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Omsriaurobindomira

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Yoga

“All life is Yoga.” – Sri Aurobindo

Kunst

Sri Aurobindo | Die Mutter


SRI AUROBINDO

DIGITAL EDITION


Copyright 2021

AURO MEDIA

Verlag und Fachbuchhandel

Wilfried Schuh

Deutschland

www.sriaurobindo.center

www.auro.media

eBook Design


SRI AUROBINDO DIGITAL EDITION

Deutschland, Berchtesgaden

ALLES LEBEN IST YOGA

Kunst Eine Zusammenstellung aus den Werken von Sri Aurobindo und der Mutter 3 Aufl. 2021 ISBN 978-3-96387-019-4


© Fotos und Textauszüge Sri Aurobindos und der Mutter:

Sri Aurobindo Ashram Trust

Puducherry, Indien


Blume auf dem Cover:

Fuchsia. Verschiedene Farben. Die von der Mutter gegebene spirituelle Bedeutung: Kunst Leben, um nur Schönheit auszudrücken.

Anmerkung des Herausgebers

Einfache Auszüge aus den Werken Sri Aurobindos und der Mutter sollen für die Sadhana eine praktische Orientierung zu bestimmten Themen geben. Die Themen behandeln das gesamte Feld menschlicher Aktivitäten, denn wahre Spiritualität ist nicht eine Abkehr vom Leben, sondern die Kunst, das Leben zu vervollkommnen.

Die Übersetzung der Textstellen von Sri Aurobindo erfolgte aus dem ursprünglichen Englisch, während die meisten Passagen der Mutter bereits Übersetzungen aus dem Französischen waren. Fast alle Texte der Mutter wurden ihren Gesprächen, die sie mit Kindern und Erwachsenen führte, entnommen, einige ihren Schriften. Wir müssen außerdem berücksichtigen, dass die Auszüge ihrem ursprünglichen Zusammenhang entnommen wurden und dass jede Zusammenstellung ihrer Natur nach möglicherweise einen persönlichen und subjektiven Charakter hat. Es wurde jedoch der aufrichtige Versuch unternommen, der Vision Sri Aurobindos und der Mutter treu zu bleiben.

Die Textauszüge sind vom Verlag zum Teil mit Kapiteln und Überschriften versehen worden, um ihre Themen hervorzuheben. Sofern es möglich war, wurden sie in Anlehnung eines Satzes aus dem Text selbst gewählt.

Sri Aurobindo und die Mutter machen von der in der englischen Sprache gegebenen Möglichkeit, Wörter groß zu schreiben, um ihre Bedeutung hervorzuheben, häufig Gebrauch. Mit dieser Großschreibung bezeichnen sie meist Begriffe aus übergeordneten Daseinsbereichen, doch auch allgemeine wie Licht, Friede, Kraft usw., wenn sie ihnen einen vom üblichen Gebrauch abweichenden Sinn zuordnen. Diese Begriffe wurden in diesem Buch kursiv hervorgehoben, um dem Leser zu einer leichteren Einfühlung in diese subtilen Unterscheidungen zu verhelfen.

Eckige Klammern bezeichnen Einfügungen des Übersetzers, die um des besseren Verständnisses willen angebracht erschienen. Einige wenige Sanskritwörter wie Sadhana, Sadhaka, Yoga usw. wurden eingedeutscht, da sie durch ihren häufigen Gebrauch bereits als Bestandteil der deutschen Sprache angesehen werden können. Alle anderen Sanskritwörter sind kursiv hervorgehoben, wobei auf diakritische Transkriptionszeichen verzichtet wurde.

Die kursiv geschriebenen Textpassagen vor den Worten Sri Aurobindos und der Mutter sind Fragen bzw. Antworten von Schülern oder sonstige erläuternde Texte.

„Wahre Spiritualität bedeutet nicht, dem Leben zu entsagen, sondern das Leben mit einer Göttlichen Vollkommenheit zu vollenden.“ – Die Mutter

* * *

InhaltTitelseiteCopyrightAnmerkung des HerausgebersI. WORTE SRI AUROBINDOSZitat Sri Aurobindos1. Schönheit im Leben2. Das Göttliche als Schönheit3. Der unverkennbare Charakter der indischen Kunst4. Dichtung5. Schöpfung durch das WortII. WORTE DER MUTTERZitat der Mutter1. Der wahre Daseinszweck der Kunst2. Kunst und Yoga3. Das Ziel des Yogis in den Künsten4. Der inspirierte Künstler5. Keine Begrenzung für den Ausdruck des Göttlichen6. Wer ist ein Künstler?7. Was die Menschen „künstlerisch“ nennen8. Schönheit ist universal9. Moderne Kunst10. Warum ist moderne Kunst so hässlich?11. Musik12. Pilzkunst13. Wunderkinder14. Die höhere und niedere VollkommenheitANHANGQuellenangabenGuideCoverInhaltStart

Teil I

Sri Aurobindo

Dient Kunst nur dazu, die Natur nachzuahmen, so lasst uns alle Gemäldegalerien verbrennen und stattdessen Fotostudios haben. Doch gerade weil die Kunst enthüllt, was die Natur verbirgt, ist ein kleines Bild mehr wert als alle Juwelen der Millionäre und alle Schätze der Prinzen.

Ahmst du nur die sichtbare Natur nach, bringst du einen Leichnam, ein totes Abbild oder eine Missgeburt zustande. Die Wahrheit lebt in dem, was hinter und über das Sichtbare und Greifbare hinausgeht. — Sri Aurobindo

* * *

Kapitel 1
Schönheit im Leben

Wenn wir uns vornehmlich mit der universalen Schönheit, wenn auch nur in ihren ästhetischen Formen, beschäftigen, übt das intensive Macht auf unsere Natur aus, verfeinert sie, macht sie empfindsamer und wirkt – wenn sie aufs Höchste entfaltet ist – als starke Kraft zur Aufhellung unseres Wesens.

*

Die Suche des Menschen nach Schönheit erreicht ihre höchste Intensität und ihren befriedigendsten Ausdruck in den großen schöpferischen Künsten, der Dichtung, Malerei, Bildhauerei und Architektur. Im weitesten und wahrsten Sinn des Schönen aber gibt es keine Tätigkeit der menschlichen Natur und ihres Lebens, aus dem die Schönheit ausgeschlossen werden könnte. Das Schöne vollkommen und umfassend anzuerkennen, unser ganzes Leben und Sein zu verschönern, gehört notwendigerweise zur Vollkommenheit des Individuums und der Gesellschaft. In ihrem Ursprung aber ist diese Suche nach Schönheit nicht rational. Sie kommt aus der Wurzel unseres Lebens, ist ein Trieb und ein Impuls, ein Instinkt ästhetischer Befriedigung und ein Impuls ästhetischer Schöpfung und Freude. Von den vorrationalen Teilen unseres Wesens ausgehend, zeigen dieser Trieb und Impuls zunächst viel Unvollkommenheit und Unreinheit auf, zugleich mit viel Rohheit in Erschaffung wie Bewertung. Hier greift die Vernunft ein, um zu unterscheiden, zu erleuchten, zu verbessern, um die Schwächen und Rohheiten herauszufinden, Gesetze des Ästhetischen festzulegen und unser Urteil und Schaffen durch besseren Geschmack und richtigere Erkenntnis zu reinigen. Während wir versuchen, uns selbst zu erkennen und zu bessern, scheint die Vernunft der eigentliche Gesetzgeber sowohl für den Künstler wie für den Bewunderer zu sein. Wenn sie auch nicht der Schöpfer unseres ästhetischen Triebes und Impulses ist, so ist sie doch in uns der Schöpfer eines ästhetischen Bewusstseins und dessen wachsamer Richter und Führer. Was unklar und irreführend war, macht sie selbstbewusst und in Wirkung und Genuss rational unterscheidbar.

 

Aber auch dies ist nur in beschränkten Grenzen wahr, oder wenn es einmal irgendwo vollkommen wahr ist, dann nur auf einer mittleren Ebene unseres ästhetischen Strebens und Wirkens. Wo die größte und mächtigste Schöpfung der Schönheit vollendet ist und Anerkennung und Freude die höchste Stufe erlangt haben, wird das Rationale immer überschritten und zurückgelassen. Die Schöpfung der Schönheit in Dichtung und Kunst fällt nicht unter die Herrschaft oder überhaupt in den Bereich der Vernunft. Der Verstand ist kein Dichter, kein Künstler, kein Schöpfer in uns. Schöpfung entsteht durch den Einstrom von Licht und Kraft aus dem Überrationalen, die, wenn sie ihr Bestes geben sollen, stets durch Schau und Inspiration wirken. Sie können den Verstand für gewisse Handlungen benutzen, aber je mehr sie sich dem Verstand unterwerfen, umso mehr verlieren sie an Macht und Kraft der Schau, umso mehr verringert sich Glanz und Wahrheit der Schönheit, die sie schaffen. Der Verstand kann Einfluss auf den Einstrom göttlicher Begeisterung in die Kräfte der Schöpfung nehmen, diesen mindern, unterdrücken oder vorsichtig beschränken. Aber hierdurch zieht er das Werk auf seine eigene niedere Ebene herunter, und diese Erniedrigung wird größer im selben Maß, wie die Einmischung des Verstandes wächst. Von sich aus vermag der Verstand nur Talent zu erlangen, auch wenn es ein großes, selbst wenn es bei genügend Hilfe von oben ein überragendes Talent ist. Das Genie aber, der wahre Schöpfer, ist in seiner Natur und Wirksamkeit immer überrational, auch wenn es die Arbeit des Verstandes auszuführen scheint. Am stärksten und echtesten ist das Genie, am erhabensten in seinem Werk, am stärksten gehalten in Kraft, Tiefe, Höhe und Schönheit seines Schaffens, wenn es am wenigsten von einer Kontrolle des reinen Verstandes berührt wird, wenn es am seltensten von den Höhen der Vision und Inspiration herabfällt in die Abhängigkeit des stets mechanischen Vorganges intellektueller Konstruktion. Künstlerische Schöpfung, die die Normen des Verstandes annimmt und in den Grenzen arbeitet, die dieser festgesetzt hat, mag groß, schön und kraftvoll sein. Denn das Genie kann auch dann noch seine Kräfte beweisen, wenn es in Fesseln arbeitet und sich weigert, alle seine Hilfsquellen zu verwenden. Aber wenn es mit Mitteln des Verstandes arbeitet, konstruiert es nur, anstatt schöpferisch zu sein. Es mag gut konstruieren, wie ein tadelloser Handwerker, aber sein Erfolg ist formal und nicht geistig, ein Erfolg der Technik und nicht eine Verkörperung der unvergänglichen Wahrheit, die die Schönheit in ihrer inneren Wirklichkeit erfasst, in ihrem göttlichen Entzücken, in ihrer Zuwendung zu der höchsten Quelle der Ekstase, Ananda.

Es gab Zeiten künstlerischen Schaffens, Zeitalter der Vernunft, in denen die rationale und intellektuelle Richtung in Dichtung und Kunst vorherrschte. Es gab sogar Nationen, die in ihren großen gestaltenden Zeiten der Kunst und Literatur die Vernunft und den Geschmack zum obersten Herrn ihres ästhetischen Schaffens machten. Bestenfalls haben diese Zeiten Werke von einer gewissen Großartigkeit geschaffen, aber es waren vor allem eine intellektuelle Großartigkeit, eine Vollkommenheit mehr technischer Art und keine Werke von höchster inspirierter und offenbarter Schönheit. Ihr Ziel war nicht die Entdeckung der tieferen Wahrheit des Schönen, sondern der Wahrheit der Ideen und der Wahrheit des Verstandes, ein kritisches und nicht ein wahrhaft schöpferisches Ziel. Ihr bestimmendes Thema war intellektuelle Kritik am Leben und an der Natur, die ergänzt wurde durch vollkommenen dichterischen Rhythmus und Ausdruck, nicht aber eine Offenbarung Gottes, des Menschen, des Lebens und der Natur in den inspirierten Formen künstlerischer Schönheit. Große Kunst aber kann nicht Genüge haben an der Darstellung der intellektuellen Wahrheit der Dinge, die immer eine oberflächliche und äußere Wahrheit ist. Sie sucht nach einer tieferen und ursprünglicheren Wahrheit, die einer reinen Sinneswahrnehmung und dem reinen Verstand entgeht, sie sucht nach der Seele in diesen, nach der unsichtbaren Wirklichkeit, die nicht diejenige der Gestalt und des Prozesses ist, sondern die Wirklichkeit ihres Geistes. Es ist diese Wirklichkeit, die die große Kunst erfasst und in Form und Gedanken ausdrückt, und zwar in einer bedeutungsvollen Form, die nicht nur getreu nachahmt oder die äußere Natur harmonisch darstellt. Der Gedanke muss zur Offenbarung werden und nicht nur eine richtige, Vernunft und Geschmack befriedigende Idee gut ausdrücken. Immer ist die Wahrheit, die die Kunst sucht, zunächst und vor allem die Wahrheit des Schönen, wieder nicht eine formale Schönheit allein oder die Schönheit der Proportion und des richtigen Prozesses, die Sinneswahrnehmung und Verstand erstreben, sondern die Seele der Schönheit. Diese Seele der Schönheit ist dem gewöhnlichen Auge und dem gewöhnlichen Verstand verborgen und offenbart sich in ihrer Fülle nur der unverschleierten Schau des Dichters und Künstlers im Menschen. Nur sie können die geheime Bedeutung des universalen Dichters und Künstlers, des göttlichen Schöpfers, erfassen, der den von ihm geschaffenen Formen als ihre Seele, ihr Geist innewohnt.

Die künstlerische Schöpfung, die auf Vernunft und Geschmack und auf die Vollkommenheit und Reinheit der Technik besonderen Wert legt, die den Normen der Vernunft und des Geschmacks gehorsam folgt, beanspruchte für sich den Namen klassische Kunst. Aber dieser Anspruch ist ebenso wie die beiden scharfen Unterscheidungen, auf denen er beruht, von zweifelhafter Gültigkeit. Der Geist des Wirklichen, die große klassische Kunst und Dichtung soll das Universale schaffen und den individuellen Ausdruck der universalen Wahrheit und Schönheit unterordnen, genauso wie der Geist der romantischen Kunst und Dichtung jenes hervorbringen muss, was individuell ist. Dies geschieht oft mit so starker oder so lebendiger Betonung, dass das Universale, auf dem doch alle wahre romantische oder klassische Kunst ihre Formen aufbaut und ausfüllt, dadurch in den Hintergrund seiner Schöpfung gedrängt wird. In Wirklichkeit hat jede große Kunst ebenso ein klassisches und romantisches Element in sich eingeschlossen wie ein realistisches. Wir verstehen dabei unter Realismus eine besondere Darstellung der äußeren Wahrheit der Dinge, nicht die pervertierte, nach innen gerichtete Romantik des „Wirklichen“, die das Hässliche, Gemeine oder Krankhafte besonders hervorhebt und als die ganze Wahrheit des Lebens hinstellt. Welchem Typus der Kunst ein großes schöpferisches Werk zugehört, wird durch die Vorherrschaft des einen Elements bestimmt und die Unterwerfung der anderen unter seinen beherrschenden Geist. Die klassische Kunst aber arbeitet mit einer weiten Vision und Inspiration und nicht mit einem Vorgang des Verstandes. Die niedere Art klassischer Kunst und Literatur – falls sie zu Recht klassisch zu nennen ist und nicht eher, wie dies häufig der Fall ist, eine pseudo-klassische, intellektuelle Nachahmung der äußeren Form und Vorgänge der klassischen Kunst darstellt – mag Werke einer gewissen, wenn auch weniger großen Bedeutung schaffen, deren Gesichtskreis und Natur aber wesentlich unbedeutender sein wird. Denn zu dieser Unterlegenheit hat sie sich durch ihren Grundsatz der intellektuellen Konstruktion selbst verdammt. Fast immer degeneriert diese in kurzer Zeit in das Formale oder Akademische, ohne wirkliche Schönheit, ohne Leben und Kraft, befangen in der Sklaverei der Form. Dabei glaubt sie, dass alles erreicht ist, wenn eine gewisse Form eingehalten, gewisse Normen der Konstruktion befriedigt und bestimmte theoretische und technische Grundsätze und Regeln befolgt sind. So hört sie auf, Kunst zu sein, und wird zu einer kalten und mechanischen Kunstfertigkeit.

Der Vorrang in der Schaffung und Bewertung des Schönen, der dem Verstand und Geschmack zuerst und vor allem zugebilligt wird – manchmal überhaupt nur diesem allein –, entsteht aus einer mehr kritischen als schöpferischen Einstellung des Mentals. In Bezug auf das Schöpferische begeht diese Theorie einen entscheidenden Irrtum. Alles künstlerische Werk muss, um vollendet zu sein, im Akt der Schöpfung selbst das Werk einer inneren Kraft der Entscheidung sein, die ständig auswählt und verwirft, dem Grundsatz der Wahrheit und Schönheit entsprechend, der einer Harmonie, einer Proportion und einer innersten Beziehung der Formen zur Idee stets treu bleibt. Zu gleicher Zeit gibt es eine Treue der Idee zu Geist, Natur und innerem Wesen des Gegenstandes der Schönheit, der der Seele und dem Mentalen, seinem svarupa und svabhava offenbart wurde. Darum verwirft dieser unterscheidende, innere Sinn alles, was fremd, überflüssig und müßig ist, alles, was nur verwirrende und entstellende Ablenkung ist, alle Übertreibung oder Schwächung, während er alles auswählt und erhaben findet, was die ganze Wahrheit offenbaren kann, die höchste Schönheit und die innerste Kraft. Diese Unterscheidung gehört aber nicht dem kritischen Verstand an. Ebensowenig kann die Harmonie, Proportion und Beziehung, die sie beachtet, von irgendwelchen Gesetzen des kritischen Verstandes festgelegt werden. Sie besteht in der Natur und Wahrheit des Gegenstandes, in der Schöpfung selbst, in ihrem geheimen, inneren Gesetz von Schönheit und Harmonie, die nur in der Schau und nicht in verstandesmäßiger Analyse erfasst werden kann. Das Unterscheidungsvermögen, das im Schöpfer am Werke ist, ist keine intellektuelle Selbstkritik, ist kein Gehorsam gegenüber Regeln, die ihm durch irgendwelche intellektuelle Vorschrift von außen auferlegt sind, sondern ist selbst schöpferisch, intuitiv, ein Teil der Schau, die im Akt der Schöpfung enthalten und von diesem nicht zu trennen ist. Sie entstammt höheren Bereichen und ist ein Teil jenes Einströmens von Licht und Kraft, der durch göttliche Begeisterung die Fähigkeiten in ihre intensive, überrationale Wirksamkeit emporhebt. Versagt sie, wird sie durch die niederen, ausführenden, rationalen oder vorrationalen Werkzeuge betrogen – und dies geschieht, wenn diese nicht mehr passiv bleiben, sondern ihre eigenen Forderungen oder Launen einmischen –, dann wird das Werk brüchig, und ein Akt der Selbstkritik muss notwendigerweise folgen. Der Künstler, der sich bei dem Versuch der Verbesserung seines Werkes nach Regeln und intellektuellen Vorgängen richtet, benutzt eine falsche oder auf jeden Fall niedere Methode und kann nicht sein Bestes geben. Er sollte lieber die intuitiv kritische Schau zu Hilfe nehmen und diese in einen neuen Akt inspirierter Schöpfung oder Wieder-Schöpfung verkörpern, nachdem er sich selbst mit ihrer Hilfe wieder in Harmonie mit dem Licht und dem Gesetz seines ursprünglichen, schöpferischen Beginnens gebracht hat. Der kritische Verstand darf dabei keine unmittelbare oder unabhängige Rolle in dem Werk des inspirierten Schöpfers der Schönheit spielen.

Dagegen spielt der Verstand bei der Beurteilung der Schönheit eine Rolle. Aber auch hier ist er nicht der oberste Richter und Gesetzgeber. Die Aufgabe des Intellekts ist die Analyse der Elemente, der Teile, der äußeren Vorgänge und der sichtbaren Grundsätze des zu Untersuchenden, ebenso die Klarstellung ihrer Beziehungen und Arbeitsweise. Hierbei unterrichtet und erleuchtet er die niedere Mentalität, die, sich selbst überlassen, dazu neigt, Dinge zu tun oder das Getane anzusehen und dabei alles als richtig anzunehmen ohne ausreichende Beobachtung und ohne fruchtbares Verständnis. Aber ebenso wie dies bei der Wahrheit der Religion geschieht, kann auch die höchste und tiefste Wahrheit der Schönheit nicht vom intellektuellen Verstand in ihrem inneren Sinn und ihrer Wirklichkeit erfasst werden, nicht einmal die innere Wahrheit der sichtbaren Grundsätze und Vorgänge, wenn nicht eine höhere Einsicht zu Hilfe kommt, die nicht die eigene ist. So wie es keine Methode, keinen Vorgang, keine Regel geben kann, durch die Schönheit geschaffen wird oder geschaffen werden sollte, so kann auch der Verstand der Beurteilung der Schönheit nicht jene tiefere Einsicht geben, deren sie bedarf. Er kann nur dazu beitragen, Dumpfheit und Unklarheit zu beseitigen, die bei den gewöhnlichen Wahrnehmungen und Auffassungen des niederen Mentals üblich sind und die den Verstand daran hindern, das Schöne zu sehen, durch die dieser falsche oder primitive ästhetische Angewohnheiten annimmt. Dies geschieht, indem der Verstand dem Bewusstsein eine äußere Idee und Regel von den Elementen des Dinges gibt, das er wahrnehmen und beurteilen soll. Weiterhin ist die Erweckung einer bestimmten Schau, einer Einsicht und einer intuitiven Antwort in der Seele notwendig. Der Verstand, der immer von außen betrachtet, kann diesen inneren und vertrauteren Kontakt nicht geben. Er muss sich durch eine unmittelbare Einsicht helfen, die der Seele selbst entstammt, und muss bei jedem Schritt auf das intuitive Mental vertrauen, das den Abgrund seiner eigenen Mängel ausfüllt.

 

Wir sehen dies in der Geschichte der Entwicklung der literarischen und künstlerischen Kritik. Auf ihrer ersten Stufe ist die Beurteilung der Schönheit instinktiv, natürlich, eingeboren, eine Antwort der ästhetischen Feinfühligkeit der Seele, die nicht den Versuch macht, dem denkenden Verstand von sich aus Rechenschaft zu geben. Wenn der Verstand sich dieser Aufgabe widmet, dann genügt ihm nicht die getreue und natürliche Antwort, der unmittelbare Ausdruck der Erfahrungen, sondern er sucht zu analysieren und niederzulegen, was für die Schaffung eines richtigen ästhetischen Genusses notwendig ist. Er bereitet eine Grammatik der Technik vor, ein künstlerisches Gesetz und eine Richtschnur für die Konstruktion, eine Art mechanische Regel für den Vorgang der Erschaffung des Schönen, einen festgesetzten Kodex oder shastra. Die Folge davon ist, dass wir seit langem eine oberflächliche, technische, künstliche und akademische Kritik besitzen, die von der falschen Idee beherrscht wird, dass Technik, über die allein der kritische Verstand einen wirklich angemessenen Bericht zu geben vermag, der wichtigste Teil der Schöpfung ist, dass es zu jeder Kunst eine umfangreiche Wissenschaft geben kann, die uns berichtet, wie etwas getan wird, und die uns das ganze Geheimnis und den Vorgang dieses Tuns erklärt. Es wird eine Zeit kommen, in der der Schöpfer der Schönheit sich auflehnen und das Vorrecht seiner eigenen Freiheit verlangen wird, im Allgemeinen unter der Form eines neuen Gesetzes oder Grundsatzes der Schöpfung. Ist diese Freiheit erst einmal festgelegt, wird sie sich ausweiten und den kritischen Verstand aus seiner bisherigen Begrenzung herausführen. Ein fortgeschritteneres Beurteilungsvermögen wird entstehen, das beginnt, nach neuen Grundsätzen der Kritik zu suchen, nach der Seele des Werkes selbst zu forschen, und das sich bemüht, die Form in ihrer Beziehung zur Seele zu erklären. Die Kritik wird den Schöpfer selbst studieren oder den Geist, die Natur und die Ideen der Zeit, in der er lebte, und auf diese Art zu einem wirklichen Verständnis seines Werkes gelangen. Der Verstand hat begonnen einzusehen, dass es nicht seine dringlichste Aufgabe ist, Gesetze für den Schöpfer der Schönheit festzulegen, sondern dazu beizutragen, dass er selbst und sein Werk verstanden werden, nicht nur seine Formen und Elemente, sondern auch das Mental, dem er entstammt, und die Eindrücke, die seine Wirkung im Mental des Betrachtenden auslösen. So ist die Kritik auf dem rechten Wege. Aber dieser Weg führt zu einem Ende, an dem das rationale Verstehen überschritten wird und eine höhere Fähigkeit sich auftut, die ihrem Ursprung und ihrer Natur nach überrational ist.

Denn die bewusste Bewertung der Schönheit erreicht ihre höchste Erleuchtung und Freude nicht durch Analyse der sich erfreuten Schönheit, selbst nicht durch richtiges und vernünftiges Verständnis dieser Schönheit – dies dient nur der vorbereitenden Klärung unseres zunächst unerleuchteten Sinnes für das Schöne –, sondern durch eine Erhebung der Seele, in der diese sich dem Licht, der Kraft und der Freude des Geschaffenen vollkommen öffnet. Die Seele der Schönheit in uns identifiziert sich selbst mit der Seele der Schönheit in dem Geschaffenen und empfindet bei der Bewertung der Schönheit dieselbe göttliche Begeisterung und Erhebung, die der Künstler beim Schaffen empfand. Die Kritik erreicht ihre Vollkommenheit, wenn sie von dieser Antwort zu berichten und sie richtig zu beschreiben vermag. Mit anderen Worten: Die Tätigkeit des intuitiven Mentals muss die Handlung des rationalen Verstandes vervollkommnen und kann sie gegebenenfalls ganz ersetzen und die besondere, eigene Arbeit des Verstandes mit mehr Kraft selbst übernehmen. Das intuitive Mental kann uns das Geheimnis der Form, die Stufen des Vorgangs, die innere Ursache, den Inhalt und den Mechanismus der Mängel und Grenzen des Werkes genauer erklären, ebenso wie seine positiven Werte. Es muss selbst inspiriert, intuitiv und enthüllend sein. Denn das intuitive Mental, das genügend geschult und entwickelt wurde, vermag stets die Arbeit des Verstandes zu übernehmen und sie mit einer Kraft, einer Erleuchtung und Einsicht zu Ende zu führen, die größer und sicherer sind als Kraft und Erleuchtung einer intellektuellen Beurteilung in ihrem weitesten Umfang. Es gibt eine intuitive Unterscheidung, die kühner und genauer in ihrer Schau ist als der denkende Verstand.

Was von der großen schöpferischen Kunst gesagt wurde, dass sie die Form ist, in der wir normalerweise unsere höchste und intensivste ästhetische Befriedigung erreichen, bezieht sich auf alle Schönheit, auf die Schönheit in der Natur, die Schönheit im Leben und ebenso auf die Schönheit in der Kunst. Wir finden, dass am Ende die Aufgabe des Verstandes und die Grenzen seiner Erfolge für die Schönheit genau die gleichen sind wie für die Religion. Er hilft, die ästhetischen Instinkte und Impulse zu erleuchten und zu reinigen, aber er vermag nicht, ihnen die höchste Befriedigung zu verschaffen oder sie zu einer vollkommenen Einsicht zu führen. Er formt und erfüllt bis zu einem gewissen Grad die ästhetische Intelligenz, aber er kann nicht zu Recht behaupten, dass er das endgültige Gesetz für die Erschaffung des Schönen oder für die Bewertung und den Genuss der Schönheit gibt. Er vermag den ästhetischen Trieb, den Impuls und die Intelligenz zu größtmöglicher bewusster Befriedigung zu führen, aber nicht zu sich selbst. Er muss sie letzten Endes einer höheren Fähigkeit übergeben, die in unmittelbarer Berührung mit dem Übernatürlichen steht und in ihrer Natur und ihrem Tun dem Verstand überlegen ist.

Denn was wir durch Schönheit suchen, ist letzten Endes das gleiche Ziel, zu dem uns die Religion führen soll: Das Absolute, Göttliche. Die Suche nach der Schönheit ist nur zu Beginn eine Befriedigung in der Schönheit der Form, einer Schönheit, die sich an die physischen Sinne wendet und an die vitalen Eindrücke, Antriebe und Wünsche. Sie ist im weiteren Verlauf Befriedigung in der Schönheit der erfassten Idee, der geweckten Empfindung und der Wahrnehmung eines vollendeten Vorgangs und einer harmonischen Verbindung. Hinter diesen aber sehnt sich die Seele der Schönheit in uns nach Berührung, nach Offenbarung und nach der erhebenden Freude einer absoluten Schönheit in allen Dingen. Die Seele spürt, dass diese Schönheit vorhanden ist. Aber weder die Sinne noch die Triebe vermögen sie aus sich selbst herauszuheben, wenn sie auch als Kanäle dienen können – denn die Schönheit ist übersinnlich –, noch können es Denken und Verstand tun, wenn diese auch gleicherweise als Kanäle dienen – denn sie ist überrational und überintellektuell. Dies vermag allein die Seele selbst durch alle Schleier hindurch zu erreichen. Wenn die Seele mit dieser universalen, absoluten Schönheit in Berührung kommen kann, mit dieser Seele der Schönheit, diesem Gefühl für die Offenbarung in jedem geringsten oder größten Ding, in der Schönheit einer Blume oder einer Form, in der Schönheit und Kraft eines Charakters, einer Handlung oder eines Ereignisses, in der Schönheit eines menschlichen Lebens oder dem Aufleuchten einer Idee, in einem Pinselstrich oder einem Meißelschlag, in den Farben eines Sonnenunterganges, in der Stärke eines Sturmes, dann ist dieser Sinn für Schönheit in uns wirklich, machtvoll und vollkommen befriedigt. In Wahrheit bedeutet dies, wie in der Religion, die Suche nach dem Göttlichen, dem All-Schönen in Mensch, Natur, Leben, Gedanke und Kunst. Denn Gott ist die Schönheit und das Entzücken, verborgen in der Vielfalt seiner Hüllen und Formen. Wenn wir erfüllt von dem wachsenden Gefühl und der Erkenntnis der Schönheit, von der Freude im Schönen und von unserer Kraft für das Schöne imstande sind, uns selbst in der Seele mit diesem Absoluten und Göttlichen in allen Formen und Tätigkeiten der Welt zu identifizieren, wenn wir ein Bild unseres inneren und äußeren Lebens nach dem höchsten Bild formen, das wir von dem All-Schönen wahrzunehmen und zu verkörpern vermögen, dann hat das ästhetische Wesen in uns, das zu diesem Zweck geboren wurde, sich selbst erfüllt und seine höchste Vollendung erreicht. Die höchste Schönheit finden aber heißt Gott finden. Die höchste Schönheit offenbaren, verkörpern und erschaffen, heißt aus unserer Seele das lebendige Bild und die Kraft Gottes erschaffen.

*

Höchstes Ziel des ästhetischen Wesens ist das Finden des Göttlichen durch die Schönheit. Die vollendete Kunst vermag durch inspirierte Anwendung sinnvoller und deutender Formen die Tore des Geistes zu öffnen. Um aber dieses hohe Ziel umfassend und ernsthaft zu erreichen, muss die Kunst zuerst Mensch, Natur und Leben um ihrer selbst willen, nach den ihnen eigenen Merkmalen der Wahrheit und Schönheit beschreiben. Denn hinter diesen äußeren Merkmalen liegt stets die Schönheit des Göttlichen in Leben, Mensch und Natur. Nur durch ihre rechte Gestaltung kann das von ihnen zunächst Verschleierte offenbar gemacht werden. Die Lehre, die Kunst müsse religiös sein oder aber sie dürfe überhaupt nicht bestehen, ist falsch, ebenso wie die Forderung, sie müsse der Ethik oder Zweckmäßigkeit, der wissenschaftlichen Wahrheit oder philosophischen Ideen dienen. Kunst mag diese Dinge als Elemente nutzen. Sie hat aber ihr eigenes Grundgesetz, svadharma. Indem sie diesen eigenen natürlichen Richtlinien folgt und nur dem eingeborenen Gesetz des eigenen Wesens gehorcht, wird sie sich zu höchster Spiritualität erheben.

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