Europäische Urbanisierung (1000-2000)

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Europäische Urbanisierung (1000-2000)
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Dieter Schott

Europäische

Urbanisierung

(1000–2000)

Eine umwelthistorische Einführung

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2014

Dieter Schott ist Professor für Neuere Geschichte mit einem Schwerpunkt in der Stadt- und Umweltgeschichte an der TU Darmstadt.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes

ist unzulässig.

Korrektorat: Ulrike Burgi, Köln

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in the EU

UTB-Band-Nr. 4025 | ISBN 978-3-8252-4025-7 (ePub)

Über diese eBook

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Über dieses eBook

Vorwort

1 Einführung: Fragen an eine Umweltgeschichte europäischer Städte

1.1 Die Stadt als gebaute Entität

1.2 Das Vorgehen

2 Kontinuität oder Neubeginn: Städte im Frühmittelalter

2.1 Römerstädte: Das Problem der Kontinuität

2.2 Wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen

2.3 Wege zur mittelalterlichen Stadt

2.4 Kerne frühmittelalterlicher Stadtentwicklungen: Von der „Burg“ zur „Stadt“

3 Die Herausbildung der europäischen Städtelandschaft im Mittelalter

3.1 Stadtblüte im Hochmittelalter (1100–1300)

3.1.1 Wirtschaftliche und demografische Veränderungen 11. – 14. Jh.

3.1.2 Von der Stadt zur Kommune: Der Emanzipationsprozess der Städter

3.1.3 Stadtgründung als Investition und Landesentwicklung

3.2 Städte im Netz: Die europäische Städtelandschaft

3.2.1 Das Städtesystem im Überblick

3.2.2 Modelle zur Erklärung des europäischen Städtesystems

4 Stadt-Umland-Hinterland: Die Versorgungskreise der mittelalterlichen Stadt

4.1 Das Umland ernährt die Stadt, aber wo ist das Umland?

4.2 Die mittelalterliche Stadt und der Wald

4.2.1 Die Veränderung des Waldes im Zuge des Landesausbaus

4.2.2 Anfänge einer Waldschutz-Politik

4.2.3 Die Substitution von lokalen Waldbeständen

4.3 Getreideversorgung

4.4 Die Fleischversorgung der Stadt

4.5 Stadt – Umland – Territorium

4.6 Das Verlagssystem: Arbeitsressourcen des Hinterlands mobilisieren

5 Der Schwarze Tod: Bevölkerungseinbruch und Umweltkrise im Spätmittelalter

5.1 Klima und Tragfähigkeit: Die Rahmenbedingungen

5.2 Der Schwarze Tod kommt nach Europa

5.2.1 Ausbruch und Ausbreitung

5.2.2 Die Folgen der Pest

5.3 Der Raum der Stadt

5.3.1 Das Umland der Stadt

5.3.2 Vor den Toren: Die Stadt als Festung

5.3.3 Häuser und Haustypen

5.3.4 Die spätmittelalterliche Stadt als Soziallandschaft

5.3.5 Die Stadt als Wirtschaftsraum

5.4 Stadt – Wasser – Abfall

 

5.4.1 Ziehbrunnen – Rückgrat städtischer Wasserversorgung

5.4.2 Wasserkünste – Laufbrunnen

5.4.3 Mediterrane Wasserpolitik: Die (knappen) Wasser von Siena

5.4.4 Abwasser und Abfall

6 Die Stadt an der Schwelle zur Neuzeit

6.1 Ein neuer Aufschwung nach 1470

6.2 Die Entdeckungen und die Entstehung der Weltwirtschaft

6.3 Renaissance und Reformation: Aufbrüche zu neuen geistigen Welten?

6.3.1 Die Renaissance

6.3.2 Die Reformation: Stadt und Religion in der frühen Neuzeit

6.4 Augsburg: Ökonomische Hauptstadt des Alten Reiches

6.5 Antwerpen – Amsterdam: Schaltzentren der neuen Weltwirtschaft

6.5.1 Antwerpen: Die kurze Blüte einer Weltstadt

6.5.2 Amsterdam: Weltstadt aus dem Sumpf

7 Die neue Dominanz der Hauptstädte nach 1500

7.1 Die Städte und der Staat

7.2 London: Die Metropole überformt das Land

7.2.1 Lage und Pole der Stadtentwicklung

7.2.2 Wachstumskräfte: Die Attraktivität der Hauptstadt

7.2.3 Soziale Topografie und bauliche Gestalt Londons

7.2.4 London und sein wirtschaftliches Hinterland

7.2.5 London als Handels- und Gewerbezentrum

7.2.6 Der energetische Stoffwechsel Londons: Die erste fossile Stadt Europas

7.2.7 Die Resilienz Londons: Pest und Feuer – der Doppelschlag von 1665/66

7.3 Paris – Krone Frankreichs oder Moloch des Landes?

7.3.1 Elemente der Stadtgestaltung

7.3.2 Paris und sein Hinterland

8 Der Stoffwechsel der Industriestadt: Manchester

8.1 Industrialisierung zwischen Land und Stadt: Warum Manchester?

8.2 Die Industriestadt bauen: Neue Bautypen

8.3 Das Wachstum von Manchester: Die shock-city

8.4 Die Stadt und ihr Rauch

8.5 Stoffwechsel und Politik: Das Beispiel Manchester

8.6 Der Typus „Industriestadt“

9 Die Umweltfrage als Hygienefrage im 19. Jahrhundert

9.1 Sterblichkeit – Seuchen – Cholera

9.2 Chadwick und der „Sanitary Report“: Von der Armen- zur Hygienepolitik

9.3 „Public Health“ in der Praxis

9.4 Hamburg, das große Feuer und die hygienische Modernisierung

9.5 „Tod in Hamburg“: Der tiefe Sturz der Pionierstadt des Kontinents

9.6 Hygiene – Stadtentwicklung – Umwelt

10 Die „Haussmannisierung“ von Paris: Die Erfindung der modernen Metropole

10.1 Paris und Frankreich um 1850

10.2 Der Umgestaltungsplan und Haussmann

10.3 Die Umsetzung des Plans

10.4 Die Haussmannisierung von Paris: Eine Stadt im Abriss

10.5 Den Stoffwechsel erneuern: Wasser und Abwasser

10.6 Paris ergrünt

10.7 Paris und seine Vororte

10.8 Haussmanns Bilanz

11 Antworten auf die Krise der Stadt: Vernetzung und Stadtplanung

11.1 Die Krise der neuzeitlichen Stadt

11.2 Die Vernetzung der Stadt

11.2.1 Die Gasversorgung

11.2.2 Die elektrische Vernetzung der Stadt

11.2.3 Verkehrsmäßige Vernetzung der Stadt

11.3 Stadtplanung

11.3.1 Vorbilder und Erprobungsfelder

11.3.2 Erste Anfänge der Stadtplanung als wissenschaftliche Disziplin

11.3.3 Die britische Debatte – Der Weg zur Gartenstadt

11.3.4 Die Internationalisierung der Stadtplanungsdebatte 1900–1914

11.3.5 Stadtplanung im Zeichen der Wohnungsfrage

12 Ausblick: Von der „Autostadt“ zur „nachhaltigen Stadt“?: Die Stadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

12.1 Grundbedingungen der Stadtentwicklung nach 1945

12.2 Umbrüche und Paradigmen-Wechsel: Die 1970er-Jahre

12.3 Gewinner und Verlierer – die Städtestruktur der Nachkriegszeit

12.4 Auf dem Weg zur „nachhaltigen Stadt“?

Abbildungsnachweis

Abbildungen

Tabellen

Gesamtliteraturverzeichnis

Register

Ortsregister

Sachregister

Personenregister

Rückumschlag

Vorwort

Dieses Studienbuch ist aus den Vorlesungen „Europäische Urbanisierung und Umwelt 1000–2000“ entstanden, die ich am Institut für Geschichte der TU Darmstadt seit dem Wintersemester 2005/06 als Einführung für die Studierenden des M. A. Studiengangs ‚Geschichte – Umwelt – Stadt‘ gehalten habe. Wie die Vorlesungen soll auch das Buch dazu beitragen, Studierende mit den wichtigsten Aspekten der europäischen historischen Stadtentwicklung nach der Antike vertraut zu machen und zugleich – im Unterschied zu anderen vorliegenden Einführungswerken – die umweltgeschichtlichen Dimensionen dieses Prozesses besonders herausarbeiten. Ich danke den Teilnehmern der Vorlesungen für wertvolle Kritik und Anregungen, die mir geholfen haben, das Konzept zu schärfen und weiter zu entwickeln und geeignete Anschauungsbeispiele zu identifizieren.

Bei der Erarbeitung des Buchmanuskripts erfuhr ich Unterstützung durch Kollegen; danken möchte ich insbesondere Martin Knoll, Sebastian Haumann und Michael Toyka-Seid, die Teile des Manuskripts gelesen und mit kritischen Kommentaren zur Verbesserung beigetragen haben. Besonders wichtig war für mich die Unterstützung durch Christian Zumbrägel, der nicht nur die Textarbeit durch Literaturrecherchen und Beschaffung von Bildvorlagen begleitet, sondern auch mit konstruktiven und die studentische Perspektive reflektierenden Kommentaren zur Lesbarkeit und Verständlichkeit des Textes beigetragen hat. Danken möchte ich auch Elena Mohr und Julia Beenken vom Böhlau-Verlag für die verständnisvolle Begleitung des Buchprojekts.

Widmen möchte ich dieses Buch meiner Frau Christine.

Darmstadt, im Dezember 2013 [<<9]

1 Einführung: Fragen an eine Umweltgeschichte europäischer Städte

Seit 2007 lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten. Am Weltsiedlungstag 2008 sprach die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul vom „urbanen Jahrtausend“, in dem die Weltgemeinschaft jetzt angekommen sei.1 Menschheitsfragen sind daher in steigendem Maß „Stadtfragen“, Fragen danach, wie unsere Städte in Zukunft umgestaltet werden müssen, um den an sie gestellten Anforderungen im Sinne „nachhaltiger Entwicklung“, zu der sich die Weltgemeinschaft mit der Rio-Konferenz 1992 in der Agenda 21 verpflichtet hat, gerecht zu werden.

Die Dramatik dieses Beschlusses ist bislang in den westlichen Industriegesellschaften, die nach wie vor einen deutlich überproportionalen Anteil der globalen Ressourcen beanspruchen, nicht hinreichend erkannt worden. Denn eine konsequente Ausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft an den Prinzipien der Nachhaltigkeit würde eine Revision von Verhaltensweisen und Praktiken bedingen, die sich seit der Industrialisierung herausgebildet und anscheinend bewährt haben. Seit dem Beginn des Industriezeitalters lag dem Wirtschaften die häufig unausgesprochene, aber dennoch wirkungsmächtige Annahme zugrunde, die Ressourcen der Welt seien im Prinzip unerschöpflich.2 Mittlerweile wissen wir aber sehr genau, dass zentrale strategische [<<11] Ressourcen wie etwa das Öl durchaus endlich sind3, oder dass die Kernenergie nicht die nötige gesellschaftliche Akzeptanz besitzt. Aber auch dort, wo noch theoretisch Ressourcen für Jahrhunderte vorhanden sind – wie etwa global bei der Kohle –, wäre es aus Rücksicht auf das Weltklima und die drohende globale Erwärmung nicht ratsam, die Ressourcen in bisheriger Weise weiter zu verfeuern. Auch wenn auf weltpolitischer Ebene der Prozess der verbindlichen Klimaschutzabkommen derzeit stagniert, so ist die Prognose nicht allzu riskant, dass letztlich die Fragen nach einer Bewältigung der Energiewende, nach einem tief greifend veränderten Umgang mit nicht-nachwachsenden Rohstoffen, nach der Anpassung unserer Lebenswelt an die nicht mehr abwendbaren Folgen des Klimawandels die Überlebensfragen der nächsten Jahrzehnte sein werden.

 

Wo kommen hier nun Städte ins Spiel? Städte sind einerseits, als Schwerpunkte wirtschaftlicher Aktivität, die Hauptkonsumenten von Ressourcen und Energie; 75 % des globalen Energieverbrauchs erfolgt in Städten.4 Städte sind Konzentrationen von Konsumenten, sie bündeln Ressourcenverbrauch, bilden also wesentliche Teile des Problems nicht-nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen. Zugleich bieten Städte gerade durch diese Verdichtung aber auch vielfältige Chancen zur Veränderung, weil diese Dichte im Prinzip ökonomisch und auch ökologisch sinnvolle Lösungen erlaubt, etwa in der effizienten Nutzung öffentlichen Nahverkehrs anstelle von motorisiertem Individualverkehr. Zahlreiche technische Lösungen, die ein urbanes Leben ermöglichen und erträglich gestalten, etwa Raumheizung/Klimatisierung und Warmwasserbereitung, lassen sich in Gebäuden mit mehr Bewohnern wesentlich effizienter und pro Quadratmeter und Bewohner/Nutzer kostengünstiger und weniger umweltbelastend realisieren als in frei stehenden Einfamilienhäusern im Grünen. Zudem bilden Städte auch Verdichtungen innovativer Problemlösungskompetenz.

Warum stellt sich die Veränderung von Städten, die Ausrichtung auf das Prinzip „nachhaltiger Entwicklung“, trotzdem als so schwierig und konfliktträchtig dar? Eine idealistische, vom guten Willen geprägte Umweltpolitik übersieht leicht die objektiven, gewissermaßen „in Stein“ gegossenen Hindernisse, die sich einem Umsteuern in den Weg stellen. Als bedeutsam und zugleich besonders widerständig erweisen sich hier die Strukturen der Siedlungsentwicklung, des Verkehrs, der Ver- und Entsorgung insbesondere der Städte der westlichen Welt. Diese Strukturen haben sich in ihrer aktuellen [<<12] Form in langfristigen Prozessen seit Mitte des 19. Jahrhunderts formiert und verfestigt. Sie bestehen einerseits aus Netzen, Röhren und Kanälen, aus Überlandleitungen, Pipelines und Straßennetzen, der materiellen „Hardware“ also. Wir erleben heute, dass diese Hardware vielfach – etwa aufgrund demografischer Veränderungen, aber auch qualitativen Wandels der Transportnotwendigkeiten, – nicht mehr dem veränderten Bedarf entspricht. Ein Beispiel solcher Beharrungskräfte ist die Kanalisationsinfrastruktur: In vielen deutschen und europäischen Städten ist die Kanalisation mittlerweile angesichts schrumpfender und alternder Bevölkerung überdimensioniert; zudem sind große Teile des Netzes dringend instandhaltungsbedürftig, was gewaltige Investitionen erfordert, und nur durch die „Vergeudung“ hoher Wassermengen in der Funktion aufrecht zu erhalten.5

Hindernisse liegen aber nicht nur in der Hardware, im baulich-materiellen, sondern auch in der Software, im kulturell-mentalen Bereich. Ein dichtes Regelungsgeflecht durchzieht die städtische Existenz: Wie wir Häuser bauen, wo wir wohnen, wie wir in Städten verkehren, wie wir die für unser Wohnen und Arbeiten notwendige Energie und Wasser beziehen und konsumieren, alle diese Aspekte sind in gesetzlichen und verwaltungsmäßigen Normen reguliert. Aber auch jenseits formeller rechtlicher Normierung haben sich durch jahrzehntelangen Umgang mit fließend Wasser, Gas und Elektrizität, mit Müllabfuhr und Nahverkehr kulturelle Konsumgewohnheiten und Erwartungsmuster herausgebildet, die uns mittlerweile als völlig selbstverständlich erscheinen und kaum kurzfristig veränderbar sind.6 Wir erwarten sauberes und trinkbares Wasser, wenn wir den Wasserhahn aufdrehen, Licht beim Anknipsen des Schalters. Diese Erwartungsmuster werden nur reflektiert oder infrage gestellt, wenn diese Systeme wegen eines Streiks oder einer Naturkatastrophe einmal nicht funktionieren oder wenn wir uns in Ländern der Dritten Welt aufhalten, wo der gewohnte scheinbar unproblematische Umgang mit diesen Selbstverständlichkeiten nicht möglich ist. [<<13]

1.1 Die Stadt als gebaute Entität

Insbesondere die baulich-materiellen Strukturen von Stadt weisen eine hohe Langlebigkeit und eine außerordentliche Veränderungsresistenz auf; sie überdauern meist auch große politische Zäsuren, selbst Kriege und massive Zerstörungen im Zuge von Naturkatastrophen.7 In der Umwelt- und Technikgeschichte wird diese Veränderungsresistenz von physischen, materiellen, aber auch von mentalen Strukturen „Pfadabhängigkeit“ genannt, ein Begriff, der aus der Wirtschaftsgeschichte entlehnt wurde.8 „Pfadabhängigkeiten“ liegen häufig bei Infrastruktur-Technologien vor, die für ihr störungsfreies Funktionieren auf ein bestimmtes Prinzip oder ein nicht beliebig kompatibles technisches System angewiesen sind. So setzte sich etwa für die Kanalisation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast allgemein das Prinzip der Schwemm- oder Mischkanalisation durch, das sämtliche Abwässer in einem Röhrensystem zusammenfasst, aber zu seinem störungsfreien Funktionieren erhebliche Mengen Wasser braucht, die aus den WCs in die Kanalisation eingeführt werden (vgl. Kap. 9, S. 223). Heutige Überlegungen, unterschiedlich belastete Abwässer zu trennen und [<<14] getrennt zu behandeln, was effektiver und auch energetisch günstiger wäre, treffen auf die gebaute Realität der Schwemmkanalisation, die sich wegen der enormen damit verbundenen Kosten und auch des systemischen Charakters kaum kurzfristig umbauen lässt. Das Konzept „Pfadabhängigkeit“ lenkt die Aufmerksamkeit auf die mit der Einrichtung eines Systems getroffenen Grundentscheidungen, die für die Folgezeit den Handlungsspielraum erheblich limitieren und die Entwicklung auf einen bestimmten Pfad festlegen, der – unter veränderten Prämissen – später als suboptimal angesehen wird. Weil die ursprüngliche Entscheidung zunächst positive Rückkoppelungseffekte produziert und so Selbstverstärkungswirkungen entfaltet, verfestigt sich der einmal eingeschlagene Pfad. In der Folge erscheinen Entscheidungsspielräume den Akteuren als erheblich eingeschränkt, was die Pfadabhängigkeitsforschung als „lock-in“ bezeichnet. Diese Strahlkraft von Geschichte in unsere Gegenwart verweist darauf, dass wir die Strukturen, mit denen es heutige Stadtentwicklung und Umweltpolitik zu tun hat, nur angemessen verstehen können, wenn wir sie in ihrer langfristigen Genese analysieren und erklären.

An diesem Punkt setzt dieses Studienbuch an: Es möchte deutlich machen, wie die heutigen Strukturen, die unsere europäischen Städte als gebaute Entität prägen, sich langfristig formiert haben. Diese Langfristperspektive wird auch zeigen, dass die europäischen Städte schon immer ihre Umwelt erheblich verändert und umgestaltet haben, wobei Dauerhaftigkeit und Reversibilität dieser Eingriffe unterschiedlich waren.

Der Gang durch die Geschichte der europäischen Stadt, auf den dieses Buch seine Leser mitnehmen möchte, wird unter einer besonderen Perspektive stehen, die aus der eingangs erläuterten Problematik erwächst: Im Zentrum wird das Stadt-Umwelt-Verhältnis stehen, konkreter die Frage, wie die Stadt als „kollektiver Konsument“ von Nahrungsmitteln, Wasser, Energie, Rohstoffen etc. diese Ressourcen beschafft und damit auf ihre Umwelt, ihr Umland eingewirkt hat. Zentral wird weiterhin die „Kehrseite“ dieses Aspektes sein: In der Verwertung von Nahrungsmitteln, Wasser, Energie und Rohstoffen produziert die Stadt „Restprodukte“ dieses Konsums: Fäkalien, Abwasser, Abfall, Rauch, Asche, aber auch gewerbliche Produkte einer höheren Fertigungsstufe. Diese Materialien können nur sehr bedingt auf städtischem Territorium gelagert werden, zum einen aus Platzmangel, zum anderen aus hygienischen Gründen. Städte waren und sind also darauf angewiesen, ihre Stoffwechselprodukte an ihre Umwelt abzugeben und sie dadurch zu „entsorgen“ bzw. einer neuen, anderen Nutzung zuzuführen, sie zu „recyceln“. Gewerbliche Produkte werden, soweit sie nicht innerhalb der Stadt konsumiert werden, an die Umwelt über Handel abgegeben, um damit wieder andere benötigte Materialien für den städtischen Stoffwechsel zu erwerben. Diese Strukturnotwendigkeiten der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und deren Sicherung [<<15] einerseits, der Entsorgung der Stoffwechselprodukte und damit Unschädlichmachung für die städtische Bevölkerung andererseits sind gewissermaßen universale Grundkonstanten städtischer Existenz über alle historischen Epochen hinweg.

„Stadt“ soll für dieses Studienbuch als verdichtete Siedlung begriffen werden, die für ein unterschiedlich großes Umland zentrale Funktionen des Güteraustauschs (Markt), der politischen Herrschaft und Verwaltung, der Produktion gewerblicher Güter und der kulturellen Reproduktion (Hauptkirchen, Schulen, Universitäten, Wissenseinrichtungen) ausübt.9 Relativ breite Akzeptanz hat in der deutschen Stadtgeschichtsforschung eine eher an der vormodernen Stadt von Franz Irsigler entwickelte Definition gefunden:

„Stadt (ist) eine vom Dorf und nichtagrarischen Einzwecksiedlungen unterschiedene Siedlung relativer Größe mit verdichteter, gegliederter Bebauung, beruflich spezialisierter und sozial geschichteter Bevölkerung und zentralen Funktionen politisch-herrschaftlicher-militärischer, wirtschaftlicher und kultisch-kultureller Art für eine bestimmte Region oder regionale Bevölkerung. Erscheinungsbild, innere Struktur sowie Zahl und Art der Funktionen sind je nach Raum und Zeit verschieden: Die jeweilige Kombination bestimmt einmal die Individualität der Stadt, zum anderen ermöglichen typische Kombinationen die Bildung von temporären und regionalen Typen oder Leitformen, je nach den vorherrschenden Kriterien.“10

Die auch in Irsiglers Definition akzentuierte funktionale Spezialisierung und Arbeitsteilung bedeutet, dass ein variabler, aber in der Regel nennenswerter Teil der Stadtbevölkerung nicht oder nur teilweise mit Landwirtschaft befasst ist. Die Stadt ist daher Netto-Konsument von Agrarprodukten, die nicht auf ihrem Territorium produziert werden können. Aus dieser Tatsache ergibt sich unabweisbar der Zwang, diese primär konsumierende Bevölkerung aus den Überschüssen anderer Gebiete zu versorgen. Historisch unterschiedlich wurde nun aber jeweils die Frage gelöst, wie diese Versorgung konkret organisiert, gesichert wurde. Hier spielten der Stand der Agrartechnik und der Agrarverfassung, die naturräumliche Lage, die Entwicklung der Transporttechnik, aber auch Fragen der politischen Herrschaft bzw. der wirtschaftlichen Dominanz über Versorgungsgebiete eine zentrale Rolle. [<<16]

Fokus 1: Die Stadt und ihr Stoffwechsel

In der Umweltgeschichte, insbesondere der Umweltgeschichte der Stadt, hat sich in den letzten Jahren ein Ansatz entwickelt, der das Verhältnis Stadt-Umwelt unter dem Leitbegriff „gesellschaftlicher Stoffwechsel“ konzeptualisiert.11


Abb 1 Gesellschaftlicher Stoffwechsel der Stadt [<<17]

Dieser von der Interdisziplinären Forschergruppe für Soziale Ökologie unter der Leitung von Marina Fischer-Kowalski an der Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) der Alpen-Adria Universität Klagenfurt-Wien-Graz entwickelte Ansatz, der auf älteren Studien etwa von Stephen Boyden zum Stoffwechsel Hongkongs aufbaut12, fragt nach den Ressourcen, die für die Reproduktion der Stadt lebenswichtig sind. Die Stadt braucht zur Aufrechterhaltung des biologischen Stoffwechsels ihrer (menschlichen, tierischen und pflanzlichen) Bewohner wie auch für kollektive Phänomene, etwa den Bau von Straßen, Plätzen, Gebäuden, die Zuführung von dafür unverzichtbaren Materialien und Ressourcen, hier als „Inputs“ bezeichnet. Diese werden in der Stadt verarbeitet, verbraucht und in veränderter Form als Abfall, als verarbeitete Produkte („Outputs“) deponiert, ausgeschieden oder abgegeben. Der Fokus auf den Stoffwechsel der Stadt stellt also Stoffströme und deren Veränderung ins Zentrum, insbesondere aber auch den Prozess der „Kolonisierung der Natur“ durch die Stadt. Zur Befriedigung ihrer Ressourcenbedürfnisse wie zur Entsorgung der Restprodukte greifen Städte in langfristiger Perspektive räumlich immer weiter in ihr Umland aus. Sie nutzen die Ressourcen dieses Umlands für ihren Stoffwechsel und – zur Absicherung dieser Nutzung – unterwerfen sich dies entweder durch politische Beherrschung, indem Städte etwa ein eigenes Herrschaftsgebiet aufbauen, oder durch wirtschaftliche Dominanz, etwa den Kauf von Land oder von Gütern. Im Industriezeitalter erreicht diese „Kolonisierung von Natur“ schließlich neue Dimensionen, indem Städte sich für die Erschließung der Ressourcen in großen Entfernungen technisch-industrieller Transportsysteme wie Eisenbahn, Dampfschifffahrt, aber auch dampfmaschinengetriebener Pumpsysteme bedienen können, die auch den Ferntransport eigentlich geringwertiger Güter (z. B. Wasser) ermöglichen. Stadt mobilisiert also die Ressourcen des Umlandes für den sich in ihr vollziehenden gesellschaftlichen Stoffwechsel. Zugleich verändert sie damit tendenziell tief greifend die Ökosysteme ihrer Umwelt, etwa durch die Ausrichtung landwirtschaftlicher Bewirtschaftung auf die primären Konsumbedürfnisse der städtischen Bevölkerung, durch Absenken des Grundwasserspiegels bei Wasserentnahme, durch Entwaldung oder Veränderung der Zusammensetzung und Bewirtschaftung des Waldes, durch Abraumhalden, Mülldeponien oder Flussverschmutzung, was wiederum die Möglichkeiten flussabwärts gelegener Städte, den Fluss zu nutzen, beeinträchtigt.

Was jeweils konkret als „Umland“ zu definieren ist, ist historisch und geografisch variabel. Für die flandrischen und niederländischen Städte des späten Mittelalters und [<<18] der frühen Neuzeit waren die Getreideanbaugebiete rund um die Ostsee Umland in dem Sinne, dass die Getreideexporte etwa der Gebiete entlang der Weichsel für die Brotversorgung von Brügge, Antwerpen oder Amsterdam bedeutsam waren (vgl. Kap. 4.3, S. 76 u. Kap. 6.5, S. 141). Das konkrete Ausmaß des Umlands hing daher ab von der spezifischen Ressource, ihrem Wert, ihrer Transportierbarkeit sowie dem Stand der Transporttechnik und der Lage der Stadt. Heute ist in vieler Hinsicht die ganze Welt Umland unserer europäischen Städte, wozu wesentlich die radikale Senkung von Transport- und Transaktionskosten der modernen Logistik beigetragen hat. Ein Blick auf die Herkunftsorte der Waren in unseren größeren Supermärkten reicht, um die heutige Globalität des Umlandes einsichtig zu machen.

Sowohl zur Gewinnung der im Stoffwechsel der Stadt benötigten Inputs als auch zur Entsorgung der Outputs ist Fläche/Land unverzichtbar. Daher entwickelte sich in der Umweltwissenschaft ein einflussreicher Versuch, Flächenbeanspruchung als Indikator für die Umweltwirkung gesellschaftlicher Einheiten wie Städte zu nehmen. Es wird die (theoretische) Fläche ermittelt, die benötigt wird, um die in einer Stadt erforderlichen Ressourcen zu erzeugen bzw. zu gewinnen, aber auch um die Rest- und Abfallprodukte zu entsorgen. William Rees und Mathis Wackernagel, die in den 1990er-Jahren diese Methode entwickelt haben, nannten diesen Indikator einprägsam „Ökologischer Fußabdruck“ (ecological footprint).13 Londons ökologischer Fußabdruck beansprucht nach einer Studie von 2002 eine Fläche, die dem Doppelten der Gesamtfläche Großbritanniens entspricht, fast dem Dreihundertfachen der Stadtfläche. Jeder Londoner entwickelt einen Fußabdruck von 6,63 ha, während global – bei gleicher Verteilung der Ressourcen – pro Weltbewohner nur 2, 18 ha zur Verfügung stehen. Perspektivisch bedeute dies – so die Studie –, dass die Londoner eine Reduktion ihres Ressourcenverbrauchs um 35 % bis 2020, um 80 % bis 2050 realisieren müssten, um nachhaltig zu sein.14