Aufstieg durch Bildung?

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Aufstieg durch Bildung?
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Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

erinnern Sie sich noch an den „Pisa-Schock“ vor gut zehn Jahren? Das Urteil der internationalen Schulstudie war hart: Das deutsche Schulsystem sei, was die Schülerleistungen angeht, allenfalls Mittelmaß. Weltmeister war Deutschland nur in sozialer Ungerechtigkeit; in keinem anderen Land bestimmte die soziale Herkunft die Schülerleistung so stark wie bei uns.

So schlimm ist es zwar nicht mehr – bei der Pisa-Studie 2009 lag Deutschland in Hinblick auf die Ungerechtigkeit im internationalen Durchschnitt – aber es muss uns weiterhin bekümmern, dass Jugendliche bei gleicher Leistung unterschiedliche Bildungschancen haben, abhängig vom Elternhaus. Die Frage ist, ob die Schule daran etwas ändern kann oder ob sie mit diesem Ansinnen überfordert ist. DIE ZEIT hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit diesem Thema befasst. Einige der interessantesten Artikel haben wir hier zusammengefasst. Ich wünsche Ihnen beim Lesen viel Freude und Erkenntnisgewinn.

Thomas Kerstan, Leiter des Ressorts Chancen der ZEIT

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

ABSTIEGSANGST UND AUFSTIEGSHOFFNUNG

Chancengleichheit: Ich Arbeiterkind

Er ist der Sohn einer Friseurin und eines Kaminkehrers. Sein Lehrer traute ihm nicht viel zu und empfahl die Hauptschule. Unser Autor Marco Maurer erzählt, wie ihm gegen die Mechanismen des Schulsystems der Aufstieg gelang

Bildungskluft: Die geteilte Straße

Victor und Ercan wohnen in Berlin nur wenige Schritte voneinander entfernt – doch Victor wird einmal studieren, Ercan um eine Ausbildung kämpfen. Wie viele Kinder in Deutschland trennt sie eine fast unüberwindbare Bildungskluft

Bildungsstudie: Aufwärts oder abwärts?

Viele junge Deutsche sind gebildeter als ihre Eltern – das belegt eine neue Studie. Seltsam nur: Kürzlich behauptete eine andere Studie das Gegenteil.

NACH DEM PISA-SCHOCK

Pisa-Studie 2010: »Das darf uns keine Ruhe lassen«

Ein Gespräch mit den Leitern der gerade veröffentlichten deutschen Pisa-Studie über Erfolge und Schwächen der Schulen

Pisa-Rückblick: Der heilsame Schock

Zehn Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie. Was bleibt?

Demografischer Wandel: »Deutsch ist der Schlüssel«

Sinkende Schülerzahlen, mehr Einwandererkinder – der Pisa-Forscher Jürgen Baumert warnt vor einem Bildungsabstieg

FRÜH ÜBT SICH

Porträt: Lasst uns früher anfangen!

Bildung für die Kleinsten – das ist das Lebensthema von Ilse Wehrmann. Inzwischen schätzt auch die Wirtschaft ihre Arbeit

Frühkindliche Bildung: Fördern, bevor es zu spät ist

Warum frühkindliche Bildung wichtig ist und weshalb sie in Deutschland nur mühsam vorankommt

Vorschule: »Auf die Familie kommt es an«

Frühförderung zahlt sich aus, für die Kinder und für die Gesellschaft, sagt der Wirtschaftsnobelpreisträger James Heckman

MEHR CHANCENGLEICHHEIT IN DER SCHULE

Bildungsgerechtigkeit: Ist die Schule gerecht?

Schwachen Schülern ist am besten geholfen, wenn wir akzeptieren, dass nicht alle gleich sind

Schulsystem: »Wir dürfen nicht stolz sein«

Der Bildungsforscher Ulrich Trautwein über die Ungerechtigkeiten des deutschen Schulsystems

Grundschule: »Die Lesefreude ist gewachsen«

Ein Gespräch mit dem Bildungsforscher Wilfried Bos über den Unsinn kleiner Klassen und den Segen zusätzlicher Lehrkräfte

Dreigliedriges Schulsystem: Ideologie beiseite!

Das gegliederte Schulsystem ist gerechter als gedacht, behauptet eine neue Studie. Man sollte sie ernst nehmen

Gymnasium: Eine Schule lernt dazu

Türkisch als Leistungskurs, Förderkurse zum Deutschlernen und Ganztagsbetrieb – sieht so das Gymnasium der Zukunft aus?

Hauptschule: Uns braucht keiner

Der Hauptschulabschluss hat einen üblen Ruf. Wer nicht mehr vorweisen kann, muss sich auf viele Absagen gefasst machen. Unsere Autorin hat drei Hauptschulabgänger zwei Jahre lang begleitet

Bildungsabsteiger: »Schule sollte keine Last sein«

Warum ist Mitleid falsch im Umgang mit jugendlichen »Bildungsverlierern«? Ein Gespräch mit dem Streetworker Taner Avci

Integration: »Mich hat das angestachelt«

Drei Einwandererkinder über eine gerechtere Schule und ihren eigenen Weg in die große Politik

KEINE KARRIEREAUSSICHTEN OHNE STUDIUM?

Pro & Contra: Brauchen wir noch mehr Studenten?

Rund die Hälfte der Schulabgänger nimmt inzwischen ein Studium auf. Noch immer zu wenige, kritisiert die OECD, die Denkfabrik der Industrieländer, die auch die Pisa-Studie initiiert hat. Wir haben zwei Bildungsfachleute um ihre Meinung gebeten

Studienabbrecher: Kein Beistand, nirgends

Viel zu selten schaffen es Zuwandererkinder auf die Uni – und häufig zählen sie zu den Studienabbrechern. Jetzt stellen sich die Hochschulen dem Problem

Zweiter Bildungsweg: Praktischer Umweg

Auch ohne Abitur wird man zum Studium zugelassen – unter einer Voraussetzung

Ingenieure: Auf dem Weg nach oben

Ingenieurwissenschaften sind klassische Studiengänge für Aufsteiger: Jeder zweite Student hat Eltern, die selbst nie an der Uni waren

ZEIT Schülercampus

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Impressum

Abstiegsangst und Aufstiegshoffnung – Bildungsgefälle in Deutschland

Chancengleichheit
Ich Arbeiterkind
Er ist der Sohn einer Friseurin und eines Kaminkehrers. Sein Lehrer traute ihm nicht viel zu und empfahl die Hauptschule. Unser Autor Marco Maurer erzählt, wie ihm gegen die Mechanismen des Schulsystems der Aufstieg gelang

VON MARCO MAURER

DIE ZEIT, 24.01.2013 Nr. 05

Sie nennen mich Arbeiterkind: die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder von der CDU, der ZEIT-Herausgeber Helmut Schmidt, die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, der Grünen-Chef Cem Özdemir. In einem seltenen, Parteien und Weltanschauungen übergreifenden Konsens finden sie alle denselben Begriff, wenn sie von Leuten wie mir sprechen.

Ich bin jetzt 32 Jahre alt, und das Wort Arbeiterkind begleitet mich – Sohn eines Kaminkehrers und einer Friseurin – fast mein ganzes Leben lang.

Mit Herrn Proksch fing es an. Heute, 21 Jahre später, stehe ich vor seiner Haustür. Gleich werde ich ihn wiedersehen. Ich drücke die Klingel, höre Schritte, die Tür öffnet sich.

Ich muss an früher denken.

Zum ersten Mal begegnete mir Herr Proksch im Sommer 1991, auf der Hauptschule in Lauterbach, einem Dorf im bayerischen Teil von Schwaben. Er war ein stämmiger Mann mit breitem Gesicht, der gerne braune Pullover trug. Mein Lehrer, Klasse 6b.

An einem Montag im Frühjahr 1992 empfing er dann meine Mama. Es war Elternsprechtag. Im Klassenzimmer saß Herr Proksch leicht erhöht hinter seinem Pult, auf dem Bücher und Ordner lagen. Meine Mama hatte auf einem der Kinderstühle Platz genommen. Es ging darum, auf welche weiterführende Schule ich gehen sollte: Real- oder Hauptschule. Die wenigen Gymnasiasten, die es in unserem Dorf gab, hatten uns nach der vierten Klasse verlassen.

»Marco sollte auf der Hauptschule bleiben, Frau Maurer, die Realschule ist nichts für ihn.«

Das war Herrn Prokschs erster Satz. Meine Mama hat es mir später erzählt. Das ganze Gespräch.

»Meinen Sie wirklich, Herr Proksch?«

»Er hat im Zeugnis drei Dreien in den Kernfächern, das sind zwei Zweien zu wenig. Er wird das nicht schaffen.«

»Wir haben gerade eine schwierige Zeit daheim.«

Meine Mama sprach von Umzügen, Schulwechseln und der Trennung von ihrem Lebensgefährten.

»In den Jahren zuvor war er doch besser«, sagte sie. »Er hatte immer nur Zweien im Zeugnis, er könnte den Aufnahmetest für die Realschule machen.«

»Das hat doch keinen Wert bei ihm, Frau Maurer.«

Als Herr Proksch das sagte und den Kopf schüttelte, stand meine Mama auf, nahm ihren roten Mantel und verließ den Klassenraum, in dem das Wort »Arbeiterkind« in der Luft hängen blieb.

»Vielen Dank, Herr Proksch!«

Heute, mehr als 20 Jahre später, sagt meine Mama, während sie an einer Zigarette zieht, sie habe sich damals machtlos gefühlt. Sie, die Volksschülerin und Friseurin, wagte es nicht, ihm, dem Akademiker, zu widersprechen.

Diese Erzählung deckt sich mit etlichen Studien zum deutschen Bildungssystem. Lehrerempfehlungen werden von Angehörigen einer bildungsfernen Schicht – dazu zählt meine Mama – meist hingenommen. Akademiker dagegen kämpfen um die Zukunft ihrer Kinder, sie schieben sie mit aller Macht in Richtung Abitur. Geld für Nachhilfe haben sie, und wenn nichts mehr hilft, drohen sie mitunter mit dem Anwalt.

Bei meiner Mama dagegen genügten ein paar Worte des Lehrers, um den Zweifel an meiner Leistungsfähigkeit zu säen. Einen Zweifel, der mich jahrelang begleiten sollte.

Ich war damals elf. Nachdem meine Mutter mir von Herrn Prokschs Zukunftsprognose erzählt hatte, fragte ich mich: Was soll jetzt aus mir werden? Ein Ziegelklopfer? Wie Ali?

 

In einem Ort nicht weit von meinem Zuhause stand eine kleine Ziegelfabrik. Dort klopfte ein Mann mit einem Gummihammer auf frisch gebrannte Dachziegel, die ihm ein Fließband vorsetzte. Acht Stunden am Tag, etwa ein Ziegel pro Sekunde. Der Mann prüfte den Härtegrad. Er hatte dunkle Haut und einen Schnurrbart. Wir nannten ihn Ali.

Bis zu jenem Elterngespräch hatte ich gut gelebt mit dem deutschen Bildungssystem: Ich hatte nämlich nicht viel von ihm bemerkt. Ich hatte ein bisschen Hausaufgaben gemacht, keine Sorgen gekannt, war Kind geblieben. Jetzt aber sah ich es auf einmal vor mir, dieses System. Groß und mächtig. Und ich war darin gefangen, ganz unten.

Ich erzähle das, weil ich der Meinung bin, dass jeder Mensch die Chance haben sollte, etwas aus seinem Leben zu machen. Im deutschen Bildungssystem aber gibt es etwas, das dem im Weg steht: die Herkunft. Die Macht der Vergangenheit.

Von 100 Akademikerkindern schaffen 71 den Sprung auf die Universität, von 100 Nichtakademikerkindern nur 24. Das ist die deutsche Wirklichkeit im 21. Jahrhundert. Diese Zahlen sind kein Resultat unterschiedlicher Intelligenz. Dutzende Studien belegen, dass die Kinder von Fließbandarbeitern, Verkäuferinnen und Handwerkern, von Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und Migranten auch bei exakt gleicher Leistung schlechter benotet werden. Wo Akademikerkinder locker durchkommen, bleiben die anderen hängen. Sie stolpern in Prüfungssälen und Klassenräumen, Lehrerzimmern und Elternhäusern über unsichtbare Hindernisse.

Ich glaube einige dieser Hindernisse inzwischen zu kennen. Ich habe sie selbst überstiegen auf meinem langen Weg durch das deutsche Bildungssystem. Schließlich habe ich so ziemlich alle Arten von Schulen besucht, die es in Deutschland gibt: Ich war Grundschüler, Hauptschüler, Realschüler, Berufsschüler, Abiturient. Ich war auf vier verschiedenen Hochschulen und einer Journalistenschule. Mehr Schüler geht kaum. Da kann die ehemalige Bildungsministerin Annette Schavan mit ihren je zwei Schulen und Hochschulen gegen mich und die anderen, die an diesem Abend im Café Telos sitzen, einpacken.

Das Telos ist eine Münchner Studentenkneipe. Hier warte ich an einem Donnerstagabend alleine an einem Tisch und schaue mich fragend um, bis mich ein junger Mann anspricht: »Bist du ein Arbeiterkind? Unser Stammtisch ist dahinten.«

In fast jeder größeren deutschen Stadt gibt es sie heute: Ortsgruppen der Initiative »Arbeiterkind«, die 2008 von Katja Urbatsch gegründet wurde, einer Doktorandin in Gießen. Sie war die erste Akademikerin ihrer Familie und hat das Buch Ausgebremst – Warum das Recht auf Bildung nicht für alle gilt geschrieben.

Wenig später sitze ich mit Klaus am Tisch, 34 Jahre alt, Sohn eines Zimmermanns und bald Doktor der Verwaltungswissenschaften, angestellt in der Strategieabteilung eines Dax-Konzerns. Neben ihm: Volker, 50, Sohn eines Maurers und Politologe, heute in der Personalabteilung einer europäischen Behörde. Auch Stefan gehört zur Runde: 29, Sohn eines Kraftfahrers und einer Putzfrau, gelernter Krankenpfleger, ehemaliger Hartz-IV-Empfänger, jetzt Germanistik-Student.

Ein Stammtisch von 15 Männern und Frauen, alle Bildungsgewinner, denen der Aufstieg ihrer Herkunft wegen fast verwehrt worden wäre. Ein Treffen von »Beinahe-Opfern« des Schulsystems.

»Am Anfang fehlte der Background, später während des Studiums kam die Unsicherheit hinzu, ob man überhaupt dazugehört«, sagt Volker, der Personaler. »Weder meine Familie noch ›das System‹ konnten mir aufzeigen, wie ich an mein Abi komme«, sagt Stefan, der ehemalige Hartz-IV-Empfänger. Ich sage, ich bin hier wegen Herrn Proksch und weil es nicht sein kann, dass Bildungsaufstieg vom Milieu der Eltern abhängt. Uns alle eint eine Erfahrung, die wir auf unserem Weg nach oben gemacht haben: »Das Geld war knapp« – der Satz fällt in Variationen immer wieder.

Im Café Telos kommen die »Arbeiterkinder« zusammen, um zu überlegen, wie sie helfen können, Kindern von Nichtakademikern den Weg zu Abitur und Hochschulabschluss zu erleichtern. Sie sind so etwas wie Bildungs-Streetworker, halten Vorträge an Schulen, vermitteln Praktikumsplätze in Unternehmen, geben Ratschläge, wie sich ein Studium finanzieren lässt.

Auch Adam Egerer ist einer von ihnen. 32 Jahre ist er alt, Sohn eines tschechischen Einwandererpaares. Über das Abendgymnasium schaffte er es zum Abitur, inzwischen steht er kurz vor dem ersten juristischen Staatsexamen.

Ein paar Tage nach dem Treffen im Café Telos bin ich mit ihm im Münchner Hochhausviertel Neuperlach verabredet, das vor 15 Jahren bundesweit bekannt wurde als Heimat von Mehmet, einem Jungen, der mit 13 Jahren 60 Straftaten angesammelt hatte und dann in die Türkei abgeschoben wurde. Adam ist hier aufgewachsen.

Jetzt steht er vor McDonald’s, wie vor zehn, fünfzehn Jahren, als er sich hier mit seinen Freunden traf. Damals konnte man an diesem tristen Ort auch Ahmet und Yussuf begegnen: Hauptschülern, die mit Spraydosen die Zahl 83 auf Hauswände sprühten, die ersten beiden Ziffern der Postleitzahl von Neuperlach. Später fingen sie an, Kokain zu verticken, das man hier »Jay« nennt. Heute verbringen Ahmet und Yussuf ihre Zeit noch immer vor McDonald’s.

Jeder junge Mensch will etwas aus seinem Leben machen. Jedes Kind hat Träume, Wünsche, Vorbilder. Wem aber mit zehn, zwölf Jahren gesagt wird, es komme für ihn nur die Hauptschule infrage, weil er für alles andere zu dumm sei, der hat nur eine Möglichkeit, seine Selbstachtung nicht zu verlieren: Er muss sich einreden, Bildung sei Unsinn, und sich andere Aufstiegsmodelle suchen. »Ich fand es damals cool, vor McDonald’s rumzuhängen«, sagt Adam Egerer. »Ich dachte, ich brauche die Schule nicht. Gymnasiasten waren für uns Spackos.«

Mir fällt mein eigenes Leben damals auf dem Dorf ein. Ehemalige Freunde wie Daniel und Michael, so nenne ich sie jetzt mal, die auf der Hauptschule blieben. Ich selbst machte gegen den Willen meiner Mama und die Empfehlung von Herrn Proksch die Aufnahmeprüfung für die Realschule und bestand.

Für Daniel und Michael dagegen wurden auf der Hauptschule aus Realschülern und Gymnasiasten bald »die Asis«. Noch so ein Begriff aus der Jugendsprache der Neunziger, mit dem man sich über andere erhob. Kurioserweise benutzten die Gymnasiasten denselben Ausdruck für die Hauptschüler.

Später trugen Daniel und Michael dann Aufnäher der damals bei Rechtsradikalen beliebten Band Böhse Onkelz auf ihren Jeansjacken und flochten sich weiße Schuhbänder in ihre Stiefel. Sie waren nicht ernsthaft ausländerfeindlich, eher wollten sie die Verachtung all derer da oben zeigen. Heute sind sie Fabrikarbeiter, lesen in der Mittagspause Bild und gehen sonntags Karpfen angeln.

Gut möglich, dass Ahmet und Yussuf, Daniel und Michael selbst dann nicht bis zum Abitur gekommen wären, wenn man sie gefördert hätte. Ich behaupte nicht, dass jeder die gleichen Fähigkeiten hat. Das Problem in Deutschland ist nur, dass es zu viele Menschen gibt, die gar keine Chance kriegen, ihr Können zu zeigen. Wollen sie es doch nach oben schaffen, müssen sie sich mühsam hochkämpfen. So wie Adam Egerer.

Als wir von McDonald’s hinübergehen zu seinem ehemaligen Zuhause, einem heruntergekommenen Hochhaus neben einer Polizeistation, die wegen der Gewalt- und Drogendelikte in Neuperlach errichtet wurde, erzählt er, wie es damals mit ihm weiterging.

Adam fing nach der Hauptschule bei einem IT-Unternehmen an, er verkaufte Drucker. Abends nach der Arbeit lief er auf den Wohnblock zu, mit Hunderten übereinandergestapelten Wohnungen. »Bienenwaben« nannte er sie. Jeden Morgen verließ er seine Wabe wieder, um Drucker zu verkaufen. Es hätte ewig so weitergehen können.

Es waren viele Kleinigkeiten, die sein Leben schrittweise änderten. Das Gefühl, dass die Menschen in anderen Stadtteilen glücklicher dreinschauten. Die Lieder des afroamerikanischen Rappers Tupac Shakur, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte und die Bedeutung einer guten Bildung betonte. Die Erkenntnis, dass man wohl kaum auf einen Grabstein schreiben würde: »Hier ruht Adam Egerer, und die Drucker, die er verkaufte, waren hervorragend.«

Adam brach aus. Anstatt weiter jeden Abend RTL2 zu gucken, ging er nach der Arbeit aufs Abendgymnasium. Es folgten Abitur und Studium. Bald wird er hoffentlich das Staatsexamen bestehen und als Anwalt arbeiten. Das ist sein Ziel.

Im Gegensatz zu Adam hatte ich es trotz Herrn Prokschs Prognose immerhin auf die Realschule geschafft. Ich war jetzt Teil der ländlichen Mittelschicht, aber auch mein restliches Leben schien so vorhersehbar wie anspruchslos: die Schule abschließen, eine Ausbildung machen, im Idealfall als Bankkaufmann, ein Auto kaufen, jedes Wochenende die Felgen polieren und am Abend zu viel Bier trinken.

Es mag an einer angeborenen Trotzigkeit liegen, dass ich anfing, von etwas anderem zu träumen. Noch mehr Spaß, als Fußball zu spielen, machte es mir damals, mein eigenes Spiel zu kommentieren. Waren einst Diego Maradona und Jürgen Klinsmann meine Vorbilder gewesen, eiferte ich jetzt, nun ja, Heribert Faßbender nach. Ich wollte Sportjournalist werden.

Dann, gegen Ende der Realschule, jenes Elterngespräch bei Herrn Proksch lag lange zurück, sollte eine Begegnung mit einem weiteren Mann mein Leben verändern. Ein netter Herr im grauen Anzug, dessen Namen ich vergessen habe. Ich traf ihn nur ein oder zwei Mal in der neunten Klasse. Er kam vom Arbeitsamt, wie die heutige Bundesagentur für Arbeit damals hieß. Er sollte uns bei der Berufswahl unterstützen.

Also erzählte ich ihm von meinem Wunsch, Journalist zu werden. Fast traurig sah er mich an und sagte: »Herr Maurer, fangen Sie nicht an zu träumen.«

Er fragte mich, was meine Eltern von Beruf seien. Dann sagte er: »Herr Maurer, wie wäre es denn mit etwas Vernünftigem? Haben Sie niemanden in der Familie, der etwas für Sie hat?«

Doch, hatte ich. Mein Schwager arbeitet noch heute in einer großen Molkerei. Entmutigt von Herrn Proksch und dem grauen Herrn vom Arbeitsamt, fand ich mich damit ab, dass das mit dem Journalismus nichts werden würde.

Also wurde ich Molkereifachmann.

Zwar fand ich am ersten Tag meiner Ausbildung meine erste große Liebe, aber glücklich wurde ich weder mit ihr noch mit meinem Beruf. Als ich mich nach der Lehre entschloss, das Abitur nachzuholen, stieß ich auf Unverständnis. Im Sportverein, unter Elektrikern, Friseuren und Gärtnern, war ich ab sofort »der Student.« Das hieß so viel wie: der Exot, der Spinner, der nichts arbeitet, vielleicht nie arbeiten wird.

Schlimmer aber war, dass meine Mama mich jahrelang fragte, warum ich mein gut bezahltes Facharbeiter-Leben, meinen sicheren Arbeitsplatz, mein geregeltes Einkommen gegen eine unsichere Zukunft eintauschte. Heute sehe ich in ihren Fragen Schicksalsergebenheit. In Familien wie meiner ist nicht die Verwirklichung eines Berufstraums das höchste Gut, sondern eine sichere Existenz, ein Haus, ein Auto, ein Konto bei der Sparkasse.

Ein paar Tage nach meinem Treffen mit Adam Egerer in Neuperlach sitze ich im Wohnzimmer des ersten Menschen, der mir auf dem Weg in Richtung Bildungsaufstieg wirklich geholfen hat. Es ist Frau Galli, meine Lehrerin im Deutsch-Leistungskurs auf dem Bayernkolleg in Augsburg. Dort habe ich mein Abitur nachgeholt. Am Abend der Abschlussfeier sagte sie zu mir, nachdem ich ihr von meinem alten Berufswunsch erzählt hatte: »Herr Maurer, Sie würden einen ausgezeichneten Journalisten abgeben.« Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mein Traum vielleicht Wirklichkeit werden könnte.

Frau Galli hat zwei Kuchen gebacken und serviert Tee aus einer britischen Porzellankanne. Zu meiner Linken steht ein Klavier, auf dem Boden liegen schwere Teppiche, im Regal: hohe Literatur und Schallplatten mit klassischer Musik. Frau Galli sitzt in einem tiefen Sessel, und ich sage: »Jede moderne Schule sollte ihren Schülern ein frei zugängliches Tageszeitungs-Abo anbieten. Das kostet der Schule kein Vermögen. Finden Sie nicht auch?« Frau Galli korrigiert mich: »Die Schule. Es kostet die Schule kein Vermögen. Akkusativ!«

Frau Galli ist mittlerweile pensioniert. Zu meiner Schulzeit, vor zehn Jahren, war sie gefürchtet. Einer meiner ehemaligen Mitschüler nennt sie heute noch einen »alten Drachen«. Mir aber hat sie Freude am Lernen vermittelt.

Frau Galli hat uns – zumeist Kinder von Handwerkern oder Einwanderern – mit Büchern wie Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob traktiert, einem Roman, der selbst für manche Literaturkritiker schwer zu durchdringen ist. Sie hat uns überfordert, aber auf eine Art, dass wir Lust bekamen, klüger zu werden. »Hätte ich mich nach dem Lehrplan gerichtet, hätte ich dafür keine Zeit gehabt«, sagt Frau Galli heute. Damals schärfte sie uns ein: »Wenn es Ihnen gefallen hat, bloß niemandem weitersagen! Sonst bekomme ich Ärger.«

 

Besonders engagierten Französischklassen gab sie ab und an zusätzliche Stunden, bis der Direktor sie rügte: Das sei ungerecht gegenüber anderen Klassen. Also verheimlichte sie auch die Zusatzstunden. Heute sagt sie: »Da ist doch im System was falsch: Wer mehr lernen will, wird bestraft.«

Der zweite Wegbereiter zu meinem heutigen Beruf war die Süddeutsche Zeitung, die in der Cafeteria der Schule auslag – ein Fenster in eine unbekannte Welt. Nun begriff ich, wie Politik funktioniert, was Kultur bedeutet. Deshalb meine Idee mit dem Zeitungs-Abo.

Mit 22 Jahren habe ich zum ersten Mal in einem richtigen Theater gesessen. Die Welt war danach eine andere, klarer und komplexer, heller und dunkler zugleich. Bildung macht glücklich, das habe ich damals erfahren.

Auch bei Adam ist dieses Fenster während seiner Zeit im Abendgymnasium aufgegangen. Die Lehrer, die Bücher, die Zeitungen haben Nachteile unseres Elternhauses ausgeglichen. Bildungsforscher sehen das als Kernaufgabe einer modernen Schule: eine Lernumgebung zu schaffen, die Begabungen weckt und fördert. Schulen können soziale Unterschiede nivellieren. Aber tun sie das auch?

An einem Dienstagmorgen um 7.45 Uhr stehe ich mit zwei weiteren »Arbeiterkindern« – Vanessa, Tochter eines Einzelhandelkaufmanns, und Wolfgang, Sohn eines Anstreichers – vor einer Mädchenrealschule in München. Der Elternsprecher hat sich an die Initiative aus dem Café Telos gewandt und uns um einen Vortrag gebeten. Er hat festgestellt: Viele Kinder an der Realschule übernehmen die Berufswünsche der Eltern. Denken sie doch weiter, bekommen sie keine Unterstützung von zu Hause.

Der Elternsprecher ist Psychologe und stammt selbst aus einer bildungsfernen Schicht. Er hofft, dass wir den Mädchen Mut machen können, indem wir ihnen von unseren Erfolgsgeschichten erzählen. Seht her, es geht!

Am Abend zuvor wollte die Direktorin uns wieder ausladen. Mit Mühe und Not konnten wir sie überzeugen, dass wir doch zur Schule kommen und erklären dürfen, was genau wir wollen. Jetzt stehen wir im Schulsekretariat. Vanessa, Wolfgang, ich – und die Direktorin, nennen wir sie Margarete Bäumler, eine energische Frau Anfang sechzig. Sie sagt, sie könne unseren Besuch nicht gutheißen. Wir sollten den Schülerinnen keine Flausen in den Kopf setzen. Abitur? Studium? »Wir sind eine Schule, die für die Lehre ausbildet, das war schon immer so«, sagt Frau Bäumler. Und dann sagt sie fast denselben Satz, den meine Mama vor 20 Jahren von Herrn Proksch zu hören bekam: »Alles andere ist nichts für sie.«

»Sie«, das sind ihre Schülerinnen.

Zwanzig Minuten später. Die Direktorin hat sich dann doch erweichen lassen. Wir bitten die 20 Mädchen, die vor uns sitzen, ihren Berufswunsch aufzuschreiben. Das Ergebnis: dreimal Ärztin, dreimal Journalistin, zweimal Juristin, einmal Zahnärztin, einmal Psychologin. Mindestens zehn der Schülerinnen haben also »Flausen im Kopf«. Wollen sie sich ihren Traum erfüllen, müssen sie studieren.

Vanessa berichtet von ihrem Jura-Studium, sie promoviert gerade und arbeitet für eine internationale Wirtschaftskanzlei. Wolfgang sagt, er habe nur seinen Eltern zuliebe eine Malerlehre gemacht. Jetzt studiert er Agrarwissenschaften und hat ein kleines Unternehmen gegründet. Ich erzähle von Herrn Proksch und schließe mit den Worten: »Hört nicht immer auf eure Lehrer, die irren auch manchmal.«

Nach dem Vortrag kommt eine Schülerin auf mich zu: eine der drei, die Journalistin werden wollen. Sie erzählt, ihre Eltern – eine Kassiererin und ein Facharbeiter – sagten ihr immer, im Journalismus arbeiteten einfach andere Menschen, das sei nichts für sie. Ich ermutige sie, mit ihren Eltern zu sprechen. Wenig später schreibt sie mir eine E-Mail. Sie habe sich ein Herz gefasst und ihre Eltern tatsächlich überzeugt: Sie darf nun nach der Realschule versuchen, noch das Abitur zu machen.

Das ist der Gedanke hinter der Arbeiterkind-Initiative: einander helfen, sich gegenseitig unterstützen. Wenn die Realschülerin ihren Wunsch, Journalistin zu werden, tatsächlich weiterverfolgt, werde ich ihr noch viele Tipps geben können. Manchmal sind es solche Verbindungen, solche Netzwerke, die über den Erfolg beim Berufseinstieg entscheiden.

Auch im Rotonda Business-Club in Köln wird der Netzwerk-Gedanke wichtig genommen. Der Verein sagt von sich, er sei »einer der führenden Wirtschaftsclubs im deutschsprachigen Raum, der Treffpunkt für die Gestalter der Region Köln«.

Wie im Café Telos gibt es auch hier ein Hinterzimmer. Allerdings ist es riesengroß, lichtdurchflutet, Häppchen werden aufgetragen. Hier trifft sich die Gegenbewegung zum Münchner Arbeiterkind-Stammtisch. Die Kölner FDP hat zum »Bildungsbrunch« eingeladen, das Thema lautet: »Für eine moderne Schulpolitik mit starken Gymnasien«. Es spricht Walter Scheuerl, der vor zweieinhalb Jahren in Hamburg als Vorsitzender der Initiative »Wir wollen lernen« die sechsjährige Primarschule – also das gemeinsame Lernen aller Kinder bis zum Ende der sechsten Klasse – verhindert hat. Heute sitzt er für die CDU in der Hamburger Bürgerschaft.

Scheuerl möchte die Schüler möglichst früh voneinander trennen, die starken von den schwachen, die einen sollen aufs Gymnasium, die anderen auf Haupt- und Realschulen, Gemeinschafts- und Stadtteilschulen – je nach Bundesland heißen sie anders –, und dann sollen die Schüler bleiben, wo sie sind. Vor allem geht es Scheuerl darum, das bedrohte Gymnasium zu schützen. »Die Entwicklung hin zu den Gesamtschulen führt zu einem Verlust von Qualität und der Wirtschaftskraft Deutschlands«, sagt er.

In Köln verteilt Scheuerl ein Infoblatt, auf dem steht, dass Schüler, die nach der zehnten Klasse aufs Gymnasium wechseln möchten, einen Lernrückstand von einem Jahr haben und deshalb »ihr blaues Wunder erleben« und »schlicht scheitern« werden.

Für mich klingt das so, als hätten privilegierte Menschen Angst, ihre Kinder müssten mit Arbeiter- und Migrantenkindern um Studienplätze konkurrieren. Innerlich höre ich wieder den Satz: »Das ist doch nichts für dich.« Und ich muss an Jutta Allmendinger denken und ihr Buch Schulaufgaben, das ich kürzlich gelesen habe. Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und Professorin für Bildungssoziologie. Sie prangert an, wie fatal es ist, wenn schon junge Schüler nach Leistungsstärke selektiert werden. Unter Berufung auf eine Studie aus dem Jahr 2009 schreibt sie: »Werden die Kinder früh nach Schulformen getrennt, ordnen sie sich selbst in diese Schulform ein. Sie leiten daraus ab, wie viel oder wie wenig sie sich zutrauen.« Die frühe Selektion hat also einen sich selbst verstärkenden Effekt: Deklariert man Kinder aus bildungsfernen Haushalten früh zu schwachen Schülern, werden sie auch gar nicht das Selbstbewusstsein und die Kapazitäten entwickeln, um mit besser situierten Kindern mitzuhalten. Forscher haben herausgefunden, dass der Einfluss des Elternhauses auf die Intelligenz nur in den ersten zehn Jahren messbar ist. Später wirken andere Einflüsse – etwa die Schule – viel stärker. Das heißt: Intelligenz ist beeinflussbar. Aber man muss die Gelegenheit auch nutzen.

Ein paar Tage nach dem Bildungsbrunch mit Walter Scheuerl erzählt mir beim Treffen im Café Telos eine Teilnehmerin, wie ein Professor zu ihr sagte: »Ihr seid also der Verein, der jetzt diese Leute auf die Uni bringt. Lasst das mal!«

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf wegen seiner Herkunft benachteiligt werden. So steht es im Grundgesetz. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass ein Teil der Ständegesellschaft immer noch fortlebt.

Auf der Deutschen Journalistenschule in München, wo ich nach meinem Germanistik-Studium eine Ausbildung zum Redakteur absolvierte, hätte es einen wie mich gar nicht geben dürfen. Nicht weil die Journalistenschule etwas gegen Bewerber aus Arbeiterfamilien hätte, im Gegenteil, sondern weil diese in der Regel gar nicht so weit kommen. »Kinder von Facharbeitern oder ungelernten Arbeitern [...] existieren an den Journalistenschulen nicht«, heißt es in einer Dissertation der Technischen Hochschule Darmstadt. 85 Prozent der Journalistenschüler stammen aus einem »hohen oder gehobenen Herkunftsmilieu«, 15 Prozent stellt die »mittlere Herkunftsgruppe«.