiten, eine Debatte über explodierende Kosten bestimmte die Schlagzeilen, später war die Rede von jeder Menge Pannen, von Material dürftiger Qualität und davon, dass dieser Zaun vielleicht sogar niemals fertiggestellt werden könnte. Jetzt will Naydenov zeigen, dass der Zaun viel mehr als nur ein Gerücht ist.

Es hat viel geregnet in den vergangenen Tagen. In Golyam Dervent verteilen die Soldaten Kunststoffüberschuhe, damit sich niemand bei dem Grenzbesuch schmutzig macht. Wir müssen daran denken, was uns Flüchtlinge im Vorfeld dieser Recherche berichtet haben. Wie sie nicht weit von hier mitten in der Nacht durch den Schlamm stapften, ihre Schuhe dabei verloren und schließlich von Polizisten gestoppt und gedemütigt wurden.

Sie haben ein Zelt für die Pressekonferenz aufgestellt. Ein Helikopter schwirrt über unsere Köpfe hinweg und fliegt eine Schleife über den Zaun. Der Verteidigungsminister wird später sagen, wie imposant er diesen Blick von oben fand und dass er jetzt nicht mehr daran zweifle, dass dieser Zaun die „illegale Einwanderung“ stoppen werde.

Es ist eine absurde Inszenierung. Drinnen im Militärzelt hält der Verteidigungsminister eine Rede voller Pathos. Er spricht davon, wie schwierig die Arbeiten auf diesem Terrain waren, er berichtet von Regen und Schlamm, schildert, wie 15 Tage lang die Arbeit ruhen musste, weil der Niederschlag so stark war, dass die Lastwagen nicht mehr vorankamen. 7.674.000 Lew, das sind knapp 4 Millionen Euro, hat der Zaun gekostet. Damit ist er 50 Prozent teurer geworden als geplant. Das ist viel für ein Land, das als eines der ärmsten der EU gilt. Der Minister versucht, sich mit einem Blick ins Nachbarland zu rechtfertigen. Der Zaun, der 2012 in Griechenland gebaut wurde, sei weniger als halb so lang, habe aber umgerechnet sogar 9 Millionen Lew gekostet. Die bulgarischen Journalisten stellen jetzt Fragen. Aber es geht nicht darum, ob es sinnvoll und erfolgversprechend ist, Menschen auf der Flucht mit Zäunen zu stoppen, es geht nicht um die moralische Dimension der Abwehr von Flüchtlingen, es geht um gestiegene Kosten und die verzögerte Fertigstellung. Dann bittet der Minister die Gäste nach draußen und schreitet ein Stück des Zaunes ab. Er lässt sich dabei fotografieren und interviewen. Er wirkt mächtig stolz.

Hier bei Golyam Dervent zeigt Europa so deutlich wie kaum an einem Ort, dass es unter sich bleiben möchte. Bulgariens Zaun ist 2,50 Meter hoch. Er besteht aus zwei parallel errichteten Barrieren. Dazwischen liegt ein schmaler Streifen, der mit sechs Rollen Nato-Draht gesichert ist. Nato-Draht ist ein besonders schmerzhaftes Hindernis. In einem Stacheldraht kann man sich verfangen, ein Nato-Draht aber schneidet tiefe Wunden in die Haut. Auch den oberen Teil des Zauns haben sie mit Nato-Draht umwickelt. Damit ist er rund drei Meter hoch.

Bulgariens Grenze wird von Tag zu Tag unüberwindbarer. Knapp 30 Kilometer des Zauns sind fertiggestellt. Bereits im August 2014 hat das Ministerium angekündigt, dass der Zaun noch einmal um 130 Kilometer verlängert werden könnte.10 Dann wären knapp zwei Drittel der Landgrenze zur Türkei vollständig abgeriegelt.

Zäune schotten ab und grenzen aus, aber das allein macht sie noch nicht zum Problem. Bulgariens Aufgabe ist es eben auch, die Außengrenzen Europas zu schützen. Ein Zaun kann also eine notwendige Maßnahme sein, um Kriminelle und Terroristen an einer unbeobachteten Einreise zu hindern. Nicht erst seit den Anschlägen von Paris im November 2015 ist in Europa der Wunsch nach mehr Sicherheit groß. In Ungarn, Slowenien und selbst im österreichischen Spielfeld sind neue Zäune entstanden. Was aber, wenn diese Zäune nicht nur gegen Terroristen, sondern vor allem gegen Flüchtlinge gerichtet sind? Was, wenn damit der Flüchtlingsstrom gestoppt werden soll?

Menschen, die auf der Flucht sind, muss zumindest die Möglichkeit gewährt werden, einen Asylantrag zu stellen – unabhängig davon, ob diesem später stattgegeben wird. Zäune aber konterkarieren diesen Ansatz. Vor allem dann, wenn die Einreise auf anderem Weg nicht gestattet wird. Tatsächlich haben Flüchtlinge aus Syrien kaum Möglichkeiten, ohne Visum nach Europa einzureisen. Mit Ausnahme geringer humanitärer Aufnahmekontingente11 gibt es nur wenige legale Wege. Botschaften vergeben selten Visa, ein klassischer Asylantrag kann selbst in deutschen und österreichischen Botschaften nicht gestellt werden.12 Die EU-Richtlinie 2001/​51/​EG führt zudem dazu, dass Reisende ohne Visum meist kein Flugzeug nach Europa besteigen dürfen. Damit soll eine illegale Einreise verhindert werden. Für Asylbewerber gilt zwar eine Ausnahme, doch diese müsste das Bodenpersonal prüfen. Da Fluggesellschaften eine Strafe bezahlen und für die Kosten aufkommen müssen, wenn Passagiere ohne Papiere im Ankunftsland abgewiesen werden, lassen Airlines sicherheitshalber meist gar keine Passagiere ohne Visum an Bord.13

Eine Zurückweisung droht Flüchtlingen auch an den offiziellen Grenzübergängen etwa zwischen der Türkei und den EU-Ländern Griechenland oder Bulgarien. Die Behörden in Athen und Sofia verweisen zwar auf die offiziellen Grenzstationen, allerdings berichten Flüchtlinge und Menschenrechtsorganisationen, dass türkische Beamte viele ohne Visum häufig gar nicht erst ausreisen lassen.

 

Flüchtlingen bleibt also mit wenigen Ausnahmen nur die Möglichkeit einer irregulären Einreise. Das ist die Scheinheiligkeit der europäischen Flüchtlingspolitik: Die EU ist sich beim Recht auf einen Asylantrag einig, viele Staaten tun allerdings alles dafür, dass möglichst wenige Menschen es auch in Anspruch nehmen können. So hat Europa lange Zeit indirekt die Zahl der Flüchtlinge eingeschränkt, ohne dass es dafür eines politischen Konsenses für eine Begrenzung, ein Kontingent oder Gesetzesänderungen gibt. Wer sich heute über unkontrollierte Flüchtlingsströme wundert, muss auch das bedenken.

Wir möchten mit der bulgarischen Grenzschutzpolizei über den Zaun sprechen, und wir wollen wissen, was sie zu den Anschuldigungen von Menschenrechtsorganisationen sagt, dass Menschen an der grünen Grenze immer wieder abgefangen und zurückgeschickt werden, ohne dass sie einen Asylantrag stellen dürfen.