Einführung in die philosophische Ethik

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Dietmar Hübner

Einführung in die

philosophische Ethik

2., durchgesehene und korrigierte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. Dietmar Hübner ist Professor für »Praktische Philosophie, insbesondere Ethik der Wissenschaften« an der Leibniz Universität Hannover.

Mit 27 Tabellen

Lösungsvorschläge zu den Fragen und Aufgaben unter

www.utb-shop.de / 9783825249915

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, 37073 Göttingen

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlaggestaltung mit einem Motiv von Karl Blossfeldt

Satz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel

EPUB-Erstellung: Lumina Datametics, Griesheim

UTB-Band-Nr. 4121

ISBN 978-3-8252-4991-5

Inhalt

Vorwort

1.Ethik und Moral – Begriffsklärungen

1.1Etymologische Herkunft von ›Ethik‹ und ›Moral‹

1.2Moderne Bedeutung von ›Moral‹

1.3Moderne Bedeutung von ›Ethik‹

1.4Einteilung der Ethik

2.Deskriptive Ethik – Ansätze aus Philosophie, Psychologie und Soziologie

2.1Smith: Vom ›aufmerksamen Zuschauer‹ zum ›unparteiischen Zuschauer‹

2.2Kohlberg: Die sechs Stufen der Moralentwicklung

2.3Luhmann: Moral und funktionale Differenzierung

2.4Zum Zusammenhang von deskriptiver und normativer Ethik

3.Metaethik – Das Sein, das Erkennen und die Sprache der Moral

3.1Sein-Sollen-Fehlschluss und naturalistischer Fehlschluss

3.2Kognitivismus und Nonkognitivismus

3.3Generalismus und Partikularismus

3.4Rationalismus und Sensualismus

3.5Tugendethik, Deontologie und Teleologie

4.Tugendethik – Die vollkommene Seele

4.1Tugenden, Handlungen und Erfolge

4.2Platon: Seelenharmonie und Kardinaltugenden

4.3Aristoteles: Höchstes Gut und rechte Mitte

4.4Thomas von Aquin: Antike Tugenden und christliche Tugenden

4.5Rückkehr des Aristotelismus

5.Deontologie – Das richtige Handeln

5.1Die Universalisierbarkeit von Handlungen

5.2Kant 1: Guter Wille und moralische Maximen

5.3Kant 2: Die Gesetzesformel des kategorischen Imperativs

5.4Kant 3: Die Zweckformel des kategorischen Imperativs

5.5Neuansätze des Kantianismus

6.Teleologie – Die erstrebenswerte Welt

6.1Varianten und Probleme des Utilitarismus

6.2Bentham: Gegen Asketizismus und Willkür

6.3Mill: Der Beweis des Utilitarismus

6.4Sidgwick: Intertemporale Summation und interpersonelle Summation

6.5Perspektiven des Utilitarismus

Literatur

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Diese Einführung ist für Studierende, Schüler und weitere Interessierte geschrieben, die sich im Rahmen von Modulen, Kursen oder auch im Selbststudium mit ›Moralphilosophie‹, ›philosophischer Ethik‹ bzw. ›praktischer Philosophie‹ befassen wollen. Das Buch vermittelt die begrifflichen Grundlagen der genannten Gebiete, erläutert die argumentativen Zusammenhänge maßgeblicher Positionen und vertieft sie durch die ausführliche Darstellung zentraler Autoren und ihrer einschlägigen Werke.

Der Text ist aus langjähriger Lehrerfahrung mit entsprechenden Einführungsvorlesungen entstanden, die ich speziell für Anfänger der Philosophie, aber auch für Studierende anderer Fächer seit dem Sommersemester 2008 an den Universitäten Bonn und Hannover gehalten habe. Die Rückmeldungen von Teilnehmern und Tutoren haben die Konzeption immer weiter reifen lassen, so dass ich beiden Gruppen zu großem Dank verpflichtet bin für die Anregungen, die ich von ihnen über die Jahre hinweg empfangen habe. Inzwischen sind Entwurf und Ausführung des Textes so weit gefestigt, dass der Moment gekommen scheint, ihn in der vorliegenden Fassung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Abweichungen zwischen Vortragsmanuskript und Buchversion sind vor allem den unterschiedlichen didaktischen Anforderungen geschuldet, denen sich eine zumeist zweistündige, mündliche Semesterveranstaltung sowie eine möglichst konzise, schriftliche Grundlagendarstellung jeweils zu stellen haben.

Gemeinsam ist beiden Formen der Ansatz, zunächst ein systematisches Gerüst an Zentralbegriffen und Theorietypen zu erarbeiten und von dort aus historische Vertiefungen anhand einzelner Philosophen und ihrer jeweiligen Texte vorzunehmen. Auf diese Weise kann dem doppelten Anspruch eines modernen Studiums, aber auch dem verständlichen Wunsch vieler Leser entsprochen werden, einerseits eine klare Orientierung über den konzeptuellen Gesamtzusammenhang der Ethik und ihrer unterschiedlichen Positionen, andererseits solide Einblicke in die wesentlichen Ausgestaltungen dieser Standpunkte in ihren wichtigsten Entwürfen zu erhalten. Systematische Strukturierungen und historische Ausführungen sind in der Philosophie im Allgemeinen und in der Ethik im Besonderen keine einander ausschließenden Alternativen. Vielmehr bilden sie wechselseitig unentbehrliche Ergänzungen, die erst gemeinsam philosophisches Wissen, auch auf elementarer Ebene, entstehen lassen können. Entsprechend werden in dieser Einführung grundlegende Klassifikationsschemata, wesentliche Moralbegriffe und unterschiedliche Ethiktypen zunächst in allgemeiner Hinsicht erläutert, um dann in den Werken von Aristoteles, Kant oder Mill eingehend nachgezeichnet und mit Gespür für ihre besonderen Erscheinungsweisen erschlossen zu werden.

Im Einzelnen stellt sich der Aufbau dieses Buches wie folgt dar: Kapitel 1 befasst sich mit den modernen Begriffsbedeutungen von ›Moral‹ und ›Ethik‹ und erläutert insbesondere die drei Hauptebenen der Ethik, nämlich deskriptive Ethik, normative Ethik und Metaethik. Kapitel 2 stellt beispielhaft drei Konzeptionen deskriptiver Ethik vor, die innerhalb der Philosophie, aber auch in Psychologie und Soziologie von großer Bedeutung sind. Kapitel 3 diskutiert wesentliche Eckpunkte der Metaethik, darunter die fundamentale Einteilung normativer Ethiken in Tugendethiken, Deontologien und Teleologien.

 

Letztere Einteilung ist für den weiteren Aufbau des Buches maßgeblich: Kapitel 4, 5 und 6 widmen sich jeweils einem dieser drei Ethiktypen und verdeutlichen ihn mit starkem Fokus auf seine wichtigsten historischen Vertreter. Insbesondere die Tugendethiken von Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin, der deontologische Ansatz von Kant sowie die teleologischen Entwürfe von Bentham, Mill und Sidgwick werden dabei eingehend in ihren zentralen Theoriebestandteilen und ihren wesentlichen Argumenten dargestellt. Zeitgenössische Versionen der genannten Ethiktypen werden jeweils zum Ende des Kapitels skizziert. Schließlich finden sich Fragen und Aufgaben, die zur Rekapitulation und Anwendung des Stoffes dienen und deren Lösungen auf der Internetseite von UTB eingesehen werden können (www.utb-shop.de/9783825249915).

Zwei weitere Einheiten der Vorlesung, nämlich zur Unterscheidung von Zwecken, Mitteln und Nebeneffekten sowie zu Kategorien und Abwägungsregeln der Rechtsphilosophie, sind nicht in diese Buchversion mit aufgenommen worden. Grund hierfür sind zum einen der begrenzte Umfang, auf den hin ein Lehrbuch vernünftigerweise zu konzipieren ist, zum anderen der inhaltliche Umstand, dass die genannten Themenbereiche eher spezieller Natur sind und daher innerhalb einer allgemeinen Einführung als entbehrlich gelten dürfen. Statt also an anderen Stellen knapper zu werden und hierdurch die dort gewünschte Vertiefung zu gefährden, schien es angebracht, auf diese beiden Einheiten vollständig zu verzichten. Wer dennoch in sie Einblick nehmen will, findet sie an anderer Stelle veröffentlicht, nämlich in dem Lehrbuch Forschungsethik: Eine Einführung von Michael Fuchs et al. (Metzler 2010), zu dem ich zwei entsprechende Theoriekapitel beigesteuert habe (»Aspekte von Handlungen«, S. 22–31, sowie »Stufen der Verbindlichkeit«, S. 32–39).

Mein Dank geht zunächst an die Institution, die es mir ermöglicht hat, dieses Buch zu verfassen, nämlich an die Leibniz Universität Hannover, an der ich seit 2010 tätig sein darf, und speziell an das dortige Institut für Philosophie, das ein überaus anregendes Umfeld für philosophisches Arbeiten bildet. Zahllose wertvolle Gespräche, die den Text erheblich an Prägnanz und Konsistenz bereichert haben, durfte ich zudem am von Dieter Sturma geleiteten Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) in Bonn führen, namentlich mit Bert Heinrichs und Sebastian Knell. Schließlich bedanke ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht für die umsichtige Realisierung des vorliegenden Bandes. Dies gilt insbesondere für Frau Dr. Ulrike Gießmann-Bindewald, die das Projekt von Beginn mit größter Hilfsbereitschaft und höchster Professionalität begleitet hat.


Hannover, im Januar 2014D.H.

1.Ethik und Moral – Begriffsklärungen

Dieses erste Kapitel befasst sich mit den Bedeutungen der Begriffe ›Ethik‹ und ›Moral‹. Es klärt den etymologischen Hintergrund beider Wörter (Abschnitt 1.1) sowie ihre Verwendung im modernen Sprachgebrauch (Abschnitte 1.2 und 1.3). Von dort aus entwickelt es eine erste wichtige Einteilung der Ethik, nämlich die Unterscheidung von ›deskriptiver Ethik‹, ›normativer Ethik‹ und ›Metaethik‹ (Abschnitt 1.4). Deren Inhalte werden in den nachfolgenden Kapiteln eingehend erläutert.

1.1Etymologische Herkunft von ›Ethik‹ und ›Moral‹

Wenn man sich über die Bedeutung der beiden Begriffe ›Ethik‹ und ›Moral‹ Aufschluss verschaffen will, ist es naheliegend, zunächst einen Blick auf ihre etymologische Herkunft zu werfen. Beide Wörter stammen nicht aus dem Deutschen, sondern sind aus fremden Sprachen importiert worden, nämlich aus dem Griechischen bzw. aus dem Lateinischen.

(1) Das deutsche Wort ›Ethik‹ leitet sich vom altgriechischen ēthos her (ἦϑος, mit lang gesprochenem η = ēta). Ursprünglich bezeichnet ēthos so viel wie ›Wohnung‹, ›Wohnort‹, ›gewohnter Sitz‹, ›gewöhnlicher Aufenthalt‹. Darüber hinaus hat es zwei abstraktere Verwendungsweisen entwickelt, die insbesondere für philosophische Zusammenhänge maßgeblich sind: Zum einen bedeutet es ›Sitte‹, ›Gewohnheit‹, ›Brauch‹, also bestimmte kollektive Gepflogenheiten und Verhaltensweisen, die in einem Gemeinwesen etabliert sind. Zum anderen meint es ›Charakter‹, ›Denkweise‹, ›Sinnesart‹, d.h. gewisse individuelle Haltungen und Einstellungen, die man bei Einzelpersonen antrifft. Dabei ist in beiden Fällen keinerlei Wertung vorausgesetzt: Das ēthos einer Gruppe oder eines Menschen kann sowohl gut wie schlecht geartet sein oder auch als völlig wertneutral betrachtet werden.

Das Altgriechische kennt zudem das zugehörige Adjektiv ēthikos (ἠϑιϰóς). Auch dieses Adjektiv kann zunächst wertfrei verwendet werden und bedeutet dann ›die Sitten betreffend‹ oder ›den Charakter betreffend‹: Ein Problem oder eine Diskussion lässt sich in diesem Sinne als ēthikos bezeichnen, so wie man auch im Deutschen von einer ›ethischen Frage‹ oder einer ›ethischen Debatte‹ spricht. Überdies kann das Adjektiv aber auch eine positive Wertung zum Ausdruck bringen, im Sinne von ›gesittet‹ oder ›gut‹: Ein Verhalten oder eine Person als ēthikos zu bezeichnen, impliziert eine positive Beurteilung.

(2) Das deutsche Wort ›Moral‹ stammt vom lateinischen mos ab. Dabei stellt mos im Wesentlichen das lateinische Pendant zum griechischen ēthos dar: Nicht zuletzt übersetzen antike Autoren, die zwischen griechischer und lateinischer Kultur und Philosophie vermitteln, ēthos zumeist mit mos. Auch mos hat entsprechend zum einen eine kollektive Bedeutungsebene, auf der es ›Sitte‹, ›Gewohnheit‹, ›Brauch‹, oder auch ›Einrichtung‹, ›Verfahren‹, ›Mode‹ heißt. Zum anderen kennt es eine individuelle Verwendungsweise, in der es ›Charakter‹, ›Denkart‹, ›Gesinnung‹, oder auch ›Wesen‹, ›Wille‹, ›Eigenwille‹ bedeutet. Dabei gehen beide Ebenen, kollektive wie individuelle, wiederum mit keiner Wertung einher: Die mos eines Volkes oder einer Person kann richtig oder falsch beschaffen sein oder auch als gänzlich wertneutral eingeschätzt werden.

Auch im Lateinischen existiert ein korrespondierendes Adjektiv, nämlich moralis. Und einmal mehr hat dieses Adjektiv einerseits einen wertfreien Gebrauch, als ›die Sitten betreffend‹ oder ›den Charakter betreffend‹: Ein Problem oder eine Frage lässt sich mit Blick auf seine Natur bzw. ihren Gegenstand als moralis bezeichnen. Andererseits kann dieses Adjektiv auch mit einer positiven Wertung einhergehen, also ›sittlich‹ oder ›gut‹ heißen: Ein Verhalten oder eine Person als moralis zu bezeichnen, geht mit einem Lob einher, so wie auch im Deutschen die Wendungen ›moralische Handlung‹ oder ›moralischer Mensch‹ eine entsprechende Billigung zum Ausdruck bringen.

(3) Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass im Altgriechischen noch ein verwandtes Wort auftaucht, nämlich ethos (ἔϑος, mit kurz gesprochenem ε = epsilon). Die Bedeutung liegt sehr nah bei ēthos, indem ethos einmal mehr sowohl kollektive Sitten und Gebräuche als auch individuelle Gewohnheiten und Lebensweisen bezeichnet. Der Inhalt von ethos ist allerdings etwas enger, insofern es eher eine äußerliche Befolgung als eine tiefere Identifikation mit den gegebenen Sitten, eher eine angenommene Gewohnheit als eine bewusste Entwicklung des eigenen Charakters andeutet. Entsprechend wird, wenn es in klassischen Texten um moralische Fragen geht, zumeist das Wort ēthos mitsamt den abgeleiteten Gestalten verwendet (beispielsweise benutzt Aristoteles für die sittlichen Tugenden die griechische Bezeichnung aretai ēthikai [ARISTOTELES, NE, I.13, 1103a]).

In gewissem Umfang ist das altgriechische ēthos auch unmittelbar als Fremdwort in die lateinische Sprache eingeflossen. So kennt das Lateinische beispielsweise das Wort ethologus. Hierbei handelt es sich um ein lateinisches Fremdwort altgriechischen Ursprungs, das so viel wie ›Charakterdarsteller‹ oder auch ›Possenreißer‹ bedeutet. Grundsätzlich wird aber, wenn im philosophischen Latein ethische Diskussionen geführt werden, das Wort mos mit seinen verwandten Formen gebraucht (bei Thomas von Aquin etwa heißen die sittlichen Tugenden virtutes morales [THOMAS VON AQUIN, ST, I–II, Quaestio 58]).

Trotz leichter Nuancen im Bedeutungsspektrum sind somit das altgriechische ēthos und das lateinische mos, ebenso wie die zugehörigen Adjektive ēthikos und moralis, im Wesentlichen synonym. Im modernen deutschen Sprachgebrauch liegen die hiervon abgeleiteten Wörter ›Moral‹ bzw. ›Ethik‹ jedoch auf grundsätzlich verschiedenen Ebenen.

1.2Moderne Bedeutung von ›Moral‹

Sucht man nach einer kurzen und prägnanten Begriffsbestimmung von ›Moral‹, so ist die folgende Definition passend und aufschlussreich:

Definition ›Moral‹

Unter einer Moral versteht man ein Normensystem, dessen Gegenstand menschliches Verhalten ist und das einen Anspruch auf unbedingte Gültigkeit erhebt.

Eine ›Moral‹ ist also eine Sammlung von Maßstäben, Werten, Urteilen, die sich auf menschliche Haltungen, Aktionen, Verrichtungen beziehen und hierin eine strikte, bedingungslose, unbeschränkte Verbindlichkeit geltend machen. Eine Moral kann gruppenbezogene oder personspezifische Wertüberzeugungen für die private Lebensführung enthalten, aber auch gesellschaftsweite oder menschheitsumspannende Normvorschriften für das öffentliche Zusammenleben, sie kann als Basis für persönliche Billigung bzw. Missbilligung dienen, aber auch als Grundlage für gesetzliche Belohnung oder Bestrafung. Diese Worterklärung ist sicherlich nicht erschöpfend, aber sie gibt die wesentlichen Aspekte dessen wieder, was man heutzutage unter ›Moral‹ versteht. Insbesondere lassen sich an ihre drei Hauptkomponenten wichtige Erläuterungen zum Moralbegriff knüpfen.

(1) Offensichtlich gibt es eine Mehrzahl solcher Normensysteme, die menschliches Verhalten betreffen und dabei mit unbedingtem Anspruch auftreten. Entsprechend kann ›Moral‹ ohne Weiteres im Plural stehen: Es gibt verschiedene ›Moralen‹, beispielsweise in unterschiedlichen religiösen Texten (hinduistischen Werken, buddhistischen Schriften, den Zehn Geboten, der Bergpredigt, dem Koran etc.) oder in abweichenden kulturellen Formationen (die stoische Moral der Antike, die höfische Moral des Mittelalters, die humanistische Moral der Renaissance u.a.). Verschiedene ›Moralen‹ sind auch in unterschiedlichen politischen Strömungen wirksam (Liberalismus, Marxismus, Menschenrechtsdenken etc.) oder werden für bestimmte abgegrenzte Personengruppen formuliert (Ärzte, Wissenschaftler, Journalisten, Eltern, Lehrer u.a.). Sogar einzelne Menschen entwerfen mitunter besondere ›Moralen‹: Propheten, Künstler, Schriftsteller, Nonkonformisten und Revolutionäre haben dies immer wieder getan, und möglicherweise ist jeder moderne Mensch in pluralistischen Gesellschaften ein Stück weit aufgefordert, seine je eigene ›Moral‹ zu wählen und zu entwickeln.

Diese Pluralität der Moralen impliziert nicht unbedingt Streit: Manchmal werden ähnliche Grundüberzeugungen nur abweichend akzentuiert, ohne dass ernstere inhaltliche Differenzen vorlägen. Manchmal decken verschiedene Moralen allein unterschiedliche Handlungsbereiche ab, so dass ihre abweichenden Vorgaben einander nicht unmittelbar berühren (Differenzen in den Moralen für Ärzte, Journalisten oder Lehrer müssen nicht problematisch sein, solange niemand mehreren dieser Gruppen gleichzeitig angehört). Zuweilen aber kommt es zu Konflikten: Mitunter formulieren Moralen gegensätzliche Vorstellungen davon, was richtiges Verhalten ist. Und dabei betreffen ihre widerstreitenden Unbedingtheitsansprüche ein und denselben Handlungssektor, ohne sich auf verschiedene Personengruppen aufteilen zu lassen (es gibt widersprüchliche Einschätzungen dahingehend, was angemessenes Verhalten von Ärzten, von Journalisten oder von Lehrern wäre).

 

Bei alledem setzt der Begriff ›Moral‹ wiederum keine Wertung voraus: Bezeichnet man ein Normensystem im Sinne der obigen Definition als ›Moral‹, so heißt dies keineswegs, dass man selbst dieses System gutheißt. Man behauptet lediglich, dass dieses System seinerseits bestimmte Vorgaben für menschliches Verhalten formuliert und dabei unbedingte Gültigkeit für die entsprechenden Personen beansprucht. Es ist daher ohne Weiteres korrekt, etwa von einer ›Moral der Mafia‹ zu sprechen: Ganz sicher hat man es hier mit einem Verhaltenskodex zu tun, der Menschen mit einem Unbedingtheitsanspruch konfrontiert. Ganz sicher wird man aber davon ausgehen dürfen, dass dieser Kodex seinem Inhalt nach höchst verwerflich ist.

Auch das Adjektiv ›moralisch‹ kennt zunächst eine wertfreie Verwendung: In dieser besagt es ›aus den Vorgaben der Moral der betrachteten Person entspringend‹. So redet man etwa von moralischen Urteilen, Gründen, Überzeugungen, Bedenken etc., die eine Person hegen mag. Der Gegensatz hierzu wird durch das Adjektiv ›nichtmoralisch‹ zum Ausdruck gebracht: Dies kennzeichnet Stellungnahmen, Bevorzugungen oder Meinungen, die eben nicht moralischer, sondern etwa geschmacklicher oder künstlerischer Natur sind. In diesem Sinne kann man beispielsweise sagen: ›Dass Peter Pazifisten ablehnt, ist eine moralische Einstellung. Dass Peter Impressionisten ablehnt, ist eine nichtmoralische Einstellung.‹

Häufiger beim Adjektiv ›moralisch‹ ist allerdings die wertende Verwendung: Meistens wird es gebraucht im Sinne von ›aus Sicht der Moral der sprechenden Person richtig‹. Als moralisch bezeichnet man somit gemeinhin Verhaltensweisen, Charaktere, Entscheidungen, Zustände etc., die einem Normensystem korrespondieren, welches man selbst befürwortet, und die man entsprechend billigt, indem man sie mit diesem Wort belegt. Den Gegensatz hierzu bildet das Adjektiv ›unmoralisch‹: Es benennt Motive, Handlungen oder Folgen, die man als sittlich böse, verboten bzw. schlecht kennzeichnen will. In diesem Sinne könnte man etwa sagen: ›Dass Peter Pazifisten ablehnt, ist ein unmoralischer Standpunkt. Ein moralischer Standpunkt würde nahelegen, eine andere Haltung gegenüber Pazifisten einzunehmen.‹

Es ist somit durchaus sinnvoll zu sagen: ›Die Moral der Mafia ist höchst unmoralisch.‹ Denn mit ›Moral‹ bezeichnet man allein die Tatsache, dass bestimmte Menschen einem gewissen Normensystem folgen, während man erst durch ›unmoralisch‹ die Beurteilung hinzufügt, was man selbst von diesem Normensystem hält. Es ist sogar möglich zu sagen: ›Peters moralische Ansichten sind sehr unmoralische Ansichten.‹ Hier wird ›moralisch‹ wertfrei verwendet, um Peters Überzeugungen ihrer Art nach zu kennzeichnen, ›unmoralisch‹ hingegen wertend, um Peters Überzeugungen in ihrem Gehalt zu kritisieren.

(2) Moralen regeln menschliches Verhalten, und zwar in einem weiten Sinne, in all seinen Komponenten. Sie können spezielle Motivationen oder allgemeine Charaktere bewerten. Sie können einzelne Akte oder wiederholte Vollzüge erfassen. Sie können direkte Konsequenzen oder entferntere Wirkungen beurteilen.

Oftmals befassen sich Moralen mit äußerem Verhalten, von dem andere Personen betroffen sind als der Handelnde selbst. Dabei kann diese Betroffenheit sehr konkreter Art sein, als physische oder psychische Beförderung oder Beeinträchtigung. Sie kann aber auch eher abstrakter Natur sein, als expressive oder kommunikative Anerkennung oder Ausnutzung. Einige Moralen wählen indessen einen noch weiteren Objektbereich. Manche machen nicht nur äußeres Verhalten, sondern etwa auch bloße Gedanken oder Gefühle zu ihrem Gegenstand. Beispielsweise lehnen sie Hass oder Missgunst ab, auch wenn diese sich überhaupt nicht in greifbaren Aktionen niederschlagen. Andere Moralen kennen nicht allein Pflichten gegen andere, sondern auch Pflichten gegen sich selbst. Sie schreiben etwa die Steigerung des eigenen Wohls oder die Entwicklung eigener Talente vor, auch ohne dass sich hieraus Effekte für andere ergeben müssten.

Was Moralen definitiv nicht erfassen, sind Naturereignisse: Ein Vulkanausbruch oder eine Sturmflut mögen schlimm und bedauerlich sein. Aber sie sind nicht böse oder verwerflich. Böse oder verwerflich können sich erst Menschen in solchen Situationen verhalten, etwa wenn sie einander nicht warnen oder sich nicht gegenseitig helfen.

Ebenso fällt das Verhalten von Tieren nicht in den Bereich von Moralen: Selbst wenn Tiere teilweise beachtliche Problemlösungsfähigkeiten oder beeindruckendes Sozialverhalten aufweisen, kann man ihnen nicht sinnvoll Vorwürfe machen oder sie zur Rechenschaft ziehen. Sie werden gelegentlich erzogen, und dies zuweilen aus moralischen Gründen, etwa um Schädigungen von Menschen zu verhindern. Aber sie werden nicht belangt, im Namen der Moral, als könnte man sie ihrerseits unter moralischen Anspruch stellen.

Menschliches Verhalten gegenüber der Natur oder gegenüber Tieren kann freilich sehr wohl Gegenstand der Moral sein: Der Mensch mag der einzige Moraladressat, das einzige Moralsubjekt sein, aber er ist nicht unbedingt der einzige Moralgegenstand, das einzige Moralobjekt. Wahrscheinlich wird man dem Menschen, als einem vernünftigen und insbesondere moralfähigen Wesen, seinerseits besondere moralische Rechte einräumen. Aber andere Entitäten, als wohlgeordnete, lebendige oder empfindungsfähige Wesenheiten, könnten ebenfalls eine geeignete moralische Berücksichtigung erfordern.

Hinzu kommt, dass dieser besondere Status des Menschen nicht notwendig, sondern allein kontingent ist: Jedes Wesen, das moralische Forderungen als solche verstehen und ihnen in autonomer Selbstbestimmung folgen kann, ist ein moralisches Subjekt. Nach derzeitigem Kenntnisstand trifft dies von allen bekannten Entitäten allein auf Menschen zu. Aber wenn sich herausstellen sollte, dass andere Wesen die entsprechenden Fähigkeiten ebenfalls aufweisen, wären sie ebenso dem Kreis der Moralsubjekte zuzurechnen, mit allen Rechten und Pflichten, die dies mit sich bringen mag.

(3) Der Anspruch auf unbedingte Gültigkeit, mit dem Moralen einhergehen, besagt im Wesentlichen, dass sie sich in ihren Forderungen nicht von momentanen Zielsetzungen der betrachteten Person abhängig machen: Moralische Forderungen richten sich nicht danach, was man gegenwärtig wünscht, anstrebt, sich vornimmt oder angenehm findet. Moralische Forderungen treten der betrachteten Person mit dem Gestus des Unabweislichen entgegen: Man kann ihnen nicht entgehen, indem man erklärt, gewisse Pläne zur Zeit nicht verfolgen zu wollen.

Zwar kann es sein, dass eine Moral nur in einem bestimmten Lebensbereich relevant wird: Fürsorgepflichten für die eigenen Kinder etwa sind offenbar nur dann einschlägig, wenn man tatsächlich Vater oder Mutter ist (es gibt auch Hilfspflichten gegenüber fremden Kindern, doch sind diese von ganz anderer Art und haben ganz andere Inhalte). Aber sobald man einen solchen Lebensbereich einmal betreten hat, kann man die entsprechenden moralischen Forderungen nicht mehr abschütteln: Wenn man Vater bzw. Mutter ist, hat man bestimmte Verpflichtungen, denen man sich nicht ohne Weiteres entziehen kann (man kann sie bei völliger Überlastung abtreten, doch ist man dann zumindest zu gewissen Schritten verpflichtet, etwa eine ordentliche Adoption einzuleiten).

Dieser Unbedingtheitscharakter der Moral liegt insbesondere Kants berühmter Feststellung zugrunde, dass sich Moral nicht in hypothetischen Imperativen zum Ausdruck bringt, sondern in kategorischen Imperativen. Hypothetische Imperative sind solche, die abhängig von den Zielsetzungen des Handelnden sind. Sie haben die Form: ›Wenn du X willst, musst du Y tun‹ – wenn nicht, dann nicht. Kategorische Imperative hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unabhängig von den Zielsetzungen des Handelnden gelten. Sie haben die Gestalt: ›Du sollst Y tun‹ – ohne Wenn und Aber. Genau hierin tut sich der apodiktische Forderungscharakter von Moralen kund [KANT, GMS, AA 414–417].

Dieser Unterschied zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen muss nicht unmittelbar sprachlich erkennbar sein: Die Aufforderung ›Steigere deinen Umsatz!‹ ist sicherlich hypothetischer Art, obwohl die Bedingung nicht explizit genannt wird. Offenbar ist sie nur dann gültig, wenn man seine geschäftliche Situation verbessern will. Auch der Ratschlag ›Verdirb es dir nicht mit deinen Freunden!‹ dürfte hypothetisch intendiert sein. Ersichtlich setzt er voraus, dass der Angesprochene kein unglücklicher Einzelgänger werden will. Hingegen ist die Aufforderung ›Wenn du Familie hast, sorge für sie!‹ gewiss kategorischer Natur, obgleich hier eine Bedingung auftaucht. Denn diese benennt keinen Vorsatz, den man auch ablegen könnte, sondern eine Situation, in der man sich befindet und in der die fragliche Norm unbedingt gilt. Ebenso ist das Gebot ›Wenn du dich nicht versündigen willst, töte keinen Unschuldigen!‹ kategorisch gemeint. Denn auch hier bezeichnet der Wenn-Satz kein beliebiges Bestreben, von dem man sich ebenso gut frei machen könnte, sondern betont lediglich noch einmal, dass es um eine höchst moralische Frage geht.

Zudem können hypothetische und kategorische Normen vielfältig miteinander verkettet sein: ›Steigere deinen Umsatz!‹ ist, wie gesehen, zunächst ein hypothetischer Imperativ. Er ist nur gültig, sofern man seine Geschäfte verbessern will. Eben dies kann sich freilich als notwendiges Mittel erweisen, um seine Familie zu ernähren, gemäß der Vorschrift ›Wenn du Familie hast, sorge für sie!‹. Aufgrund dieser pragmatischen Verknüpfung könnte hinter der empfohlenen Umsatzsteigerung letztlich doch ein kategorischer Imperativ stehen.

Bei alledem geht es zunächst allein darum, dass Moralen solche Unbedingtheitsansprüche tatsächlich erheben. Es ist noch nicht die Rede davon, ob sie dies auch berechtigt tun. Dass ein Sprecher ein Verhalten als moralisch oder unmoralisch bezeichnet, lässt offen, ob er damit recht hat oder nicht. Es ist diese Frage, mit der sich nicht zuletzt die Ethik befasst, zumindest in einigen ihrer Bereiche.

1.3Moderne Bedeutung von ›Ethik‹

Auf der Grundlage des obigen Verständnisses von Moral lässt sich ›Ethik‹ nun sehr einfach definieren, zumindest mit Blick auf den deutschen Sprachgebrauch:

Definition ›Ethik‹

Ethik ist die Wissenschaft von der Moral, d.h. diejenige Fachdisziplin, die sich damit befasst, welche Moralen es gibt, welche Begründungen sich für sie angeben lassen und welcher Logik ihre Begriffe, Aussagen und Argumentationen folgen.

Ethik ist eine akademische Fachrichtung, die nicht zuletzt in der Philosophie beheimatet ist. ›Philosophische Ethik‹ und ›Moralphilosophie‹ sind daher äquivalente Begriffe. Ethik wird allerdings auch in anderen Fachbereichen betrieben, etwa als Moralpsychologie oder als Moralsoziologie. Auch in der Theologie ist sie zu finden, wobei sich ›Moraltheologie‹ genauer mit der Moralität des individuellen Handelns, ›Sozialethik‹ hingegen mit der Moralität kollektiver Institutionen befasst.