Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe

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Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe
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UTB 3217

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Prof. Dr. Dieter Röh lehrt Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, Fakultät Wirtschaft + Soziales, Department Soziale Arbeit.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 3217

ISBN 978-3-8252-4876-5 (PDF)

ISBN 978-3-8463-4876-5 (EPUB)

2., völlig überarbeitete Auflage

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort zur 2. Auflage

1 Einleitung

2 Grundlagen der Sozialen Arbeit

2.1 Geschichte der Behindertenhilfe

2.2 Wissenschaftstheoretisches Verständnis: Soziale Arbeit zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften

2.3 Gegenstand und Funktion Sozialer Arbeit

2.4 Ethisch-moralische Grundlagen

2.4.1 IFSW-Kodex

2.4.2 Menschenrechtsprofession

2.4.3 Soziale Gerechtigkeit

2.5 Methodisches Handeln

3 Grundlagen der Behindertenhilfe

3.1 Diskurs um Behinderung

3.1.1 Sozialanthropologie der Behinderung

3.1.2 Entwicklung des Behinderungsbegriffs

3.1.3 Das biopsychosoziale Modell der ICF

3.1.4 Die sozialrechtliche Behinderungsdefinition des SGB IX

3.2 Sozialethische Grundlagen

3.2.1 Der „ethische Raum“ – zwischen Empowerment und Paternalismus

3.2.2 Empowerment

3.2.3 Selbstbestimmung

3.2.4 Normalisierungsprinzip

3.2.5 Integration, Inklusion und Teilhabe

3.2.6 Care-Ethik und Gerechtigkeit

3.3 Lebenslage von Menschen mit Beeinträchtigungen und professionelle Unterstützungsformen

3.3.1 Wohnen

3.3.2 Bildung

3.3.3 Arbeiten

3.3.4 Freizeit

3.3.5 Familie

3.3.6 Einkommenssituation

3.3.7 Soziales Netzwerk

3.4 Aktuelle Entwicklungen in der Behindertenhilfe

3.4.1 Ambulantisierung

3.4.2 Community Care/Community Living

3.4.3 Experten in eigener Sache: Selbsthilfe, Peer Counseling und Peer Support

3.4.4 Assistenzmodell

4 Professionelles Handeln der Sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe

4.1 Gegenstand und Funktion der Sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe

4.2 Theorien der Sozialen Arbeit

4.2.1 Sozialökologie

4.2.2 Systemtheorien

4.2.3 Lebensweltorientierung

4.2.4 Lebensbewältigung

4.2.5 Theorie der daseinsmächtigen Lebensführung

4.3 Methoden

4.3.1 Soziale Diagnostik

4.3.2 Alltagsbegleitung

4.3.3 Beratung

4.3.4 Sozialtherapie

4.3.5 Case Management

4.3.6 Familienhilfe

4.3.7 Netzwerkarbeit

4.3.8 Sozialraumorientierung

4.3.9 Selbsthilfeförderung

Literatur

Sachregister

Online-Material

Die Antworten zu den Übungsfragen zum Buch können Leserinnen und Leser auf der Homepage von UTB (www.utb.de) und des Ernst Reinhardt Verlags (www.reinhardt-verlag.de) herunterladen.

Vorwort zur 2. Auflage

Aufgrund der anhaltend großen Nachfrage nach diesem Grundlagenwerk wird hiermit eine zweite, überarbeitete Auflage vorgelegt. Die Änderungen sind auch deshalb nötig geworden, weil der Diskurs um den Gegenstand und die Funktion sowie um die Wissenschaft der Sozialen Arbeit fortgeschritten ist. Zudem haben sich auch bezüglich des Handlungsfeldes der Behindertenhilfe wesentliche Veränderungen ergeben: So können wir heute das Phänomen der „Behinderung“ nur noch interaktionell verstehen, da es sich sowohl in seiner Entstehung, nämlich aus dem Zusammenwirken von individueller Beeinträchtigung und Kontextfaktoren, als auch in seiner Auswirkung vor allem als „Teilhabebehinderung“ definieren lässt. Auch die rechtlichen und konzeptionellen Änderungen galt es zu berücksichtigen. Zuletzt waren verschiedene, in der Zwischenzeit erschienene Publikationen zu integrieren.

 

In der Einleitung zur ersten Auflage hieß es: „Ich hoffe sehr, dass der Versuch, eine systematische Beschreibung des Beitrages der Sozialen Arbeit als neue Wissenschaft und als Profession für die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen darzulegen, die weitere Diskussion um die Professionalisierung ebenso wie um die Beteiligung der Sozialen Arbeit anregen wird. “ Die vielen positiven Rückmeldungen zur ersten Auflage haben gezeigt, dass dies gelungen ist. Nun liegt mit der überarbeiteten Auflage eine aktualisierte Fassung vor, von der ich mir das Gleiche erhoffe.

1 Einleitung

Dieses Buch beschäftigt sich mit der Sozialen Arbeit als Profession im Bereich der sogenannten Behindertenhilfe. Soziale Arbeit wird hier als Emergenz von Sozialarbeit und Sozialpädagogik verstanden. Mit dem Begriff Behindertenhilfe ist die Gesamtheit an professionell ausgeübten Tätigkeiten für Menschen mit Beeinträchtigungen, die in ihrer Teilhabe an der Gesellschaft „ge- bzw. be-hindert“ werden, also ein Arbeitsfeld gemeint, welches in vielfältiger Weise von SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, jedoch gleichsam auch von anderen Professionen bestimmt wird.

Die Soziale Arbeit etabliert sich seit ca. 20 Jahren in zunehmenden Maße hinsichtlich ihrer professionellen und disziplinären Verortung. Gegenstand und Funktion werden gleichermaßen lebhaft diskutiert und unterliegen dem beständigen wissenschaftlichen Diskurs, der ebenso wie in anderen Fächern auch in der Sozialen Arbeit stetig belebt werden muss, damit diese sich in Wissenschaft und Praxis weiterentwickeln kann. Zuletzt ist diese Entwicklung dank neuerer Monografien (u. a. Sommerfeld et al. 2011; Röh 2013; Lambers 2013; Böhnisch/Schröer 2013; Deller / Brake 2014; Engelke et al. 2014 u. Engelke 2016) und diverser Sammelbände (u. a. Borrmann et al. 2016; Mührel / Birgmeier 2009 und 2011; Scheu / Autrata 2011; Erath / Balkow 2016; Hammerschmidt et al. 2017; May 2010) ein gutes Stück vorangekommen.

Für die Behindertenhilfe – neben der Jugendhilfe, der Psychiatrie und dem Gesundheitswesen ein weiteres rein quantitativ bedeutsames Handlungsfeld für die Soziale Arbeit – fehlt bislang eine deutliche Konturierung des professionellen und disziplinären Beitrages der Sozialen Arbeit (siehe als Ausnahme Loeken/Windisch 2013; Weinbach 2016). Sicherlich sind dafür Anleihen aus anderen disziplinären Zugängen, wie etwa der Behinderten-, Sonder-, Inklusionspädagogik oder auch der Heilpädagogik, notwendig. Jedoch reichen diese nicht aus, um das Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit hinreichend zu kennzeichnen und es für Studierende wie Praktiker in diesem Feld professions- und handlungstheoretisch nutzbar zu machen.

Dieses Buch möchte jene Lücke schließen und mithilfe einer umfassenden Beschreibung der disziplinären wie professionellen Grundlagen Sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe beitragen. Dies kann zwar nur als eine kompilierende Verknüpfung wesentlicher Informationen, Themen, Theorien und Konzepte geschehen, allerdings mit dem Anspruch, das Profil Sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe zu schärfen.

Sollte es nicht anders ersichtlich sein, wird der Gegenstand dieses Buches vor allem in der Arbeit mit Menschen mit geistigen Beeinträchtigungenbestehen. In einigen Teilen wird auch auf die Situation von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen eingegangen, dies aber nur dann, wenn diese gleichzeitig mit einer geistigen Beeinträchtigung auftreten bzw. die verfügbaren Daten zur Beschreibung der Lebenslage keine Differenzierung hergeben. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen werden kaum berücksichtigt. Obwohl sich bzgl. der Teilhabeeinschränkungen diverse Überschneidungen ergeben, etwa hinsichtlich der sozialen Lage oder des sozialen Netzwerkes, muss eine Berücksichtigung an dieser Stelle unterbleiben und auf die einschlägigen Werke verwiesen werden (z. B. Bischkopf et al. 2017; Sommerfeld et al. 2016). Auch die internationale Bestimmung von „social work“ sowie internationale Entwicklungen und Konzepte der Behindertenhilfe bleiben bis auf wenige Ausnahmen unberücksichtigt. Dies hat etwas mit dem institutionellen Feld zu tun, da durch die sozialpolitische Einbettung der Behindertenhilfe in Deutschland in das System der sozialen Sicherung und geprägt durch eine spezifische Bildungspolitik, die Behindertenhilfe eine ganz besondere, international wenig vergleichbare Position bekommt.

In dieser Einleitung kann nur kurz skizziert werden, warum statt „Behinderung“ bislang von „Beeinträchtigung“ gesprochen wurde (Kap.3.1). Behinderung bezeichnet nach meinem Verständnis und in Übereinstimmung mit der ICF und VN-BRK das vorläufige (bzw. mehr oder weniger dauerhafte) Ergebnis eines „Be-hinderungsprozesses“, der die soziale Reaktion auf eine Beeinträchtigung physischer, kognitiver oder psychischer Art darstellt. Wie in Kapitel 3.1 und 3.2.5 noch weiter ausgeführt wird, ist „Behinderung“ mit gesellschaftlicher Nicht-Teilhabe gleichzusetzen. „Behinderung“ in dieser Schreibweise wird immer dann auftauchen, wenn entweder auf die konventionelle Weise der Rezeption in der Literatur oder in meiner eigenen Argumentation reflexiv-distanzierend auf die eben genannte Definition Bezug genommen wird. Von Beeinträchtigung wird dann geschrieben, wenn es um die eigentliche körperliche oder geistig-psychische Funktionsbeeinträchtigung oder individuelle Einschränkung geht und von „behinderten Menschen“ immer dann, wenn der soziale Prozess der Teilhabeeinschränkung gekennzeichnet werden soll.

Zu den eben erwähnten Limitationen kommt hinzu, dass in diesem Buch die angeborenen und früh erworbenen geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen im Vordergrund stehen, um nicht in die thematische Nähe zur Rehabilitation im Ganzen zu kommen. Ich werde – sofern nicht anders gekennzeichnet, zu den „Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen“ auch solche zählen, die nach landläufiger, medizinischer Definition als lernbeeinträchtigt definiert werden. Geistig beeinträchtigt meint damit in der Lesart der Selbsthilfevertretungen „Lernschwierigkeit“. Wenngleich die Gruppe der Menschen, die diese Art der Beeinträchtigung aufweisen, in Bezug auf die Gesamtzahl derer, die in der Bundesrepublik Deutschland als „behindert“ bzw. „schwerbehindert“ gelten, nur einen Anteil von ca. 5 % ausmacht, stellt sie doch einen Großteil jener Personen dar, mit denen es die Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe zu tun hat. Dies aus mehreren Gründen:

1. Menschen, die aufgrund eines Unfalls oder einer chronischen Erkrankung als amtlich anerkannte (Schwer-)Behinderte gelten, haben häufiger im Rahmen der sozialpolitischen Absicherung – etwa durch Sozialversicherungen (Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrente, Rehabilitationsmöglichkeiten usw.) – eine gute Chance, ein selbstbestimmtes Leben ohne fortwährende Begleitung oder Betreuung zu leben.

2. Menschen, die aufgrund einer geistigen, körperlichen oder sogar mehrfachen Beeinträchtigung (noch) nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen Renten- oder Rehabilitationsanspruch erwerben konnten, sind häufig auf die Ersatzsysteme der Eingliederungshilfe angewiesen.

3. Traditionell waren und sind Menschen mit einer geistigen und/oder körperlichen Beeinträchtigung von fremder Hilfe abhängig. Zukünftig soll sich diese Situation durch Selbstbestimmung und Gleichbehandlung in Richtung einer stärkeren Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und in verschiedenen Lebensbereichen verändern.

4. Auf dem Weg dorthin benötigen sie eine kompetente, professionelle Unterstützung, die ihre Rechte auf Selbstbestimmung ebenso achtet wie ihre Entwicklung und Teilhabe fördert.

Dieses Buch soll als Lehr- und Studienbuch für die Ausbildung von SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen dienen und enthält daher neben theoretischen Erörterungen auch praxisrelevante Beispiele sowie Aufgaben und Lösungen für bestimmte Fragestellungen. Letztere sind auf der Website des Verlags zu finden.

Dabei wird gezeigt, dass die Soziale Arbeit sich in profunder Weise von anderen verwandten Professionen, wie etwa der Heil- oder Sonderpädagogik, durch einen eigenen fachwissenschaftlichen Zugang unterscheidet, der als „Expertise für die Zusammenhänge zwischen Individuum und Gesellschaft“ bezeichnet werden kann. Mit dieser Expertise ist ein (handlungs-)theoretisches Modell verbunden, welches eigene Konzepte für die Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen vorhält.

Dieses Modell wird durch das biopsychosoziale Behinderungsmodell der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001; DIMDI 2005), der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), gestützt, welches auf bemerkenswerte Weise eine „ganzheitliche Sicht“ von Krankheit, Behinderung und Partizipation bzw. Teilhabe ermöglicht. Es verbindet medizinische, individual- und sozialpsychologische und schließlich sozialwissenschaftliche Sichtweisen auf Behinderung in einer Art und Weise, die als multidimensionaler Blick der Sozialen Arbeit schon lange bekannt ist, etwa in der sozialökologischen Perspektive des Person-in-Environment-Modells.

Die vorliegende Publikation will diese Perspektive aufnehmen und in drei Schritten bearbeiten. Zunächst soll die Soziale Arbeit in ihren Grundzügen dargestellt werden. In Kapitel 2 werde ich einleitend einen kurzen Abriss der Geschichte Sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe liefern, dann eine wissenschaftstheoretische Verortung der Sozialen Arbeit vornehmen sowie deren Gegenstand und Funktion skizzieren, weiterhin ethisch-moralische Grundlagen beschreiben und schließlich Aussagen zur allgemeinen Methoden- bzw. Handlungstheorie treffen.

In Kapitel 3 wird die Behindertenhilfe als Handlungsfeld beschrieben, wobei sowohl der Behinderungsbegriff diskutiert als auch sozialethische Grundlagen sowie die Lebenslage und insbesondere die damit verbundenen möglichen sozialen Probleme von Menschen mit Beeinträchtigungen sowie die professionellen Antworten hierauf dargestellt werden müssen, um daran anschließend einige aktuelle Entwicklungen aufzeigen zu können.

Schließlich wird beides in Form einer professionellen Bestimmung der Sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe in Kapitel 4 miteinander verbunden. Dazu werde ich zunächst den Gegenstand und die Funktion der Sozialen Arbeit, danach (handlungs-)theoretische Grundlagen und abschließend eine Auswahl an Konzepten und Arbeitsformen vorstellen.

Hamburg, im Juni 2017

Dieter Röh

2 Grundlagen der Sozialen Arbeit

2.1 Geschichte der Behindertenhilfe

Dieser Abschnitt informiert über die gesellschaftliche Entwicklung der Behindertenhilfe von der Armenfürsorge, über die Anstaltsversorgung und die Entstehung erster medizinischer und pädagogischer Ansätze der Rehabilitation, die sich konstituierende Wohlfahrtspflege bis hin zur modernen Sozialpolitik und deren jeweiligen Praxis im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen.

Dem Problem einer klaren begrifflichen Bestimmung, was Behinderung ist, kann an dieser Stelle noch nicht entsprochen werden (Kap.3.1). Allerdings sei darauf hingewiesen, dass die folgenden Ausführungen sich auf ein Gesamt aus „fürsorglichen Bemühungen“, ordnungs- und sozialstaatlichen Programmen und ersten Versuchen der Professionalisierung von Behandlung und Versorgung derjenigen Personen mit verschiedensten Beeinträchtigungen konzentrieren werden, seien es geistige, körperliche oder psychische. Auch die später thematisierte Modernisierung des Verständnisses von Behinderung ist dahingehend zu berücksichtigen, dass es sich bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinein um eine eher defizitäre, individualistische Auffassung von „Behinderung“ handelte. Gesellschaftlich wie auch vornehmlich medizinisch wurde „Behinderung“ eher individuell ausgedeutet und als Störung oder Problem klassifiziert, was erst heute mittels einer reflektierten ethischen Grundhaltung und der sozialen Perspektive relativiert werden kann.

 

So hat sich beispielsweise das Verständnis von geistiger und psychischer Beeinträchtigung im 19. und 20. Jahrhundert verändert. Insbesondere wurde die geistige Beeinträchtigung erst spät von der psychischen Erkrankung abgegrenzt, weshalb damals geläufige und zunächst nicht stigmatisierend genutzte Diagnosen wie „Schwachsinn“, „Blödheit“, „Irrsinn“ oder „Idiotie“ häufig als Synonyme für psychische Abweichungen insgesamt gesehen wurden, einerlei ob es sich um aus heutiger Sicht zu differenzierende Diagnosen von geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen handelte (Hauss 1989; Blasius 1994; Häßler / Häßler 2005).

Im Allgemeinen kann man festhalten, dass der Gegenstand einer vom „Typischen“ abweichenden Wesensart von Menschen mit Beeinträchtigungen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als eine Domäne der Psychiatrie angesehen wurde, ohne dass die einzelnen Erscheinungsformen differenziert oder andere Verständnisse, etwa psychologische, pädagogische oder sozial- und kulturwissenschaftliche, integriert wurden. Auf institutioneller Seite hielt sich diese Gleichförmigkeit länger als in der medizinischen Wissenschaft, da die Psychiatrie mit ihren kustodialen, institutionellen Strukturen der Heilanstalten, Landeskrankenhäuser, Stadtasyle und Pflegeheime lange Zeit in der Versorgung und „Verwahrung“ dominierte und allerhöchstens innerhalb dieser Anstalten eine Differenzierung vorgenommen wurde.

Eine vollständige Geschichte der Hilfen für Menschen mit Beeinträchtigungen, gerade aus Sicht der Sozialen Arbeit, muss noch geschrieben werden, wobei gute sozialgeschichtliche Arbeiten, u. a. von Dörner (1995) und Blasius (1980, 1994), vorliegen. Eine Übersicht zur geschichtlichen Entwicklung der Fürsorge für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen bis hin zur heutigen Rehabilitation bietet Hausdörfer-Reinert (2005) und für die Gruppe der Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen Häßler und Häßler (2005) sowie Fornefeld (2013, 28 ff.).

Ganz entscheidend vorangebracht wurde die kulturwissenschaftliche und historische Forschung durch die disability studies, einer interdisziplinären Wissenschaft, die – vereinfacht gesagt – in ihren Forschungen ein soziokulturelles Modell von „Behinderung“ favorisiert (Bösl et al. 2010).

In der Literatur zur Geschichte der Sozialen Arbeit wird, aufgrund der Dominanz anderer Disziplinen und Professionen in diesem Feld, die Behindertenhilfe eher randständig behandelt. Trotzdem ist diese hinsichtlich ihres in den verschiedenen Zeiten gesellschaftlich unterschiedlich definierten Auftrages zur Bearbeitung von sozialen Problemen bzw. Armutsphänomenen immer auch mit Menschen mit Beeinträchtigungen befasst gewesen. Armenfürsorge und Behindertenfürsorge waren daher lange Zeit miteinander verschränkt, da Menschen mit Beeinträchtigungen per se als Arme angesehen und behandelt wurden und erst mit der Ausdifferenzierung der Versorgung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts der eigenständige Beitrag der Sozialen Arbeit ersichtlich wird.

Da weitgehend Analysen prähistorischer Funde und antiker Überlieferungen fehlen (siehe als Ausnahme Rathmayr 2014, 45 ff.), kann ein erstes Mal etwas fundierter auf die besondere Berücksichtigung und Erwähnung von Menschen mit Beeinträchtigungen im ausgehenden Mittelalter hingewiesen werden: Sie lebten zu dieser Zeit in der Regel bei ihren Familien oder ihren Verwandten und wurden von diesen versorgt. Allerdings ist belegt, dass sie im Falle der Gefährdung anderer, bei Auffälligkeiten, z. B. großer Unruhe oder „Raserei“, in Narrenhäusern, Spitälern und Armenhäusern, vereinzelt auch in die seit dem 16. / 17. Jahrhundert entstehenden Zucht- und Arbeitshäusern, interniert wurden. Daher sollte auch vor einer allzu romantischen Vorstellung von Integration in die Familie bzw. das Dorf gewarnt werden. Vielmehr waren Stigmatisierung und Kontaktvermeidung eher die Regel als die Ausnahme – und sind es mit Blick auf die Lage in anderen Ländern (WHO 2011) und in gewisser, wenn auch abgeschwächter Form auch in Deutschland noch immer. So berichtet Thoma (2004, 84) davon, dass bis ins 19. Jahrhundert schwangere Frauen davor gewarnt wurden, behinderte Menschen anzusehen, da sich dies schlecht auf ihr Kind auswirken würde. Und in der Republik Südafrika müssen noch heute weite Teile der Bevölkerung darüber aufgeklärt werden, dass Epilepsie nicht ansteckend oder gefährlich ist und auch kein böser Geist die Betroffenen beherrscht (vgl. die Arbeit von epilepsy.org.za).

Beginnend mit den ersten Bemühungen europäischer Städte, im ausgehenden Mittelalter Armen- und Bettelordnungen zu erlassen, die im Zusammenhang mit ihrem neuen Selbstbewusstsein als Handwerks- und Handelszentren und der wirtschaftlichen Entwicklung stehen, wird der Umgang mit bestimmten Bevölkerungsgruppen zunehmend davon bestimmt, sie aus der Gesellschaftsordnung auszugliedern und ihre Fürsorge, Kontrolle bzw. Verwahrung den o.g. Institutionen zu überlassen (Fornefeld 2013, 32 ff.). Verbunden mit einem sich langsam etablierenden städtischen Verhaltenskodex, der zunehmenden Verwertungslogik menschlicher Arbeitskraft, aber auch der wachsenden philanthropischen Einstellung des Bürgertums, gerät Schwäche und Abweichung zu einem Makel, der in dieser neuen Ordnung als zunehmend störend empfunden und damit unsichtbar gemacht, aber gleichzeitig auch „fürsorgerisch“ behandelt werden sollte. Waren bis dato vornehmlich Kirchen und Klöster sowie Lehnsherren für die Almosenvergabe zuständig, so übernehmen nun zunehmend die sich emanzipierenden Städte und das Bürgertum die Fürsorge von Kranken und Schwachen. Bereits die ersten städtischen Armenordnungen, so z. B. die Nürnberger Armenordnung von 1522, kennen spezielle Bestimmungen, wie mit Kranken umgegangen werden soll (Sachße/Tennstedt 1980, 63 ff.). Zudem waren Menschen mit Beeinträchtigungen wie fast keine andere Gruppe dermaßen zentral auf das Betteln angewiesen, dass sie auch bald besondere Berücksichtigung erfuhren: So bestimmt die eben genannte Ordnung, dass wenn bei

„Bettlern und hausarmen Leuten, die mit dem Fieber oder anderen Krankheiten behaftet sind, […], irgendwelche Medizin benötigt würde, diese solches einem der eingesetzten Knechte bekannt geben. Wenn dann dieser Knecht nach Augenschein das Bedürfnis anerkennt, soll er dem Kranken oder Bedürftigen das Nötige auf Kosten des Almosens aus den Nürnberger Apotheken verschaffen“ (Sachße/Tennstedt 1980, 71).

Auch wenn nicht ganz sicher ist, ob auch Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen unter diese Regelung fielen, ist doch anzunehmen, dass diese schon aus Gründen der christlichen Nächstenliebe mit Almosen unterstützt wurden.

Daneben wird jedoch jede Art von Schwäche als störender Kontrast zum zunehmend sich etablierenden, gesellschaftlichen Typus des ‚homo faber‘ gesehen und immer stärker missbilligt. Die neue gesellschaftliche Anforderung, wie sie von den sich entwickelnden Produktionsverhältnissen geschaffen wurde, wird von Sachße / Tennstedt (1980, 37) wie folgt treffend beschrieben:

„Wenn der Lebenszusammenhang und damit die Persönlichkeitsstruktur des mittelalterlichen Menschen in einer vorwiegend agrarisch produzierenden, traditionalen Gesellschaft von dem natürlichen Rhythmus des Jahres- und Tagesverlaufes, von dem Ablauf und der Dauer konkreter Verrichtungen und der Art und Weise konkret-sinnlicher Bedürfnisse bestimmt war, dann produzieren die Gesetzmäßigkeiten des Marktes einen vollständig neuen Lebensrhythmus. Dieser erfordert Disziplin, Zeitökonomie und Abstraktionsvermögen; das Vermögen, kurzfristige Bedürfnisse zugunsten längerfristig zu erreichender Ziele zurückzustellen, im voraus zu planen; abstrakte Tüchtigkeit und Erwerbsstreben. “

Es ist verständlich, dass insbesondere Menschen mit Beeinträchtigungen dieser gleichförmigen Anforderung nicht entsprechen konnten und deshalb auch ausgeschlossen wurden.

Die Neuformierung der Armenpflege durchzieht auch die Reformbemühungen im Absolutismus und der Aufklärung, allerdings mit einem entscheidenden Zusatz, nämlich der zunehmenden Nutzung von sogenannten Armen- und Arbeitshäusern, mit denen, neben der gewünschten ordnungs- und polizeirechtlichen Intention, auch arbeitspädagogische Motive verfolgt wurden.

So verknüpfte sich spätestens mit dem calvinistisch-lutherischen Arbeitsideal die Vorstellung von Armut und Arbeit immer stärker mit dem Ziel der „Erziehung der Armen durch Arbeit“. Die Fürsorge wurde damit gleichzeitig zu einer moralischen und funktional gedachten Sanktions- und Interventionsform, die wiederum Menschen mit Beeinträchtigungen auf besondere Weise ausschloss. Sind schon die erzieherischen Motive (und deren Erfolg) für „normale“ Arme mehr als zweifelhaft und als menschenunwürdig zu betrachten, so schlugen sie hinsichtlich der in diesem Sinne nicht zur Arbeit „erziehbaren“ Menschen völlig fehl.

Lebten in dem 1656 in Paris ins Leben gerufenen „hôpital général“, das als Prototyp der später von Goffman (1973) beschriebenen „totalen Institutionen“ gelten kann, noch die unterschiedlichsten Insassen (Bettler, Waisen, Kinder, Alte, Straffällige, Kranke, „Behinderte“), so differenzieren sich diese Häuser im Laufe des 19. Jahrhunderts in Krankenheil- und Pflegeanstalten, Gefängnisse und vergleichbare Einrichtungen aus (Fornefeld 2013, 28 ff.; Häßler/Häßler 2005, 50 ff.). Dies hatte auch Konsequenzen für die medizinische, pflegerische, fürsorgerische und letztlich auch pädagogische Tätigkeit:

„Bis in die zweite Hälfte des 18. Jhs. schenkte man – von Ausnahmen abgesehen – behinderten Menschen in ihrer sozialen, gesundheitlichen und auch erzieherischen Not keine besondere Aufmerksamkeit. Nur sehr langsam entwickelte sich, angestoßen durch das Gedankengut der Aufklärung, ein spezifisches Interesse für behinderte Menschen, die sie aus der großen Masse der Armen und Kranken heraustreten ließ. Nicht nur die verstärkte Suche nach naturwissenschaftlich-medizinischen Erklärungen von Krankheiten führte zu einer intensiveren Erforschung der Ursachen von Behinderungen; auch die Pädagogik wandte sich – wenn auch nur am Rande – den zunächst für bildungsunfähig gehaltenen Blinden, Taubstummen und Schwachsinnigen zu“ (Thoma 2004, 85).

Andererseits geht mit der Pädagogik und der Entstehung der modernen Medizin, vor allem in der Psychiatrie, eine neue Form des Umgangs mit Menschen mit Beeinträchtigungen einher, da deren Krankheiten und Behinderungen nicht länger als „Gottesstrafe“ oder „Besessenheit“, sondern vielmehr als Ausdruck medizinisch zu verstehender Ursachen gesehen wurden. So etablierte etwa Wilhelm Griesinger (1817–1868) das Verständnis von Geistes- als Gehirnkrankheiten und öffnete damit das Feld für das medizinische Verständnis von geistigen Beeinträchtigungen und psychischen Krankheiten. Obwohl das medizinische Menschenbild der damaligen wie der heutigen Zeit dem sozialen in vielem konträr entgegensteht, gehen die beiden Disziplinen doch einige „Kooperationen“ ein und entwickeln dadurch auch Gemeinsamkeiten, wie sie etwa später in der bis heute von einer medizinischen Sichtweise geprägten Professionalität der Heilerziehung zum Ausdruck kommt (Buchkremer 1990, 59). Mit der Ausdifferenzierung und Entstehung der psychiatrischen Anstalten des 19. Jahrhunderts geht dann auch langsam die Erkenntnis einher, dass diagnostische und „therapeutische“ Unterscheidungen notwendig seien. So kategorisiert der schweizerische Arzt Johann Guggenbühl (1816–1862) „Kretine und Blödsinnige“ anders als „Idioten“, denn bei Ersten sei ein – seiner Ansicht nach letztlich behandelbares –„unbekanntes Agens“ am Werke, das „entweder schon vor der Geburt oder später die Ernährung von Gehirn und Rückenmark“ stört, und bei Letzteren sei „die Seele in ihrer irdischen Erscheinung erloschen“ (Hauss 1989, 30).

Der Arzt Alexander Haindorf (1782–1862) teilte in seinem „Versuch einer Pathologie und Therapie der Geistes- und Gemütskrankheiten“ aus dem Jahr 1811 die von ihm vorgefundenen klinischen Bilder der Betroffenen in drei Stufen ein, wovon die leichteste von ihm bereits als „schwerfälliges Lernen“ beschrieben wird und damit eine Nähe zur im Jahr 2017 gebräuchlichen Definition von Lernbeeinträchtigung in Abgrenzung zur stärkeren geistigen Beeinträchtigung aufweist (Hauss 1989). Er kommt damit Wilhelm Griesinger zuvor, der erst 1845 sein Lehrbuch „Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“ herausbrachte und auch dort erst in der dritten Auflage bzw. durch eine post mortem erfolgte Erweiterung die geistige Beeinträchtigung als „Idiotismus und Blödsinn“ aufnimmt.