Opfer Patient

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Opfer Patient
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Dieter Wissgott

Opfer Patient

Medizin vor Gericht

Mit einem Geleitwort

von Gisela Friedrichsen


© 2013 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe

info@zuklampen.de · www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Stefan Hilden, München

www.hildendesign.de

Umschlagabbildung: © HildenDesign

Satz: thielenverlagsbuero, Hannover

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783866742420

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titelseite

Impressum

Geleitwort von Gisela Friedrichsen

Vorwort

Diagnosefehler

Die Ferndiagnose

Die geplatzte Hauptschlagader

Der nicht erkannte Herzinfarkt

Die nicht erkannte Hüftdysplasie

Der ignorante Schiffsarzt

Fehler beim Röntgen (I)

Fehler beim Röntgen (II)

Operationsfehler

Die verursachte Querschnittslähmung

Das eingenähte Gefäß

Der Rambo-Chirurg

Die vergessenen Bänder

Kosmetischer Fehlschlag

Das verdrehte Bein

Die verrenkte Prothese

Tinte in der Wirbelsäule

Vereiterung im Hüftgelenk

Sturz vom OP-Tisch

Informationsfehler

Die vergessene Krankendokumentation

Die lückenhafte Krankenakte

Kommunikationsdefizite

Der beurlaubte Patient

Gutachterfehler

Lähmung durch Operation

Verkeimung ohne Ende

Zehn goldene Regeln für Patienten

Der Autor

Geleitwort

Heinrich von Kleist schuf in Michael Kohlhaas eine Figur, die sprichwörtlich geworden ist für einen Menschen, dem so ungeheures Unrecht widerfahren ist, dass er darüber selbst zum Ungeheuer wurde. Kohlhaas, erst ein rechtschaffener Mann, der an Recht und Gerechtigkeit glaubte, geriet auf einen furchtbaren Weg, weil er von allen, an die er sich in Gutgläubigkeit und Gottvertrauen wandte, verraten wurde. Am Abgrund des Unrechts fand er dann nicht mehr zurück; seine von ihm verübten Verbrechen waren schließlich furchtbarer als die an ihm begangenen.

Wir alle sind vermutlich schon einmal jemandem begegnet, den wir einen Querulanten nannten, weil er, für uns unverständlich und scheinbar grundlos, gegen etwas oder jemanden aufbegehrte und dabei Maß und Ziel verlor. Doch wie niemand als Mörder geboren wird, so ist auch keiner von Geburt an ein notorischer Querulant. Jeder, der unser Empfinden in dieser Weise stört, hat etwas erleben müssen, das sein Gerechtigkeitsgefühl nachhaltig aus dem Lot gebracht hat.

In diesem Buch ist von Menschen die Rede, die nicht zum Kohlhaas wurden, obwohl mancher von ihnen Grund dazu gehabt hätte. Sie alle, deren tragisches Schicksal hier beschrieben wird, haben es tapfer, wenn auch oft in tiefster Verzweiflung, angenommen. Dieter Wissgott hat ihnen eine Stimme gegeben.

Dieses Buch handelt nicht nur von diesen Stimmen. Es ist ein Aufschrei. Weniger gegen die Kunstfehler und Nachlässigkeiten von Medizinern, die keine Halbgötter in Weiß sind, sondern irrtumsanfällige Menschen wie jedermann. Es ist jedoch ein Aufschrei gegen eine Justiz, die sich vom Streben nach Recht und Gerechtigkeit mehr und mehr verabschiedet. Der es leichter fällt, die Fehlentscheidungen anderer mit weiteren, eigenen Fehlentscheidungen zu überdecken, so, als müsse mit vereinten Kräften dem Opfer selbst die Schuld an seinem Unglück zugeschoben werden.

Ein Rechtsstaat, der sich seines Anspruchs würdig erweist, bringt keinen Kohlhaas hervor und auch keine Opfer auf Lebenszeit. Die in diesem Buch geschilderten Schicksale allerdings sprechen eine andere Sprache.

Gisela Friedrichsen

Vorwort

Tinte in der Wirbelsäule, Querschnittslähmung nach Herzoperation, Sturz vom OP-Tisch – es kann manchmal an surrealistische Alpträume grenzen, was sich unter der sachlichen Bezeichnung des »ärztlichen Kunstfehlers« verbirgt. Dies sind nur drei Fälle aus einer umfangreichen Sammlung von Arztfehlern und ihrer juristischen Aufarbeitung, die in meiner Anwaltspraxis über die Jahre hinweg entstanden ist. Es sind keine Alpträume, sondern Begebenheiten, die sich wirklich ereignet haben – Unglücksfälle, die zu Rechtsfällen wurden und die Gerichte beschäftigt haben. Leider nur selten mit glücklichem Ausgang für die Geschädigten.

Ich habe aus meiner Sammlung 23 dieser Fälle ausgewählt. Sie sollen dokumentieren, welche Hürden- und Hindernisläufe, welche psychischen Belastungen und erneuten Verletzungen damit verbunden sind, wenn man, mit einem weiteren Allgemeinbegriff, seine »Rechte als Patient« wahrnehmen will. Das Thema wird längst kontrovers diskutiert. Die Öffentlichkeit wurde durch Medienberichte und Talkshows sensibilisiert. Die Politik hat ein neues Gesetz formuliert, das selbst wieder für Diskussionsbedarf sorgt. Ich habe in meiner Fallsammlung eine Reihe von Defiziten nicht nur im medizinischen, sondern auch im juristischen Bereich festgestellt, die sich immer wieder antreffen lassen. Sie sollten in dieser Diskussion berücksichtigt werden.

Das Buch richtet sich nicht gegen die Ärzteschaft, auch wenn es in manchen Teilen polemisch wirkt. Das liegt an den häufig empörenden Fällen. Ärztliche Kunstfehler sind selten, sie haben aber oft tragische Folgen. Ärzte sind, wie man sagt, »Halbgötter in Weiß«. Sie mögen deshalb unfehlbar sein. Aber eben nur halbwegs. Behandlungsfehler sind nie ganz zu vermeiden. Die hier dokumentierten Fälle machen allerdings deutlich, dass dabei nicht nur unverständliche Nachlässigkeit, sondern sogar Ignoranz mit im Spiel sein kann. Sie decken auch Fehler in den Strukturen auf, etwa die Behandlungsmisere an Sonn- und Feiertagen, die fehlende Kommunikation und Koordination, selbst in überschaubaren Kreiskrankenhäusern, oder die kaum bekannte Tatsache, dass Ärzte keine Berufshaftpflichtversicherung abschließen müssen – Fehler, die sich sehr wohl vermeiden ließen, wenn Politik und Berufsverbände dazu bereit wären, aus ihnen zu lernen.

Das Buch wendet sich genauso wenig gegen die Richterschaft, auch wenn manche der dokumentierten Urteile kaum weniger skandalös sind. Es kann aber auf Probleme in den juristischen Prozeduren aufmerksam machen, die sich zum Nachteil der Geschädigten auswirken. »Ärztepfusch« mag nie ganz zu vermeiden sein. Es wäre aber durchaus zu vermeiden, dass Richter ihre Kompetenz, über solche Fälle zu urteilen, mechanisch an ärztliche Sachverständige abgeben. Und dass deren Auswahl nach dubiosen Kriterien erfolgt, so dass manchmal der Bock zum Gärtner wird. Oder dass der Ablauf des Verfahrens dafür sorgt, dass das körperliche Leiden der Betroffenen zum seelischen wird.

Einige Lehren, die Patienten aus den dokumentierten Fällen entnehmen können, wenn sie sich zu einer Operation entschließen oder glauben, Opfer eines Kunstfehlers zu sein, habe ich am Schluss des Buches in Gestalt von »Zehn goldenen Regeln« formuliert.

 

Für die Geschädigten beginnen die Probleme in fast allen Fällen mit der Arroganz der Ärzte, ihrer beanspruchten Unfehlbarkeit. Unterstützt wird diese Haltung in unheiliger Allianz von den Berufshaftpflichtversicherern und – bei kommunalen Krankenhäusern – von kommunalen Versicherungseinrichtungen. Hier sind vielfach sogenannte Gesellschaftsärzte tätig, bei denen es sich zumeist um Ruheständler handelt. Sie können schon aus Altersgründen nicht mehr auf dem Stand der Wissenschaft sein und stärken oft die Argumentation der Versicherung – nach dem Motto: »Wes’ Brot ich ess, des’ Lied ich sing.«

Wer sich nicht einschüchtern lässt, ist mit der Aussicht auf einen jahrelangen Prozess konfrontiert. Der geschädigte Patient muss nicht nur Geduld haben, sondern auch Kraft – und eine Rechtsschutzversicherung. Wenn er die erheblichen Kosten für das Verfahren nicht aufbringen kann, hat er die Möglichkeit, eine staatliche Prozesskostenhilfe zu beantragen. Er muss aber darüber aufgeklärt werden, dass er trotzdem die Kosten für den Gegenanwalt aufbringen muss, wenn der Prozess verloren geht.

Die Richterschaft ist über Arzthaftpflichtprozesse nicht glücklich. Die Verfahren sind langwierig, schwierig und keineswegs immer von Verständnis für den geschädigten Patienten getragen. Zur Abkürzung solcher Verfahren hat der Gesetzgeber in die Zivilprozessordnung nachträglich eine Bestimmung eingeführt, die dem Gericht die Möglichkeit gibt, vorab das Gutachten eines medizinischen Sachverständigen einzuholen. Dieser soll den Streitstoff auf die nach seiner Auffassung wesentlichen Punkte fokussieren.

Der Sachverständige geht dabei, ohne Vernehmung von Zeugen, von der Richtigkeit der Eintragungen in der Patientenakte aus. Dabei wird nicht ausreichend bedacht, dass hier – was leider nicht selten ist – Aufzeichnungen fehlen können oder vielleicht so verfasst wurden, dass fehlerhafte Diagnosen oder Therapieleistungen nicht unbedingt zu erkennen sind. Wenn zum Beispiel eine beginnende Infektion nicht oder nicht rechtzeitig erkannt und therapiert wurde, in der Dokumentation aber eingetragen ist, dass der Stationsarzt den Wundbereich angesehen hat, geht der Sachverständige in der Regel davon aus, dass kein Diagnose- oder Behandlungsfehler vorliegt – weil er ja sonst dokumentiert worden wäre.

Solche Zirkelschlüsse scheinen für das Gericht häufig so zwingend zu sein, dass es sich durch später vernommene Zeugen kaum noch vom Gegenteil überzeugen lässt. Auch die formale Widerspruchsfreiheit des Gutachtens wird in manchen Urteilsbegründungen als Beweis für seine Richtigkeit angeführt. Die zur Abkürzung der Prozesse geschaffene Prozessbestimmung vorheriger Gutachtenerstattung erweist sich dann als nachteilig für den Geschädigten.

Ebenso fatal ist die häufige Praxis der Gerichte, die Bestimmung des medizinischen Sachverständigen den Ärztekammern der betreffenden Bundesländer zu überlassen. Die Ärztekammern verfügen über eine Liste von Sachverständigen mit den jeweiligen Fachgebieten. Die Auswahl trifft aber der bei den Kammern tätige Geschäftsführer, der zumeist als Jurist mit Verwaltungsaufgaben befasst ist. Jeder Richter könnte sich die entsprechende Kompetenz leicht selbst verschaffen, wenn er die einschlägigen Veröffentlichungen im Internet konsultiert. Er findet dort schnell eine Liste von Sachverständigen aus anderen Bundesländern – auf die er eigentlich zurückgreifen müsste, um eine regionale Nähe und persönliche Bekanntschaft unter Fachärzten zu vermeiden. Die Ärztekammern sind aber auf Länderebene organisiert und überschreiten selten ihre örtliche Zuständigkeit.

Es wäre also sinnvoll, dass jede Beauftragung eines Sachverständigen mit einem Fragenkatalog zu persönlichen und fachlichen Kontakten zu Arztkollegen gleicher Fachrichtung verbunden wird, bevor der Auftrag erteilt wird.

Ist schließlich ein Sachverständiger ausgewählt, dann muss der geschädigte Patient oft die Erfahrung machen, dass die vorgelegten Gutachten selten eine kritische Distanz zur Patientenakte erkennen lassen. Die berühmte Krähe, die der anderen kein Auge aushackt, ist – zurückhaltend formuliert – dem Oberlandesgericht Celle in einer Entscheidung von Oktober 1976 aufgefallen. Der Leitsatz lautet:

»Das Oberlandesgericht Celle hat in seinem Spezialsenat für Arzthaftpflichtsachen die Erfahrung sammeln müssen, dass Mediziner die Fehler, die in ihrem Fachgebiet anzutreffen sind, in Publikationen offener und objektiver beschreiben als in gutachterlichen Äußerungen, die sie im Haftungsprozess gegen ihre Standesgenossen abgeben und in denen sie sich nicht selten von kollegialer Rücksichtnahme leiten lassen.«

Man sollte dem Patienten also die Möglichkeit geben, die Zweitmeinung eines anderen Sachverständigen einzuholen. Das ist momentan nur unter fast unerfüllbaren Voraussetzungen zu erreichen – nur dann nämlich, wenn das Gericht das erstattete Gutachten für ungenügend erachtet. Um ein variables und wissenschaftlich ausgereiftes Gutachten zu gewährleisten, müssen sich medizinische Sachverständige zu Lehrmeinungen und deren Grenzen erklären und diese kontrovers diskutieren.

Schließlich ist auch die Höhe der zuerkannten Schmerzensgelder zu überdenken. Das Schmerzensgeld wird nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch als »billige Entschädigung in Geld« verstanden. Es soll »alle Umstände berücksichtigen, die dem Schadensfall sein Gepräge geben«. Zuletzt wurde es am 6. Juli 1955 höchstrichterlich vom Bundesgerichtshof bestätigt, ist also inzwischen 57 Jahre alt. Es geht aber nicht an, für den Verlust eines Auges 25.000 Euro zuzubilligen oder die Amputation eines Oberschenkels mit 40.000 Euro zu bewerten, wenn der Fürstin von Monaco weitaus höhere Beträge für mediale Indiskretionen zuerkannt oder – wie kürzlich geschehen – einem Kindsmörder eine Entschädigung von 3.000 Euro zugebilligt wird, weil ihm während laufender Ermittlungen zehn Minuten lang eine menschenrechtswidrige Behandlung angedroht wurde, um sein Opfer zu retten.

Natürlich müssen keine amerikanischen Verhältnisse in die Rechtsprechung Einzug halten. Die Gerichte setzen sich aber zu wenig mit dem Ausmaß des Verlusts an Lebensqualität auseinander – wobei man auch vielen Anwälten empfehlen muss, diese Umstände detaillierter vorzutragen.

Medizinisch und juristisch greifen der Arztfehler und der anschließende Prozess tief in das Leben der Betroffenen ein. Ärzte und Juristen sind bei der Bewältigung dieser Beeinträchtigungen zu humanem und sozialem Engagement aufgerufen. Ebenso verdienen vorsichtige Überlegungen des Gesetzgebers Unterstützung, die zusätzliche Entschädigungen für nahe Angehörige empfehlen. Die Angehörigen sind von den teils gravierenden und dauerhaften Folgen eines Arztfehlers in gleicher Weise betroffen wie der Patient selbst.

Vielleicht setzt die Veröffentlichung dieser Fallsammlung eine Diskussion in Gang, die nicht nur für die Patienten, sondern auch für beide beteiligte Berufsgruppen von Nutzen sein kann. Vielleicht sieht sich dann auch der Gesetzgeber dazu veranlasst, nach dem Vorbild des Sozialgesetzbuchs ein »Medizingesetzbuch« zu konzipieren, das den berechtigten Interessen der geschädigten Patienten Rechnung trägt. Dazu gehört auch eine Neugestaltung der Prozessvorschriften.

Das neue Patientenrechtegesetz ist nur ein bescheidener Anfang auf diesem Weg. Es tut im Grunde nicht mehr, als die gefestigte Rechtsprechung teilweise zu kodifizieren.

Die ausgewählte Fallsammlung stellt einen repräsentativen Querschnitt aus dem Alltag eines Medizinrechtlers dar. Es versteht sich, dass die Namen der beteiligten Ärzte, Gerichte und Geschädigten abgekürzt und anonymisiert wurden. Zum Nachweis der Authentizität kann auf Verlangen das jeweilige Aktenzeichen der Gerichte angegeben werden. Hier kann jeder bei berechtigtem Interesse Einsicht in die Gerichtsakten beantragen und sich über Einzelheiten informieren.

Diagnosefehler

Die Ferndiagnose

Der kaufmännische Angestellte Fritz W. war viele Jahre lang an verantwortlicher Stelle im Verkauf einer Sanitär- und Heizungsfirma im Raum Hannover tätig. Ein anhaltendes Wirbelsäulenleiden zwang ihn mit 48 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand.

Seit Weihnachten 1992 litt Fritz W. an einem grippalen Infekt. In der Nacht vor Silvester weckte er gegen zwei Uhr morgens seine Ehefrau, die sich noch sehr genau an die nun folgenden Ereignisse erinnert. Er berichtete ihr von massiver Atemnot. Fritz W. war aufgestanden und hatte sich als eine Art Selbsthilfemaßnahme mit ausgestreckten Armen an die Wand des Schlafzimmers gestellt. Seine Frau sah, wie er nach Luft rang. Sie fragte, ob sie nicht den Hausarzt anrufen solle. Fritz W. lehnte zunächst ab und verlangte nach ihren Asthmatabletten (die Ehefrau litt unter Asthma bronchiale). Sie gab ihm die Tabletten, rief aber trotzdem den Hausarzt an. Der Anrufbeantworter teilte ihr mit, dass sich Dr. E. in Urlaub befand. Gleichzeitig wurde auf dem Band der ortsansässige Dr. St. als Bereitschaftsarzt genannt.

Gegen 2.15 Uhr rief Frau W. diesen Arzt an und schilderte ihm den Zustand des Ehemanns. Sie bat ihn um einen Hausbesuch, weil er unter akuter Atemnot litt und sie Angst habe, er könne ersticken. »Nun mal langsam«, erwiderte Dr. St., »so schnell erstickt man nicht.« Ein Hausbesuch sei wohl nicht erforderlich. Herr W. solle sich auf die Arme aufstützen und langsam tief durchatmen.

»Mein Mann hat das schon gemacht. Wir kennen diese Übung, weil ich selbst unter Asthma bronchiale leide. Trotzdem ist es nicht besser geworden.«

Fritz W. war auf den Flur gegangen und hatte sich auf das Treppengeländer gestützt, wobei er weiter nach Luft rang. Auch das berichtete Frau W. dem Arzt. Er bat sie, den Puls fühlen. Sie versuchte es, erklärte aber dann, sie könne nichts feststellen, vielleicht auch wegen der Anspannung. Dr. St. bat sie, den Herzschlag zu fühlen und ihm zu berichten, ob das Herz auffallend schnell schlägt. Frau W. berichtete, sie sei sich nicht sicher: »Manchmal fühle ich den Herzschlag und manchmal nicht. Ich weiß auch nicht.«

Dr. St. fragte, welche ihrer eigenen Medikamente sie dem Ehemann schon gegeben habe. Er war mit der Antwort zufrieden. »Nun warten Sie mal ab. Schließlich müssen die Medikamente erst einmal wirken. Rufen Sie mich in einer Stunde wieder an.« Frau W. insistierte. Sie habe ihrem Mann auch einen Stoß Aerosol Allergospasmol (Medikament gegen Asthma bronchiale) verabreicht, ohne dass sich eine Besserung eingestellt habe.

Dr. St. ließ sich nicht erweichen. Sie solle die Wirkung der Tabletten abwarten.

Man muss an dieser Stelle einfügen, dass der Wohnort des Patienten von der Praxis des Bereitschaftsarztes drei Kilometer entfernt war. Dr. St. hätte binnen weniger Minuten eintreffen können.

Wichtig ist auch, dass Dr. St. die Eheleute W. nicht kannte. Er war nicht ihr Hausarzt. Trotzdem hat er keine Fragen nach etwaigen Vorerkrankungen oder Vorbefunden gestellt.

Gegen drei Uhr rief Frau W. erneut an, weil sich der Zustand des Ehemanns nach ihrem Eindruck verschlechtert hatte. Er rang immer stärker nach Luft, was sie dem Arzt eindringlich schilderte, mit der erneuten Bitte um den bislang abgelehnten Hausbesuch. Dr. St. erklärte, sie solle den Patienten ins Auto setzen und in seine Praxis bringen.

Frau W. versuchte es. Sie bat den Ehemann, langsam die Treppen hinunterzugehen bis zur Garage. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. »Es geht nicht mehr«, keuchte er. »Ich kriege keine Luft. Siehst Du das nicht? Ich kann gar nicht mehr gehen!« Fritz W. lehnte sich mehrfach mit erhobenen Armen an den Wänden im Treppenflur an und rang laut röchelnd nach Luft.

Frau W. rannte zum Telefon. Sie flehte den Bereitschaftsarzt regelrecht an, sofort zu kommen, ihr Ehemann würde ersticken. Als der Arzt den Besuch zum dritten Mal ablehnte, schrie sie ihn an: »Was sind Sie denn für ein Arzt? Wer hat Sie denn zum Bereitschaftsdienst eingeteilt? Wenn Sie nicht kommen, geben Sie mir doch das Rote Kreuz, oder ich rufe die Polizei!«

Frau W. war zum damaligen Zeitpunkt Chefsekretärin des Sparkassendirektors, also an beherzte Auftritte gewöhnt. Dr. St. blieb hart. Er wies die lästige Anruferin mit dem Hinweis zurecht, dass er bei dem telefonisch geschilderten Befund vermutlich eine Infusion verabreichen müsse. Das ginge nur in seinen Praxisräumen. Frau W. solle notfalls ein Taxi bestellen.

Als sie erklärte, dass ihr Ehemann nicht mehr allein und auch nicht mit ihrer Unterstützung in ein Taxi einsteigen könne, gab Dr. St. zur Antwort, sie müsse dann eben einen Krankenwagen rufen.

 

In ihrer Not rief Frau W. eine Nummer des Roten Kreuzes an, die sie sich vom Anrufbeantworter ihres Hausarztes notiert hatte. Die Rettungswache des DRK und auch die Krankenwagen waren im örtlichen Kreiskrankenhaus stationiert. Der Rettungssanitäter, der den Anruf entgegennahm, erklärte ihr, dass der Rettungsdienst für solche Transporte »nicht zuständig« sei. Sie müssten von einem Arzt angeordnet werden. Sie solle den Bereitschaftsarzt wieder anrufen, damit dieser den Transport anordnen könne.

Frau W. rief zum vierten Mal bei Dr. St. an. Sie bat ihn darum, wegen der nunmehr äußersten Dringlichkeit selbst beim Rettungsdienst anzurufen und den Krankentransport anzuordnen. Das sagte der Arzt auch zu.

Fritz W. litt inzwischen unter massiven Schweißausbrüchen. Er wurde im Gesicht immer blasser. Die Ehefrau legte ihm ein nasses Handtuch auf die Knie. So hatte sie es für ihre eigenen Asthmaanfälle gelernt.

Da immer mehr Zeit verging, rief Frau W. gegen 03.35 Uhr erneut bei der Rettungswache an. Überraschend wurde ihr erklärt, dass kein Arzt sich gemeldet habe.

Voller Zorn und in panischer Angst rief sie zum fünften Mal bei Dr. St. an. Nun meldete sich dessen Ehefrau. Ihr Mann habe sich leider nicht den Namen und die Anschrift notiert. Er könne der Rettungswache deshalb nicht sagen, wo sie den Wagen hinschicken soll.

Frau W. war völlig aus dem Häuschen. Sie teilte der Arztgattin die Anschrift mit und drohte an, dass die Sache ein Nachspiel haben werde.

Es war schließlich 4.43 Uhr geworden (Notiz in der Rettungswache), als Dr. St. den Rettungsdienst anrief. Seit dem ersten Anruf von Frau W. beim Bereitschaftsarzt waren also mehr als zweieinhalb Stunden vergangen, ohne dass dem Patienten irgendeine Hilfe zuteil geworden war.

Der Rettungswagen fuhr um 4.50 Uhr los und traf kurz darauf ein. Einer der Sanitäter wunderte sich bereits bei der Anfahrt über die ungewöhnliche Anweisung, einen Patienten nachts in die Praxis des Bereitschaftsarztes zu fahren, zumal die Transportstrecke am Kreiskrankenhaus vorbeiführte.

Als die Sanitäter eintrafen, fanden sie den Patienten nach Luft schnappend in einem Sessel. Sie holten eine Trage und kehrten ins Haus zurück, wo ihnen Fritz W. entgegentaumelte. Er wurde mit Sauerstoff versorgt. Wegen seines besorgniserregenden Zustands sahen sich die Sanitäter dazu veranlasst, ihn direkt ins Kreiskrankenhaus zu fahren.

Frau W. fuhr mit. Ihr Mann konnte kaum sprechen, er fragte stockend: »Wie lange dauert das denn noch?« Frau W. versuchte ihn durch ständiges Streicheln zu beruhigen. Sie wusste nicht, dass dies seine letzten Worte gewesen waren.

Das Krankenhaus wurde von den Rettungssanitätern während der Anfahrt telefonisch unterrichtet. Der Wagen hielt vor dem Patienteneingang. Fritz W. wurde von der Sauerstoffzufuhr abgeklemmt und in den Haupteingang gerollt. Hier vergingen mehrere Minuten, bis eine Ärztin auftauchte. Sie nahm Fritz W. auf der Bahre mit in den Lift, um ihn in den nächsten Stock zu fahren.

Es vergingen mindestens dreißig bis vierzig Minuten, in denen Frau W. im Warteraum saß. Schließlich kam ein Arzt und erklärte in etwa wörtlich: »Frau W., Ihr Mann ist jetzt reanimiert, aber wir können nichts weiter sagen. Sie müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Morgen sehen wir weiter. Sobald wir etwas wissen, werden Sie benachrichtigt.«

Im Aufnahmebefund des Krankenhauses wird hervorgehoben, dass der Patient in einem lebensbedrohlichen Zustand eingeliefert wurde, mit tief zyanotischer (blau gefärbter) Haut und Schleimhäuten ohne Reaktion auf Licht. Ein sicheres Atemgeräusch war über beide Lungen nicht mehr festzustellen. Puls und Blutdruck waren nicht sicher messbar, die Fußpulse beidseits nicht zu ertasten. Der Patient war nicht ansprechbar und Muskeleigenreflexe waren nicht auslösbar. Es erfolgte eine sofortige Intubation und Beatmung mit allmählicher Anhebung des Blutdrucks.

Auf Deutsch: Der Patient befand sich bei der Einlieferung in akuter Lebensgefahr. Es stellte sich schließlich ein sogenanntes apallisches Syndrom (Hirnstarre) ein, weil aufgrund des anhaltenden Sauerstoffmangels Teile des Großhirns abgestorben waren. Fritz W. ist aus diesem Zustand nicht mehr erwacht.

Seine Ehefrau hat ihn wochen- und monatelang besucht, indem sie in ihren Arbeitspausen und nach Dienstschluss von der Kreissparkasse zum nahegelegenen Krankenhaus fuhr – immer in der Hoffnung auf ein Wiedererwachen, immer mit den Worten: »Hallo Fritz, ich bin wieder da. Erkennst Du mich?« Sie war lange davon überzeugt, dass er bei dieser Begrüßung die Augen bewegte und für einen Moment aufschlug. Sie sprach mit ihm, erzählte ihm Geschichten, zum Beispiel von Minko, seinem Lieblingskater, und berichtet den Ärzten und Schwestern von den Reaktionen, die sie an ihm wahrnahm.

Das Personal nahm diese Berichte freundlich, aber ohne nachfolgende Therapieversuche zur Kenntnis. Gelegentlich gaben Ärzte ihr zu verstehen, dass die von ihr festgestellten Reaktionen ihrem Wunschdenken entsprächen.

So verging ein halbes Jahr. Die Ärzte kamen zu dem Entschluss, den Patienten in ein Schwerstpflegeheim zu verlegen. Frau W. wurde durch den Pflegedienstleiter davon in Kenntnis gesetzt. Es war ihr 33. Hochzeitstag. Sie hatte einen Blumenstrauß mitgebracht. Die Krankenschwester nahm ihn ihr ab mit dem Worten: »Jetzt ist Feierabend, der Mann muss raus.«

Für kurze Zeit keimte dann neue Hoffnung auf. Die Leiterin einer Spezial-Rehaklinik erschien und erklärte, sie wolle eine Therapie mit Wassergymnastik versuchen, um stärkere Reaktionen auszulösen. Frau W. klammerte sich an diesen Strohhalm. Doch zu der Verlegung kam es nicht mehr, weil ihr Mann am 7. August 1993 verstarb.

Der Fall W. wirbelte in der niedersächsischen Kleinstadt viel Staub auf. Die Verweigerung der dringend gebotenen Versorgung durch den Bereitschaftsarzt sprach sich herum, zumal Fritz W. ein bekannter Mitarbeiter einer ebenso renommierten Sanitär- und Heizungsfirma war und seine Frau als »rechte Hand« des Sparkassendirektors galt. So blieb der Fall straf- und zivilrechtlich nicht ohne Folgen.

Das zuständige Schöffengericht hat in einem mehrtägigen und von starken Emotionen getragenen Strafverfahren den Bereitschaftsarzt Dr. St. wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Das Gericht zog mit dieser Entscheidung die Konsequenz aus zwei eingeholten medizinischen Gutachten. Insbesondere ein renommierter Rechtsmediziner hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass die über Stunden anhaltende und zunehmende Atemnot zu einem Herzversagen führte, in dessen Folge eine Unterversorgung des Hirns mit Sauerstoff eintrat. Bei rechtzeitiger Einlieferung ins Krankenhaus wäre die spätere Hirnstarre vermieden worden. Für eine solche adäquate Versorgung stand nach Überzeugung des Rechtsmediziners ausreichend Zeit zur Verfügung.

Das Gericht hat in seinem Urteil unter anderem festgestellt:

»Das Verhalten des Angeklagten in jener Nacht ist nicht mit einem einmaligen Ausrutscher eines Autofahrers zu vergleichen, der eine Sekunde nicht aufgepasst und hierdurch einen anderen Menschen getötet hat. Der Angeklagte hatte hier circa. zwei Stunden Zeit, sich zu dem um Luft ringenden Patienten zu begeben und es innerhalb dieser Zeit nicht einmal für nötig befunden, sich nach der Anschrift zu erkundigen. Das Verhalten des Angeklagten liegt an der Grenze zum Totschlag, und das Gericht sieht es als eine Dummheit des Angeklagten an, die Gefahrenlage nicht erkannt zu haben. Anderenfalls hätte er wegen vorsätzlichen Totschlages zur Rechenschaft gezogen werden müssen.«

Der Arzt ging in Berufung. Das Urteil wurde zunächst in eine Geldstrafe von 16.000 DM umgewandelt und schließlich wegen Verfahrensfehler gegen Zahlung einer hohen Geldbuße, unter anderem in Höhe von 18.500 DM an die Witwe, eingestellt. Gleichzeitig wurden der Arzt und die hinter ihm stehende Haftpflichtversicherung auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Im Rahmen dieses Zivilprozesses hat Irmgard W. auf dem Wege des Vergleichs 45.000 DM erhalten.

Eine Befragung von Irmgard W. im Jahre 2012, zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Mannes, hat gezeigt, wieviel Bitterkeit aus dem Verfahren zurückgeblieben ist.

Die stundenlange Weigerung des Arztes, den erbetenen Hausbesuch durchzuführen, hat die Familie zerstört und Frau W. trotz der Entschädigung in finanzielle Bedrängnis gebracht. Die Ehe war kinderlos. Frau W. hatte unmittelbar vor den tragischen Ereignissen das von ihren Eltern ererbte Wohnhaus saniert und umgebaut. Die aufgenommenen Baudarlehen konnten mit der im Zivilprozess erstrittenen Entschädigung teilweise getilgt werden. Frau W. hatte aber auch den behindertengerechten Umbau des Erdgeschosses in Auftrag gegeben, weil sie davon ausging, dass ihr Mann auf den Rollstuhl angewiesen sein würde. Die dadurch entstanden Kosten konnte sie nicht mehr zügig abtragen, weil sich der Rentenanspruch nach dem Tod des Ehemanns reduzierte.

Das Wohnhaus ist inzwischen sanierungsbedürftig. Eine neue Kanalisation muss verlegt werden, am Dach stehen Reparaturarbeiten an. Das alles muss Frau W. von den Renteneinkommen finanzieren, das sie inzwischen erhält. »Ich frage mich immer wieder, welchen Sinn das alles noch hat. Mein Mann ist jetzt zwanzig Jahre tot, Kinder haben wir nicht. Was ich mit aller Kraft noch zur Sanierung in das Haus stecke, kommt eines Tages unter den Hammer. Ich kann mir kaum etwas leisten und habe seit zwanzig Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Ich gehe nirgendwo hin und warte nur darauf, dass ich eines Tages erlöst werde. Mein Leben hat seit dem Tod meines Mannes keinen Sinn mehr. Wir haben uns so auf den gemeinsamen Lebensabend gefreut. Das ist alles vorbei. Alles das können weder die Bestrafung des Arztes noch der Schadensersatz wiedergutmachen.«

Folgen dieser Art werden im Gedanken des Schadensersatzes nicht angemessen berücksichtigt. Man sollte die üblichen Parameter überdenken.