Schatten über Adlig-Linkunen

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Schatten über Adlig-Linkunen
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Dieter Janz


Kriminalerzählung


Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.deabrufbar

Impressum:

© 2009 Verlag Kern

Inhaltliche Rechte bei Dieter Janz (Autor)

Herstellung: Verlag Kern, Bayreuth, www.verlag-kern.de

Fotografie: Siegfried Franz

Umschlagdesign und Satz: www.winkler-layout.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2012

ISBN 9783944224008

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Widmung

Oktober 1887

November 1887

Dezember 1887

Januar 1888

Februar 1888

März 1888

April 1888

Mai 1888

Juni 1888

Weitere Bücher aus dem KERN Verlag.

Für Tamara

Oktober 1887

Anna und Maria genossen den herbstlichen Waldspaziergang. Es war ein sonniger Tag, die Blätter der Bäume waren in die herrlichsten Farben getaucht und für Oktober war es noch außergewöhnlich warm. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und, wie in den ostpreußischen Masuren üblich, würde es bald deutlich kühler werden. Also sahen die beiden jungen Damen zu, jetzt so bald wie möglich nach Hause zu kommen. Zuhause war das Gut Adlig-Linkunen in Ostpreußen der Familie Kokies, Wilhelm-Antonius und Friederike. Maria war deren Tochter, das jüngere Kind, sie hatte einen noch vier Jahre älteren Bruder, Johannes, von allen meistens Hannes genannt. Dieser hielt sich jedoch, zum Leidwesen seines Vaters, selten in Linkunen auf. Er hatte sich der Juristerei verschrieben und daher ein Jura-Studium in Berlin begonnen. Sein Vater sah in diesem Vorhaben allerdings keinen Sinn; als künftiger Gutsherr brauchte man seiner Ansicht nach keine Kenntnisse im deutschen Reichsrecht. Zumal im Ostpreußen des angehenden 19. Jahrhunderts die Uhren bezüglich der Rechtssprechung und des Rechtsverständnisses etwas anders gingen als im übrigen Preußen. Die Gutsherren und der wohlhabende preußische Landadel waren weitgehend autonom. Auf den großen Gütern walteten und schalteten die Besitzer nach eigenem Gutdünken, teilweise betrachteten sie ihre Untertanen fast als Leibeigene. Andererseits übernahmen sie auch die Verantwortung für sie in jeder Hinsicht: Arbeit, Krankheit, Tod und Versorgung der Hinterbliebenen. Dies funktionierte manchmal mehr recht, manchmal mehr schlecht. Als einzige Autorität akzeptierten die Gutsherren mehr oder weniger den preußischen König und das preußische Militär. Das neuerdings vorhandene deutsche Reich war von geringem Interesse, der deutsche Reichstag ebenso. Dass es einen Deutschen Kaiser gab, nahm man als gegeben hin. Man hätte fast den Eindruck bekommen können, und böse Zungen behaupteten dies sogar, beim ostpreußischen Landadel war die Tatsache, dass der Deutsche Kaiser und der preußische König ein und dieselbe Person waren, nicht bekannt. Im Gegenzug versorgte Ostpreußen das Militär mit Soldaten und Offizieren; als fast ausschließliches Agrarland war es von enormer Bedeutung für das restliche Reich. Die zweit- und drittgeborenen Söhne des Gutsherrn hatten keinen Anspruch auf das Erbe des Gutes, also bot sich für sie eine militärische Karriere als Offizier an. Einer aus ihren eigenen Reihen hatte eine politische Laufbahn eingeschlagen und es immerhin zum Reichskanzler des neumodischen Deutschen Reiches gebracht, ein gewisser Otto von Bismarck.

Im Großen und Ganzen hielt man in Ostpreußen an den alten hierarchischen Strukturen fest. Umso außergewöhnlicher war das Verhältnis zwischen Anna und Maria. Die beiden waren wie Schwestern, etwa gleichaltrig und fast unzertrennlich. Sie waren gemeinsam auf dem Gut Adlig Linkunen aufgewachsen. Solche Freundschaften stellen nicht unbedingt etwas Besonderes dar; nur, Maria war die Tochter der Herrschaften, Anna die von Friedrich und Berta Doepius. Friedrich hatte die Stellung des Butlers im Herrenhaus Kokies, Berta war die Zofe von Friederike Kokies. Es war zwar nicht die Regel, aber hin und wieder kam es schon vor, dass die Kinder von Angestellten und die der Herrschaften gemeinsam aufwuchsen, miteinander spielten und später einen Teil ihrer Freizeit miteinander verbrachten. Aber ein so enges Verhältnis wie zwischen Anna und Maria war etwas ganz Außergewöhnliches, zumal, was die soziale Stellung ihrer Eltern anbelangte, Welten zwischen ihnen lagen. Innerhalb der Dienerschaft hielten Butler und Zofe eine relativ hohe Rangordnung ein, aber dass sich ihre Tochter auf derselben gesellschaftlichen Ebene bewegte wie die ihrer Dienstherren war schon etwas ganz Besonderes. Herr und Frau Kokies behandelten Anna fast wie eine eigene Tochter. Sie durfte am Unterricht durch die Hauslehrer von Maria und Hannes teilnehmen, wodurch sie zu höheren Bildungsweihen gelangte. Auch Hannes sah in Maria fast seine zweite Schwester; der Kontakt zu ihm war in der letzten Zeit etwas spärlich, da er sich die meiste Zeit zwecks Studiums in Berlin aufhielt.

Anna und Maria waren also auf dem Weg nach Hause, als Maria seitlich unter ein paar Büschen im Wald eine Gruppe Steinpilze stehen sah.

„Anna, die können wir uns nicht entgehen lassen!“, rief sie laut aus.

„Was können wir uns nicht entgehen lassen?“, fragte Anna nach.

„Da, sieh doch, die Steinpilze! Die holen wir uns noch!“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, als sie auch schon im Wald verschwand.

„Maria, lass das, es ist schon recht spät! Die Pilze stehen auch morgen noch da; lass uns nach Hause gehen, bevor es dunkel wird. Wir müssen mindestens noch eine Viertelstunde laufen!“ Doch Maria hörte nicht auf Annas Einwände. Anna blieb auf dem Weg stehen, sie verspürte keine Lust, Pilze zu sammeln und wartete ungeduldig auf Marias Rückkehr. Von ganz fern konnte man ein leises Hufeklappern hören, das langsam näher kam. Der oder die Reiter schienen auf demselben Weg zu sein wie die beiden Mädchen, das heißt nur Anna, denn Maria war ja im Wald verschwunden.

Der Weg war ziemlich gerade, so dass man die Pferde bald sehen würde. Und plötzlich tauchten in der Ferne drei Reiter auf, die sich im schnellen Galopp auf sie zu bewegten, offensichtlich, um zum Gut Linkunen zu gelangen. Anna konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Sie kamen in rasantem Tempo näher und kurz bevor sie Anna erreicht hatten, bemerkte diese, dass die drei Gestalten vermummt waren. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun und verspürte den Drang, in den Wald zu Maria zu flüchten, blieb jedoch wie gelähmt auf der Stelle stehen. Die Gruppe erreichte sie. Anna öffnete den Mund und wollte schreien, brachte aber keinen Ton hervor. Zwei der Reiter drängten sie in ihre Mitte und einer von den beiden schnappte sie an den Armen und zog sie auf sein Pferd, als sei sie nur eine Feder. Dann machten sie auf der Stelle kehrt und galoppierten in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Jetzt erst gelang es Anna zu schreien, keine Worte, kein „Hilfe“, sondern nur einen langen, schrillen, Schrei.

Inzwischen war Maria aus dem Wald gerannt gekommen. Sie hatte sämtliche Pilze fallen gelassen, ihre Röcke gerafft und lief, sinnloserweise, den davoneilenden Reitern nach, ständig „Anna! Anna!“ rufend. Diese bemerkten Maria überhaupt nicht und waren schnell verschwunden. Maria blieb stehen, blickte nur fassungslos in die Richtung, in der die drei Gestalten mit Anna von dannen geritten waren. Als sie begriff was passiert war, nahm sie ihre Beine in die Hand und rannte so schnell wie es ging nach Linkunen.

Die drei Gestalten waren etwa zehn Minuten ununterbrochen mit Anna im vollen Galopp geritten, als sie plötzlich anhielten. Anna versuchte sich verzweifelt zu wehren, zu treten, wild um sich zu schlagen, doch die drei Männer hatten sie schnell fest im Griff. Sie fesselten sie an Armen und Beinen und verbanden ihr Augen und Mund. Dann saßen sie wieder auf. Anna wurde wie ein Sack Mehl von einem der Reiter über den Rücken des Pferdes gelegt. Der Ritt ging nun in demselben Tempo weiter wie zuvor. Wie lange sie unterwegs waren, konnte Anna nicht beurteilen; ihr war, als ob sie zwischendurch bewusstlos wurde. Schließlich stoppte die Gruppe. Anna wurde vom Pferd gehoben, sie war inzwischen völlig widerstandslos. Da sie an den Füßen gefesselt war, musste sie getragen werden. Nach ein paar Metern hörte sie, wie eine knarrende Tür geöffnet wurde und sie vermutete, dass sie einen Raum betraten. Jetzt wurde Anna auf einen Sessel gesetzt. Seltsamerweise geschah dies alles recht behutsam. Nach dem abenteuerlichen und alles andere als sanften Ritt, hatte sie eine solche Behandlung nicht erwartet. Ihre Entführer sprachen kein einziges Wort. Man nahm ihr zunächst die Augenbinde ab und Anna fand sich in einem Raum wieder, der sich offenbar in einem Holzhaus oder einer großen Holzhütte befand. Er war spärlich, aber nicht unbedingt ungemütlich eingerichtet. Sie saß auf einem abgeschabten, grauen Ohrensessel, der aber recht bequem war. Dieser befand sich ziemlich in der Mitte des Raumes, mit dem Rücken zu der Tür, durch die sie hereingekommen waren. An der Wand gegenüber stand ein Herd, der allerdings nicht befeuert wurde; etwas seitlich davon befand sich eine weitere verschlossene Tür. Die beiden anderen Wände waren mit jeweils zwei kleinen Fenstern versehen, die nicht mit Gardinen behangen oder Läden verschlossen waren, so dass Anna erkennen konnte, dass draußen inzwischen tiefe Dunkelheit herrschte. Ansonsten befanden sich noch ein robuster Holztisch mit vier Stühlen und eine Chaiselongue, mit einer Wolldecke darauf, im Raum.

 

Über dem Herd hing ein Regal mit diversem metallenen Koch- und Essgeschirr, Löffeln aus Holz und Messern. Ihre drei Entführer waren noch immer vermummt und stumm. Anna bemerkte, dass sie mit Pistolen und Messern bewaffnet waren, von oben bis unten schwarz gekleidet, ihre Kapuzen enthielten nur an den Augen, Nasen und Mündern kleine Schlitze. Einer von ihnen machte sich jetzt am Herd zu schaffen und entfachte ein Feuer, das laut zu knistern anfing. Ein anderer bereitete einen Wasserkessel vor, den er auf den Herd stellte. Der Dritte stand ihr schweigend gegenüber, etwas breitbeinig, so dass ihr sofort klar wurde: jeglicher Versuch, etwas ihrerseits zu unternehmen, wäre zwecklos. Anna litt furchtbare Angst. Selbst wenn sie hätte schreien können, es hätte nichts genutzt. Wahrscheinlich hielten sie sich hier an einem völlig einsamen Ort auf, mitten in den masurischen Wäldern, fern ab von jeglicher menschlichen Besiedlung. Plötzlich fing sie an zu zittern, was ihr anfangs zu unterdrücken gelang, brach jetzt völlig aus ihr heraus. Ihr Bewacher trat auf sie zu; sie geriet in Panik, hatte keine Möglichkeit, ihr Gesicht mit den gefesselten Händen vor möglichen Schlägen zu schützen. Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Die vermummte Gestalt legte sanft die rechte Hand auf ihren Kopf und flüsterte: „Sei ruhig, sei ruhig! Dir wird nichts geschehen.“ Anna starrte ihn an, direkt in die von den Schlitzen freigegebenen Augen. Und dieser Blick war keineswegs feindselig, man hätte fast meinen können, diese Augen lächelten sie an! So grotesk es in dieser Situation auch war, Anna beruhigte sich, das Zittern ließ nach. Noch einen Augenblick lang sahen sie sich an, dann zückte die Gestalt ein Messer, aber eher langsam und bedächtig, als um zu demonstrieren, dass keine Gefahr bestand, und zerschnitt Annas Hand- und Fußfesseln. Unwillkürlich rieb sie sich ihre Handgelenke, obwohl diese nicht schmerzten. Die anderen beiden Männer waren damit beschäftigt, irgendetwas Essbares zuzubereiten. Der eine unterbrach seine Tätigkeit und kam zu Anna, die nun ohne Fesseln zusammengesunken in dem Sessel saß. Er sprach sehr leise und mit einem russischen Akzent: „Hör zu Maria, dir wird nichts angetan, aber du musst tun, was wir verlangen. Das ist nicht viel. Du musst einfach nur eine Weile hier bleiben, bis wir dich wieder fortbringen; keine Fragen stellen, keinen Aufstand machen. Du wirst eine Zeit lang hier leben, schlafen und essen. Dann wirst du wieder frei sein. Nicht schreien, nicht rufen, nur das Nötigste reden. Ist das klar?“ Anna wollte gerade sagen „Aber ich bin nicht Maria, ich bin Anna!“, als sie erkannte, dass das die Situation nur komplizierter machen konnte. Eine Verwechslung! Man hatte Maria entführen wollen und sie erwischt. Die drei Gestalten glaubten, sie hätten die Tochter der Herrschaften Kokies in ihrer Gewalt! Wenn sie sich jetzt als Anna Doepius zu erkennen gegeben hätte, blieb die Möglichkeit, dass sie ihr nicht glaubten, oder dass sie diese als völlig nutzlos betrachteten. Nicht auszudenken, was im zweiten Fall geschehen würde! Nutzlos in den Augen von skrupellosen Entführern zu sein, bedeutete zweifellos den sicheren Tod. Also widersprach Anna nicht. Sie nickte nur. Sie hatte Tränen in den Augen und einen Kloß im Hals. Das alles war zu viel für sie. Ihr bisheriges Leben war recht sorglos verlaufen; sie liebte ihre Eltern und fühlte sich von ihren Eltern geliebt. Sie hatte sich immer geborgen und beschützt gefühlt. Sie hatte Maria und Hannes als Freunde, ja, die Herrschaften Kokies erkannte sie jetzt als liebevolle Angehörige. All das war jetzt weit, sehr weit weg. Anna brach in Tränen aus. Nun hielt auch die dritte Gestalt inne in ihren Tätigkeiten am Herd. Außer dem Schluchzen und dem Knistern des Feuers im Herd war nichts in dem Raum zu hören. Da kam wieder die erste vermummte Gestalt, legte die Hand auf ihren Kopf und sagte: „Frau, beruhige dich, wir werden dir nichts tun, lass gut sein!“ Anna wurde etwas ruhiger. Plötzlich drehte sich der Geselle, der bisher am Herd zugange war, um, schmiss das in seiner Hand befindliche metallene Geschirr zu Boden und schrie: „Ich halte das nicht mehr aus!“, öffnete die Tür neben dem Herd und verschwand dahinter.

So schnell war Maria noch nie in ihrem Leben gerannt. Weder ihre Reifröcke noch die fürs Rennen völlig ungeeigneten Schuhe hinderten sie daran. Endlich erreichte sie das Haus des Gutsverwalters.

Otto Goldfeld war schon Gutsverwalter zu Zeiten der Eltern von Wilhelm-Antonius Kokies. Er war das, was man am besten mit einer „treuen Seele“ beschreibt, dazu ein freundlicher liebenswürdiger Herr. Er bewohnte das Verwalterhaus mit einer Magd, die ihm und einem gutmütigen Jagdhund, einem ebenfalls betagten Zeitgenossen, der längst nicht mehr zur Jagd taugte, den Haushalt bestellte. Goldfeld war schon seit Jahren Witwer. Trotz seines hohen Alters konnten Kokies sich auf ihn als perfekten und zuverlässigen Gutsverwalter hundertprozentig verlassen. Seine altersbedingten körperlichen Gebrechen kompensierte er völlig durch seinen hellwachen Verstand. Auf den ersten Blick wirkte er durchaus jünger, als er tatsächlich war; er war immer noch eine stattliche Erscheinung, relativ groß, mit schon grauem, aber dennoch vollem, Haar, einem gepflegten Kaiser-Wilhelm Bart und stets einem gutmütigen Lächeln auf den Lippen. Letzteres verging ihm aber, als er Maria auf das Haus zurennen sah. Ihre Frisur war völlig aufgelöst, ihre Kleidung unordentlich. Er stand in der Haustür und Maria fiel wie ein Kind in seine Arme. Für sie war Goldfeld weniger ein Angestellter ihres Vaters; sie sah in ihm eher einen Ersatz-Großvater, weshalb sie ihn auch Opa Otto nannte. Ihre eigenen Großeltern, sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits, hatte sie kaum gekannt, sie waren verstorben, als sie noch ein kleines Kind war.

Außer Atem brachte Maria in den Armen von Goldfeld kaum ein Wort heraus, sie stammelte nur: „Anna, Anna…“ Er glaubte Anna sei ein Unfall zugestoßen, vielleicht sei sie gestürzt, über eine Wurzel gestolpert, hatte sich den Fuß gebrochen und lag nun hilflos im Wald bei der zunehmenden Dunkelheit.

„Was ist mit Anna geschehen, Maria? Nun beruhige dich erst einmal, komm ins Haus!“ Vorsichtig führte er Maria in seine Wohnstube, wo in einem Kachelofen ein Feuer knisterte. Inzwischen war Erna, die Magd, aus der Küche gekommen und verfolgte das Geschehen mit sichtlichem Erstaunen, immer wieder „Oh Gottje, oh Gottje, das gnädige Fräuleinje!“ rufend, ohne überhaupt zu wissen, worum es ging.

Nachdem Goldfeld Maria vorsichtig auf einem bequemen Sessel platziert hatte, fand sie langsam wieder ihre Fassung.

„Maria, was ist geschehen, hatte Anna einen Unfall?“, fragte er erneut.

„Nein, sie ist entführt worden“, antwortete sie, wobei ihr bei ihren eigenen Worten ein Schauer über den Rücken lief. Otto Goldfeld verstand zunächst nicht, was sie meinte.

Wenn eine junge Frau zur damaligen Zeit entführt wurde, war das meistens eine vornehme Umschreibung dafür, dass sie durchgebrannt war, meist mit einem Liebhaber, den die Eltern missbilligten. Er konnte aber diesbezüglich keinen Zusammenhang mit Anna herstellen, vor allem nicht im Rahmen eines Waldspazierganges mit ihrer Freundin. Und die Tatsache, dass Maria völlig aufgelöst bei ihm angekommen war, ließ auf ein schlimmes Ereignis schließen.

Er wiederholte sich: „Maria, was um Himmels Willen ist geschehen?“. Endlich war Maria so weit beruhigt, dass sie einigermaßen zusammenhängend erzählen konnte, was sich ereignet hatte. Jetzt erkannte er sofort den Ernst der Lage. Er sagte zu Erna, die in der Zimmertür stand und mit weit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen zugehört hatte: „Lauf so schnell du kannst zu Peer und richte ihm aus, er soll mit allen Wildhütern, derer er so schnell wie möglich habhaft werden kann, sofort zum Herrenhaus kommen. Ich werde auch dort sein. Verlier keine Zeit, lauf los!“ Erna drehte sich auf dem Absatz um und eilte davon.

Bei Peer handelte es sich um den Wildhüter Nummer Eins des Gutes Linkunen, gewissermaßen den Chef-Wildhüter.

Goldfeld wandte sich Maria zu: „Wir beide gehen jetzt zu deinen Eltern, sie machen sich bestimmt schon Sorgen. Wir müssen auch Friedrich und Berta unterrichten, das wird nicht leicht sein. Fühlst du dich in der Lage, die paar Meter zu laufen oder soll ich eine Kutsche anspannen?“

„Natürlich schaffe ich das!“, antwortete Maria und wollte noch hinzufügen: „Die lächerlichen zwei- bis dreihundert Meter bis zum Herrenhaus! Ich bin die ganze Strecke durch den Wald gerannt!“ Aber sie unterließ es; Opa Otto hatte es gut gemeint und war besorgt um sie, die Worte hätten ihn vielleicht gekränkt. Sie sagte auch nicht, dass sie ja gleich aus dem Wald nach Hause hätte rennen können, sein Haus aber das Nächstliegende war und sie deshalb sofort zu ihm gekommen war. Also machten sie sich auf den Weg. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Nach ein paar Metern ergriff Maria Ottos Arm und lehnte sich an ihn. Jetzt merkte sie, dass seine Frage, ob sie es schaffen würde, gar nicht so unberechtigt war. Die letzten Meter kamen ihr schwerer vor als die ganze Strecke durch den Wald.

Das Herrenhaus war hell erleuchtet, das Hauptportal war nicht verschlossen, so dass sie, ohne die Glocke betätigen zu müssen, eintreten konnten. Im Vestibül hielt sich niemand auf, so dass ihre Ankunft auch von niemandem bemerkt wurde. Maria schlug sofort den Weg zum Arbeitszimmer ihres Vaters ein, in der Hoffnung, ihn dort anzutreffen. Goldfeld folgte ihr. Dort angekommen öffnete sie die Tür ohne anzuklopfen. Dies hätte sich Goldfeld nie gewagt, obwohl die Regeln auf Gut Adlig-Linkunen bei weitem nicht so streng waren wie auf anderen Gütern. Unter anderen Umständen hätte Maria auch angeklopft, aber jetzt verschwendete sie keinen Gedanken daran. Tatsächlich hielt sich Wilhelm-Antonius in seinem Zimmer auf und, was relativ selten geschah, auch Friederike, ihre Mutter. Als Maria eintrat, riefen ihre Eltern fast wie aus einem Munde: „Gott sei Dank!“ Und ihre Mutter fügte hinzu: „Warum kommt ihr so spät nach Hause, das Personal hat sich sogar schon gesorgt, insbesondere natürlich Friedrich und Berta!“

Erst jetzt bemerkten sie Otto Goldfeld, der nun auch das Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Aus der Situation heraus war deutlich zu erkennen, dass etwas passiert war. Und nun hörte man von draußen das Klappern vieler Pferdehufe und Hundegebell.

„N’Abend“, sagte Goldfeld etwas verlegen, während Herr und Frau Kokies ihn anstarrten. „Maria wird Ihnen erzählen, was passiert ist. Wenn die Herrschaften mich bitte entschuldigen wollen. Draußen haben sich die Wildhüter versammelt und ich muss Anweisungen geben. Es wäre auch ratsam, wenn sie nach dem Butler und Berta schicken würden. Es geht um Anna.“

Friederike spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Sie suchte sich einen Stuhl, Wilhelm-Antonius schaute aus dem Fenster und erblickte etwa ein halbes dutzend Wildhüter zu Pferde mit Fackeln in den Händen, die Gewehre geschultert, mit ihren Jagdhunden. Maria sah aus, als ob sie den Teufel gesehen hätte. Ihre Aufmachung entsprach ganz und gar nicht mehr dem Zustand, als sie mit Anna von zuhause aufgebrochen waren. Ihr Vater ging zu ihr und führte sie zu seinem Ohrensessel, einem mächtigen Möbelstück im Arbeitszimmer, damit auch sie sich setzen konnte. Er war auch derjenige, der zuerst die Sprache wieder fand.

 

„Was ist euch zugestoßen, Maria, seid ihr überfallen worden?“ Maria nickte mit dem Kopf und fing an, die gesamte Geschichte zu erzählen. Als er hörte, dass Anna die Hauptbetroffene war, sagte er: „Warte einen Moment, wir wollen Friedrich holen.“ Er läutete nach dem Butler und ein paar Minuten später erschien er im Arbeitszimmer.

Wohlahnend, dass Anna etwas zugestoßen sein könnte, kam Berta gleich mit. Als alle im Zimmer versammelt waren, sprach Wilhelm-Antonius zum Butler und dessen Frau Berta gewandt: „Friedrich, Berta, wie wir so eben erfahren haben, sind Anna und Maria von drei unbekannten Reitern überfallen worden. Unglücklicherweise haben sie dabei Anna entführt. Maria wird uns jetzt die Einzelheiten berichten.“ Mit den letzten Worten drehte er sich zu seiner Tochter um, damit sie dies unglückselige Erlebnis erzählen konnte. Maria hatte sich inzwischen wieder soweit im Griff, dass sie ohne hysterische Elemente und relativ langsam sprechen konnte. Während ihrer Rede fing Berta leise an zu schluchzen und auch Friedrich musste mit den Tränen kämpfen. Friederike stand auf und ging zu ihrer Zofe, die auf einem Stuhl nahe ihrem saß und legte vorsichtig einen Arm auf Bertas Schulter. Alle gesellschaftlichen Regeln in den Wind schießend, schmiegte diese sich an Friederike und aus dem leisen Schluchzen wurde ein lautes Weinen. Als Maria ihre Ausführungen beendet hatte, herrschte ein paar Minuten betretenes Schweigen. Nur Bertas Weinen erfüllte den Raum. Gutsherr Kokies sagte schließlich: „Wir werden alles Erdenkliche tun, um Anna zu finden und zu befreien. Ich denke, sie ist wohlauf.“ Woher er die letzte Vermutung nahm, erklärte er nicht. Es war wohl mehr der Versuch eines Trostes denn eine ehrliche Überzeugung. Dann fuhr er fort: „Goldfeld, zuverlässig wie immer, hat offenbar einige Wildhüter mobilisiert und sie durchkämmen den Wald mit Hunden. Des Weiteren überlege ich mir, ob wir nicht morgen die Kriminalpolizei hinzuziehen. Es handelt sich immerhin um ein schwerwiegendes Verbrechen und wenn die Täter gefasst sind, müssen sie zweifellos einem Gericht zugeführt und verurteilt werden!“

In der Tat gab es in der nächstgelegenen Kleinstadt Hirschburg eine kriminalpolizeiliche Abteilung. Sie wurde durch einen Polizeileutnant namens Peter Bouffier und dessen Assistenten Gustav Hinrich vertreten. Bouffier war Hugenotten-Nachkomme und wurde deshalb hin und wieder als „der Franzmann“ in der Bevölkerung bezeichnet. Er hatte in der preußischen Armee gedient, aber das Militärische entsprach nicht seinem Wesen und eine glänzende Offizierskarriere war für ihn kaum zu erwarten. Auch die Tatsache, dass er keinen Adelstitel führte, wirkte sich eher hinderlich aus. Die entscheidende Rolle spielte aber die Tatsache, dass er sich in eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen verliebt hatte. Als preußischer Offizier der unteren Dienstgrade bedürfte es für eine Heirat der Genehmigung der Heeresleitung, dies wiederum war von der finanziellen Situation abhängig. Ein preußischer Leutnant genoss durchaus ein hohes gesellschaftliches Ansehen, seine Einkünfte standen aber keinesfalls im Verhältnis zu dieser sozialen Achtung. Mit seinem Gehalt war er kaum in der Lage, einen angemessenen Haushalt mit Dienstboten zu unterhalten. Wenn also weder er noch seine zukünftige Frau über private Mittel verfügten, hatte er kaum eine Chance, dass eine Eheschließung genehmigt wurde. Andererseits konnte er ehrenhaft aus der Armee entlassen werden und hatte dann Anspruch auf eine Stellung als preußischer Beamter und diese Möglichkeit nahm er in Anspruch. So kam er auf den Posten des Polizeileutnants im ostpreußischen Hirschburg, heiratete seine Elisabeth und führte ein beschauliches Leben. Mord und Totschlag oder auch Entführungen gehörten absolut nicht zum Alltag in seinem Wirkungsbereich. Der ihm unterstellte Hauptwachtmeister Gustav Hinrich war von Beginn seiner beruflichen Laufbahn an Polizist. Ein korrekter, etwas steif wirkender Beamter Mitte 50, gut 20 Jahre älter als sein Chef. Auch wenn er versuchte, so viel Autorität wie möglich auszustrahlen, konnte man ihn dennoch als gutmütig bezeichnen.

Wilhelm-Antonius Kokies würde also am nächsten Tag die beiden Polizeibeamten bitten lassen, nach Adlig-Linkunen zu kommen. Die Krisensitzung in Kokies Arbeitszimmer wurde aufgelöst, Friederike rief nach der Haushälterin und bat sie, sich um Berta zu kümmern, während sie sich selbst ihrer Tochter zuwandte; auch der Butler schickte sich an, das Arbeitszimmer zu verlassen.

„Ach, Friedrich bleiben Sie doch noch einen Moment hier, ich möchte noch unter vier Augen mit Ihnen reden“, sagte jedoch Kokies und bat ihn, Platz zu nehmen.

Der Butler war eine stattliche Erscheinung, recht groß, breitschultrig und mit vornehmem, fast edel wirkendem Gesicht. Sein Haar war dunkel und noch voll. Er hatte stets eine gerade Haltung, nicht steif, sondern eher würdevoll. Aber jetzt bot sein Erscheinungsbild einen völlig anderen Anblick. Er wirkte eingesunken, sein Gesicht grau, von Gram gezeichnet. In dem Sessel, in dem er jetzt saß, wirkte er fast wie ein Häufchen Elend.

„Friedrich, Sie und Berta sind schon sehr lange bei uns und haben uns immer treu gedient“, sprach Kokies. „Im Laufe der Jahre ist mehr als nur ein Angestelltenverhältnis entstanden, ich möchte es fast als eine Art Freundschaft bezeichnen. Anna bedeutet meiner Frau und mir sehr viel, sie ist für uns wie eine zweite Tochter. Unser ganzes Mitgefühl gilt Ihrer Familie.“

Wilhelm-Antonius legte einen Arm auf Friedrichs Schulter. Dieser brachte nur ein tränenersticktes „Danke, danke“ hervor.

„So, und jetzt entlasse ich Sie zu Ihrer Frau, die braucht Sie jetzt dringend.“

An ein ordentliches Abendessen war an diesem Tag nicht mehr zu denken. Friederike, Wilhelm-Antonius und ihre Tochter nahmen im Kaminzimmer einen kleinen Imbiss ein.

„Ich kann immer noch nicht glauben, was passiert ist, alles kommt mir vor wie ein Albtraum, ich hoffe ständig aufzuwachen und der Spuk ist vorbei“, sagte Maria in leisem Ton.

„Geh auf dein Zimmer und leg dich hin, versuche, ein wenig zu schlafen.“ antwortete ihre Mutter.

Aber an Schlaf war diese Nacht bei keinem im Hause zu denken. Auch Friederike und Wilhelm-Antonius hatten sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, das Licht gelöscht und versuchte ein wenig Ruhe zu finden; aber sie machten dennoch kein Auge zu. Immer wieder sprachen sie miteinander. Friedrich und Berta hatten sich gar nicht erst hingelegt, zu groß waren die Aufregung und die Sorge um ihre Tochter.

In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages, es war noch dunkel draußen, kehrten Peer und seine Wildhüter aus den Wäldern zurück. Peer ließ sich sofort bei Herrn Kokies melden und dieser empfing ihn, nachdem er sich so schnell wie möglich angekleidet hatte. Entsprechend war sein äußeres Erscheinungsbild. Wilhelm-Antonius legte noch nie großen Wert auf besonders elegante Kleidung und seine Frau musste noch oft Hand an ihn legen, um seine Kleidung und Frisur zu korrigieren. Dies glich zuweilen einem kleinen Kampf, wenn er sich sträubte und Friederike darauf bestand, dass er dieses oder jenes Kleidungsstück wechselte oder noch einmal von einem Kamm Gebrauch machen sollte.

„Wundere dich nicht, wenn eines Tages ein Fremder hier erscheint und dich bittet, ihn deinem Herrn zu melden“, war einer ihrer häufigsten Sätze in diesem Zusammenhang. Aber an diesem Morgen achtete nicht einmal sie auf seine Aufmachung. Kokies, ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann, wirkte heute fast wie eine Vogelscheuche. Er empfing Peer in seinem Arbeitszimmer und bemerkte sofort dessen niedergeschlagene Haltung.

„Wir haben die ganze Nacht über gesucht, jede uns bekannte Höhle und Hütte durchsucht. Nichts. Keine Spur von Anna und den Entführern. Es hat nicht geregnet, der Boden ist trocken, so dass keine nennenswerten Hufspuren zu erkennen sind“, sprach Peer und fuhr fort:

„Die Männer brauchen jetzt eine Pause, aber wir wollen bei Tageslicht die Suche fortsetzen. In der Dunkelheit kann man leicht etwas übersehen.“

„Ich weiß, dass Sie alles in Ihrer Macht stehende tun“, antwortete Wilhelm-Antonius.

„Und bin Ihnen auch sehr dankbar dafür. In der Tat müssen Sie Ihr Äußerstes geben. Ich bitte Sie, bei Tagesanbruch jemanden nach Hirschburg zu schicken und Bouffier zu beauftragen, nach Adlig-Linkunen zu kommen.“

Kaum hatten sie ihr Gespräch beendet, als Otto Goldfeld an der Tür des Arbeitszimmers klopfte.

„Herein“, rief Kokies und der Verwalter betrat außer Atem den Raum, in der Hand einen mittelgroßen Zettel haltend. Peer hatte sich schon verabschiedet und war gegangen.

„Herr Kokies…“, begann Otto zu sprechen und musste sofort wieder eine Pause machen, um Luft zu holen. Er litt schon seit Jahren an Asthma, was sich in Alltagssituationen kaum bemerkbar machte, großen Anstrengungen war er jedoch nicht mehr gewachsen. Es war offensichtlich, dass er im Laufschritt zum Herrenhaus geeilt war. Nun hielt er Kokies den Zettel hin und fuhr fort: „Das da lag bei mir… bei mir vor der Tür. Irgendjemand muss diesen Zettel dort deponiert haben, ohne dass ich oder Erna es bemerkt haben.“