Bunsenstraße Nr. 3

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Aus der Reihe: Lindemanns #16
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Bunsenstraße Nr. 3
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Dietmar Schmeiser

Bunsenstraße

Nr. 3

Kindheit in den Ruinen

einer Großstadt


Meinen Enkeln

Milena, Nils, Linn,

Konstantin, Valentin und Anton

Dietmar Schmeiser, 1937, besuchte die Gutenbergschule und das Goethegymnasium in Karlsruhe. Er studierte an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe mit Hauptfach Bildende Kunst und an der Universität Mainz Psychologie, wo er zum Dr. rer. nat. in den Fächern Psychologie, biologische Anthropologie und Psychiatrie promovierte. Ausbildung zum Psychoanalytiker in Heidelberg.

Lindemanns Bibliothek, Band 16,

herausgegeben von Thomas Lindemann.

Titelfoto (Auschnitt): Archiv Schmeiser

Fotos:

S. 93, 94, 95: Erich Bauer, Karlsruhe

S. 45, 92, 98, 103, 203, 204, 219, 221, 222, 223: Archiv Schmeiser

S. 97: Vermessungs- und Liegenschaftsamt Karlsruhe,

aus: Lacker „Zielort Karlsruhe“.

Restliche Fotos: Stadtarchiv Karlsruhe

© 1. Auflage 2005 · Info Verlag GmbH

2. komplett überarbeitete und erweiterte Ausgabe 2017

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck ohne Genehmigung

des Verlages nicht gestattet.

Karlsruhe · Bretten

ISBN 978-3-88190-844-3

www.infoverlag.de

Vorwort zur 2. Auflage

Diese Neuauflage der „Bunsenstraße Nr. 3“ habe ich erheblich erweitert aber auch durch die letzte Geschichte abgerundet. War es mir in der ersten Auflage wichtig, den kindlichen Lebensmut in einer grausamen Zeit darzustellen, kommt jetzt ein weiterer Aspekt hinzu.

Wie schnell wird ein Jahrhundert vergangen sein, und kein Mensch wird aus eigenem Erleben über die Furie des Krieges, die über das Land tobte, berichten können. Wenige Menschen werden nachfühlen können, warum wir ein Grundgesetz beschlossen hatten, das nur die Verteidigung zulässt. Schleichend und weitgehend unbemerkt wird in vielfältiger Weise und in zunehmendem Maße dieses edle Gesetz inzwischen hintergangen. Wir müssen schamhaft gestehen, wir sind nicht zu einer Schweiz geworden.

Vielleicht kann dieses Buch, neben all seiner Leichtigkeit auch spüren lassen, wie unser jeder Tun auch das gemeinsame Geschick mitbestimmt. Die Untätigkeit wäre wieder eine Flucht in die Gleichgültigkeit und deren Folge die betäubende, wortlose Pantomime der Ohnmacht, mit ihrer Ausrede vom Befehlsnotstand, eben das hinlänglich bekannte Schicksal des versagenden Individiums.

Dietmar Schmeiser

Grußwort

Etwa im gleichen Alter wie der Autor habe ich in der gleichen Straße, in der Bunsenstraße im Karlsruher Westen, den zweiten Weltkrieg miterlebt. Das Manuskript habe ich in einem Stück gelesen, immer wieder zustimmend genickt und vor mich hin gemurmelt – ja, so war es, wahr und ungeschminkt.

Die angsterfüllten Bombennächte im Luftschutzkeller wie auch die unterschiedlichen Reaktionen in der Gemeinschaft sind treffend geschildert genauso wie die drei schwersten Fliegerangriffe und die Stunden danach inmitten brennender Häuser und verzweifelter Menschen, die Angehörige, Hab und Gut verloren haben.

Geschildert wird aber auch eine gewisse Unbekümmertheit der Kinder, die nichts anderes gekannt haben und die aus dieser Zeit, die beileibe nicht gut war und die nicht enden wollte, einfach das Beste machten.

Der Autor, mein alter Weg-, mehr aber mein Straßengefährte, Dietmar Schmeiser, hat ein Erzählertalent, das diese Erlebnisse bildhaft wieder aufscheinen lässt, ohne dass er sich heroischer Worte bedienen muss. Die Umgebung, die Geschäfte, die Menschen in dieser Straße, deren Häuser den jüngeren Jugendstil präsentieren, fließen en passant in die Erzählung ein. Auch unser Hausflüsschen, die nahegelegene Alb, den Westbahnhof, die Kirche, den Kaplan sieht man dann wieder im rechten oder besser, im damaligen Licht. Die kirchlichen Feste, aber auch die zum Teil recht makabren Jungenstreiche mit Munition und Knallereien auf den Straßenbahnschienen offenbarten den Willen zu leben in einer trostlosen Umgebung. Unvorstellbar für spätere Jahrgänge, dass man in dieser Tristesse, bei nur noch wenigen Menschen und ohne Autos, einfach so auf der Straße spielen konnte, zumindest zeitweise.

Die Evakuierung, die „Kinderlandverschickung“ in großer Armut und Hunger sowie das Aufpäppeln in einer ganz anderen Welt, in der nahezu heilen, aber auch anstrengenden Welt auf dem Bauernhof, haben viele von uns so oder ähnlich erlebt. Der Auszug abgehärmter deutscher Jungsoldaten und der Einzug von Besatzungsstreitkräften, erst von Franzosen, dann von Amerikanern, wird als Mischung aus Angst und Erleichterung geschildert, so wie es war. Sie kamen aus anderen Welten, denn wir kannten kaum Franzosen und schon gar keine farbigen Amerikaner. Schließlich deutet sich eine neue Zeit an, die Zeit mit einer neuen Währung und – mit einer zarten Liebesgeschichte.

Menschen aus jener Zeit, aber auch Menschen, die den damaligen Alltag hautnah, ehrlich und meist undramatisch nachempfinden wollen, werden an dieses Buch noch lange zurückdenken, so wie ich das tue.

Prof. Dr. Gerhard Seiler

Oberbürgermeister der Stadt Karlsruhe a. D.

Heimweh

Fast wäre ich kein Karlsruher geworden, sondern ein New Yorker – und das kam so:

Mein Großvater Albert hat keine Karlsruherin geheiratet. In Sickingen im Kraichgau fand er meine Großmutter Maria, deren Vater dort eine kleine Brauerei betrieb und Gastwirt des Grünen Hofes war. Nichts Außergewöhnliches, wäre da nicht noch der merkwürdige Trauschein meiner Urgroßeltern gewesen. Davon soll diese Geschichte handeln.

Sie beginnt ganz alltäglich. Ein Mädchen namens Pauline verliebte sich in einen Karl Adolph. Alles hätte bei dem jungen Glück seinen Weg gehen können, wäre Pauline nicht das Kind einer vermögenden Familie gewesen. Karl Adolph aber hatte nicht viel dagegenzusetzen. Paulines Vater Valentin und Mutter Helena hatten sich da schon etwas Besseres für ihre Tochter gewünscht. Daraus machten sie auch keinen Hehl. Pauline sollte sich einen anderen suchen. Karl Adolph käme jedenfalls nicht in Frage. Da halfen kein Betteln, keine Tränen und schon gar kein Handanhalten. Vater blieb stur und Mutter unterstützte ihn. Karl Adolph möge ja ein rechter Mann sein, für eine Heirat käme er aber nicht in Frage. Und dabei blieb es.

Pauline versank in tiefe Trauer. Karl Adolph war gekränkt, so gekränkt, dass er beschloss, in der Neuen Welt sein Glück zu versuchen, wo es in Sickingen doch keines für ihn gab.

Wir wissen nicht, wie die Verliebten voneinander Abschied nahmen, können es uns aber leicht ausmalen. Leider hat meine Großmutter mir davon nichts erzählt. Das war die Sache ihrer Eltern. Über Gefühle wurde selten gesprochen und schon gar nicht über die der Eltern. Wie gesagt, wir sind auf unsere Phantasie angewiesen. Sicher liegen wir nicht falsch, wenn wir uns die Sache sehr traurig vorstellen, wie in aller Herrgottsfrühe Karl Adolph sich auf den Weg nach Karlsruhe machte, wahrscheinlich zu Fuß. Damals gab es in Sickingen noch keine Eisenbahn, geschweige denn einen S-Bahn-Anschluss wie heute, und für eine Kutsche dürfte das Geld nicht gereicht haben. Ein Rheinschiff brachte ihn wahrscheinlich nach Rotterdam.

Wir stellen uns eine weinende, von Vater und Mutter in ihre Kammer gesperrte Pauline vor, die mit ihren zarten siebzehn Jahren dem Geliebten kein letztes Ade sagen durfte. Reichtum kann schmerzen.

Karl Adolph reiste nach New York. Pauline weinte. Sie weinte viele Tage und Wochen. Hatte sie sich doch heimlich mit Karl Adolph verlobt. Nun war der Geliebte in unerreichbarer Ferne. Einen anderen Mann wollte sie nicht. Karl Adolph oder keinen! Das Mädchen wurde immer fahler, aß nichts mehr und verlor immer mehr seine Schönheit. Vater Valentin wurde von Tag zu Tag unruhiger. Ich male mir aus, wie er in seiner Schlafkammer sich nachts im Bett wälzte und aufhorchte, wenn es in Töchterleins Zimmer schluchzte. Helena, meine Ururgroßmutter, hat vielleicht auf ihn eingeredet und auf Abhilfe gesonnen. Aber was sollte man hier für Vorschläge machen? Partout wollte Pauline keinen anderen, wo es doch so fesche Burschen in Sickingen gab, die aus passendem Haus stammten und Pauline ein schönes Heim hätten bieten können.

Die Wochen verstrichen, der Winter kam ins Land, und Pauline war immer noch untröstlich.

Das hält auf die Dauer kein Vater durch, auch wenn er noch so sehr glaubt, für sein Töchterlein gäbe es Besseres. Sicher wird in einer der langen Winternächte in meinen Ururgroßeltern der Entschluss gereift sein: Wenn Pauline wieder glücklich werden sollte, müssen wir sie nach Amerika gehen lassen. Ein Gedanke, den sie vor wenigen Monaten hatten kaum zu denken gewagt. Ein Kind, das nach Amerika gegangen war, sah man in jenen Zeiten nicht mehr.

Meine Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. Gewiss hat es wieder viele Tränen gegeben. Jetzt waren die Eltern am Weinen. Das Kind musste mit dem Nötigsten für die Reise versorgt werden. Eine Geldbörse durfte nicht fehlen. Ein letztes Brot aus der Heimat wurde mitgegeben, und das Mädchen folgte, kaum war es Frühjahr geworden, den Spuren ihres Geliebten.

Ich stelle mir Karl Adolph in New York vor, wie er sehnsüchtig auf das Meer hinausschaute, Abend für Abend und Morgen für Morgen, wann endlich der Segler aus Rotterdam am Horizont erscheine. Es kamen viele Segelschiffe zu jener Zeit nach New York, und es kam auch das Schiff mit seiner Verlobten. Wieder lange Tage der Sehnsucht, Quarantäne auf Ellis Island, Bürokratie, und endlich machte das voll Ungeduld erwartete Boot an der Kaimauer fest: PAULINE.

 

Was die zwei wohl als Erstes machten? Sie gingen zur Kirche und heirateten. Ich gehe davon aus, dass Karl Adolph schon alles vorbereitet hatte, während seine Braut noch auf der beschwerlichen Reise über den Ozean war. Leider wissen wir überhaupt nichts von ihrer Hochzeit. Fest steht, dass sie am 19. Juli 1884 in New York stattfand.

Karl Adolph war kein rechter Auswanderer. Dergleichen will in der Neuen Welt ein anderes Leben führen als zu Hause. Mein Urgroßvater war nur aus Verzweiflung von Sickingen weggelaufen. Ohne seine Pauline hätte er dort nicht mehr leben wollen. Und bei Pauline war es wohl ebenso. Ohne ihren Karl Adolph war Sickingen nicht mehr ihre Heimat; dann lieber in der Fremde leben als ohne den Geliebten.

Jetzt nach der Vermählung war alles anders geworden. Die Neue Welt brauchten sie nicht mehr für ihr Glück. Ihr Ziel

hatten sie erreicht. Niemand konnte sie mehr trennen. Auch

in Sickingen nicht!

In solch einer Konstellation kommt leicht Heimweh auf. In Sickingen muss doch alles schöner gewesen sein als in dieser fremden Welt. Und wenn das Heimweh erst mal den einen befallen hat, steckt es den anderen an. Heimweh nagt. Heimweh ist eine tückische Krankheit. Sie breitet sich schleichend aus, besonders an den Tagen, an denen man keinen Erfolg hat, wenn man krank ist oder vielleicht nur die Winterabende allzu lang werden, es kalt wird – und in New York kann es sehr kalt werden und viel Schnee fallen. Dann muss man nur noch daran denken, wie in Sickingen Weihnacht gefeiert wird, wie man in der Christmette singt und wie die Gutsel schmecken. Zudem, aus Deutschland hörte man, wie es dort wirtschaftlich aufwärts ging. Da könnte man doch auch sein Glück machen.

Ein Jahr blieben die beiden in Amerika. Im Sommer 1885 waren sie wieder auf einem Segler, warfen einen letzten Blick auf New York, und sie hofften wohl, die Reise gut zu überstehen. Das galt besonders für Pauline. Sie war schwanger. Zwillinge wurden auf dem Segler tot geboren und erhielten ein nasses Grab.

Wir ahnen es. In der Heimat konnten sie dann doch glückliche Eltern werden. Sonst hätte ich diese Erzählungen nicht schreiben können.

Mein ist die Rache, spricht der Herr

Noch war ich keine fünf Jahre alt geworden, da sollten mein Bruder Edwin und ich zum Kinderarzt. Kinderarzt, das hörte sich freundlich an und, wenn man noch nie dort gewesen war, durfte man auch das Beste annehmen.

Es war ein schöner Spätsommertag, als der Arztbesuch stattfinden sollte. Ungewöhnlich war die Vorbereitung. Wir wurden zuvor gewaschen, obwohl wir doch schon am Morgen diese Tortur hatten über uns ergehen lassen. Egal, ob wir Tante Anna in der Sophien- oder Onkel Hermann in der Rüppurrer Straße besuchten, so gründlich gewaschen wurden wir untertags nie, sieht man vom Bad am Samstagnachmittag ab.

Weit war der Weg auch nicht. Die Weinbrennerstraße mit ihren alten Vorgärten trippelten wir entlang, und am Kopfende des Rosengärtchens, wie bei uns der kleine Park am Weinbrennerplatz hieß, wohnte auch schon der Onkel Doktor. Offensichtlich ein weiterer Onkel, den wir noch nicht kannten.

Im Erdgeschoss eines stattlichen, vierstöckigen Hauses klingelte meine Mutter, und schon kam eine ganz in Weiß gekleidete Frau an die Tür, die, ohne groß zu fragen, uns in ein Zimmer brachte, in dem wir warten sollten. Es tat sich einige Zeit gar nichts. Manches erschien mir hier merkwürdig. Sicher, Mutter war schon öfters mit uns zu Leuten gegangen, die mir fremd waren. Ein Besuch bei neuen Tanten und Onkels war immer spannend. Hier allerdings kam Unruhe auf. Hatte das etwas mit Mutter zu tun?

Eine Tür öffnete sich. Mutter wurde von einem Herrn begrüßt, der offensichtlich auch die weiße Farbe so auffällig schätzte. Auch uns grüßte der neue Onkel und erkundigte sich ausgesprochen freundlich nach unseren Namen. Es gab keinen Grund, ihm diese nicht zu nennen. Mutter wurde Unverständliches gefragt, worauf sie geflissentlich antwortete. Die Atmosphäre, daran erinnere ich mich noch genau, wurde immer seltsamer. Völlig befremdlich wurde mir allerdings dann die Angelegenheit, als der Herr anfing, mich zu befingern und mir die Hose herunterzuziehen. Da stand ich nun mit nacktem Po. Freundlich lächelnd ergriff er einen Gegenstand aus Silber und Glas, der auf einem kleinen, gläsernen Tisch gelegen hatte. Er hielt diesen merkwürdigen Gegenstand gegen das Licht, und ich gewahrte zu meinem großen Schrecken am Ende desselben eine spitze Nadel. Ich durchschaute die freundliche Hinterlist, als mich der neue Onkel über sein Knie legte und offensichtlich mit Lust und in böser Absicht mir mit dieser Nadel in meinen Hintern stach. Ich schrie auf und mein Bruder mit mir. Ob ich mir noch etwas vom deutschen Jungen anhören musste, der nicht wehleidig sei, weiß ich nicht mehr.

Das Schlimmste kam aber sogleich. Noch heute bin ich mir sicher, dass ich das nun Folgende als erheblich bösartiger empfand als diesen vorhergegangenen hinterlistigen Stich.

Meine Mutter zog mir wieder meine Hose an, und jetzt wurde mein kleiner Bruder ergriffen. Mit ohnmächtiger Wut musste ich zusehen, wie meinem doch so kleinen Bruder ebenfalls die Hose heruntergezogen wurde. Dieser ahnte, was ihm blühte, und er schrie aus Leibeskräften. Ich konnte ihm nicht helfen. Zu groß war die Übermacht, zumal jetzt auch noch die weiße Frau hinzukam. Es ist besonders gemein, wenn sich so viele Große über den Kleinsten hermachen. Ich wurde zurückgehalten, und ich schwor mir, wenn ich groß bin, werde ich jedes Unrecht rächen.

An die Rolle meiner Mutter in der Szene erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass es hieß, wir müssten noch zweimal kommen. Ich habe gebrüllt: „Wir kommen nie wieder!“

Schnell waren wir im Treppenhaus und durch den Vorgarten gegangen. Mir blieb nur noch das heimliche Gebet zum Himmel um Rache.

Was nun kommt, mag ein schlechtes Licht auf meinen vierjährigen Charakter werfen. Wenige Tage nach unserem Besuch hatte die Royal Air Force das Haus dieses bösen Onkels bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Lustvoll schaute ich auf die noch rauchende Ruine.

Die Brezel

In den Kindergarten bin ich nicht gerne gegangen. Vielleicht war ich noch zu jung. Als Kleinster fühlte ich mich unterlegen und eingeschränkt. Es waren schrecklich viele Kinder dort. Über allen dominierte eine Nonne. Eine Vincentinerin mit einer riesenhaften Haube, wie man sie heute nicht mehr zu sehen bekommt. Ihr zur Seite standen zwei oder drei Tanten. Das ist nicht ironisch gemeint. Wir hatten diese Fräuleins so zu nennen. Der Nonne untergeordnet waren diese haubenlosen Wesen, denen wiederum ich unterstand. Genauer betrachtet, gab es noch eine Zwischenschicht zwischen den Tanten und mir. Das waren die großen Mädchen. Die hatten mehr zu sagen und versuchten, über uns Kleine zu herrschen. Das passte mir überhaupt nicht.

Mutter hängte mir morgens die Kindergartentasche um. In der befand sich ein Butterbrot, in Butterbrotpapier eingewickelt. Das Papier sollte ich wieder mitbringen, man konnte es mehrmals verwenden. Manchmal befand sich in meinem Täschchen auch noch ein Apfel.

Mit gestrickter Mütze auf dem Kopf hatte ich hinter der Fensterscheibe des Wohnzimmers zu warten, bis eine der Tanten die Straße entlangkam. Sie hatte schon etliche Kinder bei sich, und ich musste mich der Schar anschließen. Mutter winkte mir regelmäßig vom Fenster aus hinterher. Mein kleiner Bruder durfte zu Hause bleiben.

Wir durchzogen noch etliche Straßen. Überall wurden Kinder aufgesammelt, bis wir in stattlicher Zahl den Kindergarten erreicht hatten. Der war versteckt hinter unserer gewaltigen, neuromanischen Kirche, St. Bonifatius. Er hatte einen Namen, der mir noch nie begegnet war: St. Lioba. Erst im Kommunionunterricht erfuhr ich, wer diese Heilige war. Ganz einfach, die Weggefährtin des Heiligen Bonifaz.

Was ich im Kindergarten bewunderte, war ein großes Mädchen, das um eine flache Korkplatte würfelförmige, farbige Holzperlen reihen konnte. Ein anderes Mädchen machte aus Keramikperlen einen Untersetzer. In dieser farblosen Zeit des beginnenden Krieges faszinierten mich diese Farben. Solche Arbeiten kamen für mich leider nicht in Frage. Ich war eben noch viel zu klein und folglich zu dumm. Wahrscheinlich durften auch nur Mädchen solche schönen Arbeiten machen.

Oft drängte ich meine Mutter, zu Hause bleiben zu dürfen. Sie aber war leider konsequent. Zu Hilfe kam mir dann der Krieg. Die Stadt wurde in zunehmendem Maße bombardiert, zuweilen auch am Tag. Das ängstigt jede Mutter. Bevor aber der erlösende Entschluss meiner Mutter kam, dass ich zu Hause bei meinem kleinen Bruder bleiben durfte, ereignete sich etwas Seltsames.

Wir waren noch nicht richtig am Morgen in St. Lioba angekommen, wurden wir schon wieder in unsere Jacken gesteckt und hatten unsere Mützen aufzuziehen. Die Butterbrote blieben im Kindergarten, und alle Kinder zogen zum Weinbrennerplatz. Dort hatten sich noch viele andere Menschen versammelt. Sie waren höchst unruhig. Kein Auto auf der Straße. Plötzlich löste sich die Unruhe in unverständliches Getobe der Erwachsenen. Nie gesehene Wagen und ein prächtiges Cabriolet kamen aus Richtung Westbahnhof die Kriegsstraße entlang. Die Leute riefen: „Er kommt“ und brüllten: „Heil Hitler.“ Viele rissen den rechten Arm hoch oder winkten den Wagen zu. Mir blieb das Gehampel der Erwachsenen weiterhin schleierhaft. Ich fand uns Kinder viel vernünftiger.

Bald bemerkte ich, dass ein Kind aus unserem Kindergarten – natürlich wieder ein Mädchen und wieder ein großes – von der Nonne einen Blumenstrauß erhalten hatte, mit dem es auf den offenen Wagen zuging, in dem der Uniformierte saß. Der ließ anhalten, nahm den Strauß entgegen – und schenkte dem Mädchen eine Brezel.

Mir blieb unklar, was so ein Führer sei. Verschmerzen konnte ich, dass das Kind ihm einen Blumenstrauß hatte bringen dürfen. Was mich allerdings begehrlich machte, war die Brezel. Die hatte nicht der kleine Dietmar, die hatte – wie konnte ich es auch anders erwarten – ein großes Mädchen.

Tag der Wehrmacht

Es war Sommer. Und die Sommer waren immer schön, auch in einer Stadt voller Ruinen. Noch war längst nicht alles zusammengebombt. Unsere Straße war unzerstört. Nur den Nuber hatte es getroffen, das Haus unseres Frisörs. Auch die Uhlandstraße stand noch unversehrt, ansehnliche Straßenzüge aus wohlhabenden Zeiten, in denen die Hausbesitzer darin wetteiferten, sich einen schönen Stil an die Fassaden kleben zu lassen. Da gab es moderne, die hatten einen Touch von Jugendstil, zum Beispiel das, in dem Edwin und ich aufwuchsen, eben die Bunsenstraße Nummer 3. Andere Eigentümer dachten historischer. Sie bauten in Gotik oder Romanik. Wieder andere schätzten das Deutsche. Die hatten schwere Bogen errichten lassen mit viel Sandsteinverkleidung und in Giebelnähe Fachwerk. Diese Häuser sahen aus wie veritable Burgen, so etwa das Gebäude der Drogerie Schradi. Auf jeden Fall, es gab viel zu sehen, auch wenn die Fassaden nach fünfzig Jahren durch Krieg und Armut eingegraut waren. Besonders eindrucksvoll waren diese Straßen, wenn riesige Fahnen, blutrot und mit einem arischen Zeichen in Schwarz auf weißem Grund aus den oberen Fenstern hingen und im sanften Aprilwind vom gemeinsamen Glauben an den Sieg kündeten.

Ein solcher Tag war heute. Mutti hatte uns sonntäglich herausgeputzt, und es galt, einen weiten Marsch durch die Weststadt zu absolvieren. Das Geld für die Straßenbahn wurde gespart. Möglicherweise hatten wir die Aussicht, den Heimweg mit der Elektrischen zu machen. Ja, wo ging es denn eigentlich hin? Zum Tag der Wehrmacht. Was mag es dort zu sehen geben? Die Wehrmacht. Und es war weit bis zur Wehrmacht. Nachdem wir die düsteren, hohen Häuserschluchten der Uhlandstraße verlassen, die Kaiserallee überquert hatten, kamen wir in eine vornehme Villengegend, in der fast nichts zerstört war.

Endlich war es so weit. Mächtige Sandsteinkasernen säumten die Moltkestraße – der richtige Name für eine Kasernenstraße. Und jetzt hätte ich es fast vergessen: Eine der Villenstraßen war nach unserem Gauleiter von Baden benannt. So viel Ehre konnte man in jenen Zeiten schon zu Lebzeiten genießen, wenn man an der richtigen Stelle saß. Robert Wagner hieß dieser Goldfasan inzwischen, getauft hingegen war er auf den Namen Robert Backfisch.

Wir waren inzwischen bei den roten Sandsteinen angelangt, oder besser bei den Kasernen, die man schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten errichtet hatte.

 

Eine richtige Kaserne hat erst mal einen hohen Zaun. Und der steht noch heute in der Moltkestraße. Aus durchsichtigen Gründen braucht eine Kaserne solch hohe Zäune.

Nun gut, eine Kaserne hat und hatte ein großes Tor mit einer Schildwache davor, und das Lied von der Lili Marlen, das war mir auch schon hinlänglich bekannt. Die Schildwache grüßte stramm, es gab auch viel Musik aus großen Lautsprechern. Mutti hatte uns an die Hand genommen und zog uns rasch an allerhand Feldgrauen vorbei. Mutter war noch eine junge Frau und ohne Mann.

Die Musik machte mir Angst. Sie war mir fremd. Es waren swingende Saxophone zu hören, deren Melodie ich heute noch nachsummen kann. Sie sollte wohl lustig klingen, ich empfand sie beängstigend, obwohl ihr das beängstigende Heldische fehlte, das aber nicht lange auf sich warten ließ. Schon war er da, der zackige Militärmarsch, und kaum verklungen, brüllte ein Spieß aus Leibeskräften Unverständliches, worauf in Sekundenschnelle acht Mann akkurat in einem offenen Wagen stramm Platz nahmen, die zuvor noch neben ihm gestanden hatten. Das hatte wohl nicht nur mich beeindruckt, sondern noch mehr die anderen Zuschauer, die offensichtlich nach Zugabe lechzten, was der Brüller wohl bemerkte, und schon durften die flotten Soldaten wieder genau so fix vom Wagen absitzen, wie sie hinaufgekommen waren. Stocksteif standen sie nun wieder neben ihrem Wagen. Schon brüllte es wieder, und die Grauen saßen wiederum auf dem Wagen, die Gewehre zwischen den Beinen. Ich erinnere mich nicht mehr, wie oft sich diese Szene wiederholte. Was für einen Sinn die Übung hatte, konnte ich nicht erkennen, beeindruckt hat sie mich doch. Es war mir unverständlich, wie Menschen so schnell, so akkurat einen Wagen besteigen konnten. Maschinen hätten es nicht besser gekonnt. Gestört hat mich nur das unverständliche Gebrüll des Obersoldaten.

Wer darauf hoffte, es käme noch besser, noch lauter, noch maschinenhafter, der hatte sich getäuscht. Ich erinnere mich an kaum einen Panzer, eine Flak oder eine Pak. Wahrscheinlich war kein Kriegsgerät mehr in Karlsruhe.

Wie gesagt, es war ein schöner Sommertag, wie es den in Karlsruhe häufiger geben mag als in anderen deutschen Städten, eben wärmer und sonniger. In einem der Kasernenhöfe bildete sich ein großer Kreis von Zuschauern auf Empfehlung des Lautsprechers, aus dem zuvor diese unheimliche Musik erschallt war. Plötzlich, weiß Gott woher, kamen zwei Radfahrer, diesmal nicht in Grau. Nein, ganz bunt angezogen mit hässlichen, furchterregenden Gesichtern, jedes mit unwahrscheinlich dickem rotem Mund, weiß umrandet, von einer Knollennase überragt, über der riesige Augen leuchteten und ein runzliger Glatzkopf thronte. Solche Menschen hatte ich noch nie gesehen. Und wie sie angezogen waren: bunter Ringelpullover und grelle Hosen. Wer kleidet sich schon so? Eines musste man ihnen allerdings lassen: Sie konnten unwahrscheinlich schnell und geschickt Rad fahren. Kreischend jagten sie hintereinander her. Sie schrien, beschimpften sich, lachten wieder. Je wilder sie es trieben, um so mehr freute sich das Publikum. Mir war das alles fremd. Ich hatte eher Angst. Die Zuschauer fanden die bunten Kerle lustig und grölten. Ich wollte kein dummes Kind sein, das die Scherze der Großen nicht versteht. Ich versuchte auch zu lachen. Ob meine Mutter gelacht hat? Ich glaube nicht. Sie lachte schon lange nicht mehr. Sie hatte eisern ihre Pflicht getan, indem sie meinem Bruder und mir das geboten hatte, was eine Stadt im Kriege zu bieten hat, eben so einen Tag der Wehrmacht, ein Vergnügen, das nichts kostete.

Wehrmacht? Hatte diese Wehrmacht ihr nicht schon zu viel geboten? Ihr den Mann aus dem jungen Haus genommen und in ein unwirtliches Land geschickt? Dort sollte er uns vor einem gewissen Iwan schützen, wer der auch immer sein mag. Nein, der Vater kam ebenso seiner Pflicht nach, wie sie es jetzt tat. Wir hatten uns daran gewöhnt, in einem Land zu leben ohne Väter. Die hatte der Krieg in Viehwaggons an die Front gefahren. Wo die auch immer sein mag. Auf jeden Fall, die Väter waren weg. Ein paar Alte waren noch da und ein paar Braune, die waren unabkömmlich. Und eben noch diese beiden Clowns, welche unentwegt schrien und Dinge machten, deren Sinn ich nicht verstand. Ein Clown verlor bei der unentwegten Raserei das Vorderrad seines Gefährtes. Alle schrien auf. Den Clown schien das wenig zu stören. Er fuhr mit einem Rad weiter. Alle lachten. Mich dauerte er. Mein Bruder reagierte auch nicht. Zu lachen hatten anscheinend nur die Großen – außer unserer Mutter.

An den Fahrrädern der Clowns ging noch vieles kaputt. Ich bedauerte die zwei immer mehr. Die Großen lachten weiter. Warum eigentlich? Weil die Clowns Pech hatten? Weil denen alles kaputtging? Wo doch sowieso so viel kaputtging. Wie viele Häuser waren schon in Schutt und Asche gegangen! Dabei haben die Großen nicht gelacht. Geheult und geschrien haben sie. Ich habe nicht geweint. Ich habe zugesehen, als die Hausbewohner in der Eisenlohrstraße vor einem rauchenden Trümmerhaufen standen, am helllichten Tag, und heulten. Ich habe nur geguckt und mich gewundert, wie das Dach des Hauses fast unbeschädigt auf einem Schuttberg lag, dem Rest von drei Stockwerken, und es hatte nach verbrannten Lumpen und Leuchtgas gerochen.

Irgendwann gab es dann über die Clowns nichts mehr zu lachen. Die Leute klatschten und verliefen sich.

Da gab es noch eine Gulaschkanone, aus der Erbsensuppe geschöpft wurde. So schmeckt der Krieg.

Dann knallte es noch. Zum Militär gehört das Schießen. Da war ein Stand aufgebaut, von einer Absperrung aus Holzbalken umgeben. Schießen ist gefährlich! An einem Kopfende des Schießstandes standen zwei Soldaten mit einem Gewehr und allerhand Volk um sie herum. Jeder, der wollte, durfte schießen. Die Soldaten öffneten das Schloss am Gewehr, gaben eine Kugel hinein und der Schütze lehnte sich auf einen Balken, zielte, und schon krachte es. Das Ziel war vorgegeben. Am anderen Ende des Schießstandes war ein fetter Blechmann aufgebaut, auf den galt es zu schießen. Rums, da fiel schon wieder ein Schuss. Edwin und ich schreckten nur ein wenig zusammen. Von den vielen Luftangriffen, die wir überlebt hatten, waren wir gestählt. Der fette Mann, auf den es zu schießen galt, sah gemein aus. Er rauchte eine dicke Zigarre, sein Bauch quoll aus Hose und Weste. Wer mochte wohl dieser Blechmensch sein, der schon einige Einschusslöcher hatte?

Das ist der Churchill, wurde uns erklärt. Das sei der böse Mann, der Deutschland den Krieg erklärt habe und jetzt die vielen Bomben auf unsere Stadt abwerfen ließe. Wer wollte hier zurückstehen und ihm nicht eine aufs Fell brennen?

Da waren etliche, die es versuchten. Es krachte ganz schön. Neue Löcher hat der Kerl aber keine bekommen. Das bemerkte ich schon. Mutter erklärte, dass hier nur mit Platzpatronen auf Churchill geschossen werde. Alles andere sei zu gefährlich. Mit richtigen Patronen schieße man an der Front. Offensichtlich war der Churchill dort nicht, schloss ich in meinem kindlichen Gemüt. Sonst hätte man ihn längst erschossen, und er könnte keine Bomben mehr auf uns werfen, und die Leute in der Eisenlohrstraße und der Nuber hätten ihren Frieden gehabt.

Ich habe eine natürliche Begabung, mich vorzudrängen, was mir beim Schlangestehen vor den Geschäften zugute kam. So stand ich bald neben dem Soldaten, der die Schießinstruktionen erteilte und einem die Flinte in die Hand drückte. Es galt, den Kolben gegen die Schulter zu drücken, den Kopf etwas über den Kolben zu beugen und sich mit den Ellbogen abzustützen. Für mich war der Schießprügel zu groß, zu schwer. Außerdem, beim Abfeuern gab es einen ganz schönen Schlag gegen die Schulter. Das hatte ich beobachtet. Ich hätte es doch besser nicht versuchen sollen. Mich jetzt aber zu drücken, wäre ein schlechtes Beispiel für meinen kleinen Bruder gewesen. Schließlich war kein Vater mehr da, weshalb ich der Tapfere sein musste. Auch Mutter wünschte und brauchte einen braven Jungen. Feig durfte ich nicht sein! Und schon gar nicht heute, wo es galt, dem Churchill zu zeigen, wer wir waren.