Hüter meines Herzens

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Hüter meines Herzens
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DENISE HUNTER

Hüter

meines Herzens

Roman

Aus dem Amerikanischen von Anja Lerz


INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Impressum

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

EPILOG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96140-045-4

© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

First published under the title „Sweetbriar Cottage“

© 2016 by Denise Hunter

Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollins Christian Publishing Inc.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anja Lerz

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia Paolese

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

www.brendow-verlag.de

KAPITEL 1

Copper Creek, Georgia Gegenwart

Nichts konnte einen so bei voller Fahrt aus der Bahn werfen wie ein Brief von der Steueraufsicht. Mit einer unbehaglichen Vorahnung in den Knochen blieb Noah Mitchell vor dem Postamt von Copper Creek stehen.

Er hätte es besser wissen müssen. Warum war er auch von seinem Berg heruntergekommen, um sich einen rundherum schönen Samstag zu ruinieren? Zugegeben, das war jetzt nicht die Art und Weise, von der er befürchtet hatte, sie könnte ihm den Tag ruinieren, aber es war immer noch ein Tritt in die niederen Gefilde.

Er sank auf eine Bank in der Nähe und legte das Bündel Briefumschläge neben sich ab. Eine frische Brise strich durch das Tal, aber unter seiner Jacke prickelte Hitze auf seiner Haut. Es war zwar März, aber Mutter Natur hier im Norden von Georgia hatte das wohl nicht mitbekommen. Das Gras lag braun und matt auf der halb aufgetauten Erde, und die Äste der skelettartigen Bäume schlugen klappernd im Wind gegeneinander.

Er zog einen Finger durch die Versiegelung des Umschlags und schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Er nahm an, er war fällig. Er war 31 und noch nie in den Genuss einer Wirtschaftsprüfung gekommen. Unglücklicherweise hatte er seine Steuererklärung letztes Jahr selbst gemacht.

Noah faltete das Papier auseinander, während die Sonne durch die Wolken brach und ihn über das weiße Papier beinahe blendete. Er überflog die Absätze, blinzelte gegen das Licht, und plötzlich blieben seine Augen an einem Schlüsselsatz im zweiten Abschnitt hängen.

Ungläubig blinzelnd las er den Satz ein zweites Mal. Von allen idiotischen …

Noah war so patriotisch wie jeder andere auch. Er hatte sogar bei einem Auslandseinsatz gedient, Himmel nochmal. Stars und Stripes und Baseball und Apple Pie und all das, das war seins. Aber manchmal machte ihn die Unfähigkeit der amerikanischen Regierung einfach nur ratlos.

„Na, schau mal einer an, wer da von seinem Berg heruntergekommen ist.“

Noah sah auf und entdeckte seinen besten Freund, Jack McReady – „Pastor Jack“, wie ihn die meisten in der Stadt nannten –, der auf ihn zu schlenderte. Obwohl es Samstagmorgen war, trug er eine Anzughose und ein ordentliches Hemd. Seine Lippen verzogen sich zu dem Lächeln, das die Hälfte der alleinstehenden Damen in seiner Gemeinde für ihn schwärmen ließ. Nur ihm selbst war das überhaupt nicht bewusst.

„Hey, Jack.“ Noah stand auf, ergriff die Hand seines Freundes und zog ihn in eine kurze Umarmung. „Schön, dich zu sehen, mein Freund.“

„Ich habe schon darüber nachgedacht, ob ich mich nach da oben bemühen und dich ins Tal zerren muss.“

„Die Ranch hält mich auf Trab.“

„Selbst Pferde schlafen mal. Wie geht es dir? Bist du gut über den Winter gekommen?“

„Im Januar habe ich ein Fohlen verloren. Aber sonst geht es ganz gut. Ich baue gerade den Dachboden aus. Wie läuft es hier in der Stadt?“

„Ach, das Übliche, du weißt schon. Gerüchte. Facebookdramen. Zankereien im Stadtrat. Lass uns was zusammen essen. Ich war gerade auf dem Weg ins Rusty Nail.“

Noah dachte an den Brief, der ihm ein Loch in die Jackentasche brannte. „Würde ich echt gerne, aber ich muss noch ein paar Sachen erledigen. Um drei muss ich wieder auf der Ranch sein. Aber lass uns das bald mal nachholen.“

Jacks blaue Augen fingen Noahs Blick auf und hielten ihn, machten dieses Ding, bei dem man den Eindruck hatte, er würde einem direkt in die Seele schauen. „Ist alles in Ordnung?“

In Ordnung war schon lange nichts mehr. Nicht mehr seit der Scheidung. Aber das wusste Jack bereits. „Ja. Nur … Leben eben … Du weißt schon.“

„Klar.“ Den Blick immer noch unverwandt auf ihn gerichtet, nickte Jack. „Sicher.“

Wenige Minuten später trennten sie sich mit dem Versprechen, sich irgendwann in den nächsten zwei Wochen zu treffen.

Noah ordnete seine Post und machte sich auf den kurzen Weg zu Walt Levengers Büro. Er zog sich die Kappe ins Gesicht und senkte den Kopf – gegen den Wind, sagte er sich. Immerhin war ihr Laden auf der anderen Seite der Stadt und an einem Samstagmorgen vermutlich rappelvoll. Ziemlich unwahrscheinlich, dass er ihr da über den Weg laufen würde.

Die Innenstadt von Copper Creek hätte einer Filmkulisse entstammen können. Diagonale Parkplätze an der Main Street. Zweigeschossige Ladengeschäfte mit bunten Markisen überblickten stolz die Straße; die Fähnchen, auf denen „Geöffnet“ stand, flatterten munter im Wind. Man konnte in einer Viertelstunde von einem Ende zum anderen gehen, und gerade war Noah sehr dankbar dafür.

Als er das Büro des Wirtschaftsprüfers betrat, klingelte gerade das Telefon. Zwei Leute warteten am Empfangstisch, wo ein gequält dreinschauender Teenager ans Telefon ging und etwas auf einen gelben Klebezettel kritzelte.

 

Er stellte sich in die Schlange und kam in Gedanken wieder auf den misstönenden Satz in dem Brief zurück. Walt war ein Freund der Familie. Er würde ihm sagen können, wie man das wieder geradebog. Dann würde Noah das Ganze einfach hinter sich lassen.

Aber irgendwie wühlte der Brief alles Mögliche auf, von dem er eigentlich geglaubt hatte, er hätte es längst hinter sich gelassen. Erinnerungen – das Beste an seinem Leben, das Schlimmste an seinem Leben –, die sich zu einem verwirrenden Cocktail aus Freude und Schmerz vermischten. Ein Schraubstock legte sich um sein Herz und zog zu, bis ihm die Luft knapp wurde.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Die Jugendliche sah ihn durch ein paar dicke Brillengläser an.

Er trat vor. „Hi, ich möchte Walt besuchen.“

Das Telefon klingelte. „Haben Sie einen Termin?“

„Nein, aber es ist eine dringende Angelegenheit. Er ist ein Freund der Familie.“

„Name?“

„Noah Mitchell.“

„Setzen Sie sich, bitte.“

Sie nahm den Anruf entgegen, und er gesellte sich zu den anderen im Wartezimmer. In seiner Hosentasche zerknitterte der Brief, während er es sich in dem geschwungenen Plastikstuhl bequem machte.

Er holte sein Telefon heraus und machte sich eine Liste der Dinge, die er bei Piggly Wiggly besorgen musste. Wo er schon in der Stadt war, konnte er auch gleich noch bei Buddys Baumarkt vorbei. Er brauchte Putz- und Schleifpapier für den Dachboden. Da konnte er die Farbe auch gleich mitnehmen. Ein Ausflug in die Stadt weniger. Vielleicht würde er seinen Bruder aufspüren und mit ihm einen Kaffee trinken, falls der Zeit hatte.

„Noah, Sie können dann durchgehen.“

Er ging durch den kurzen Flur zur ersten offenen Tür links und klopfte an den Rahmen.

Walt stand hinter seinem unordentlichen Schreibtisch auf und streckte die Hand aus. „Noah, komm doch rein.“

Noah schlug ein. „Schön, Sie zu sehen, Sir.“

Walt gewann zwar den Kampf gegen das Gewicht, der oft mit einem Schreibtischjob einherging, die Schlacht gegen seinen Haaransatz verlor er aber offenbar.

„Danke, dass Sie mich so kurzfristig empfangen können. Sie stecken doch sicher wegen der Steuerfristen bis über beide Ohren in Arbeit.“

Walt zog sich seine Gleitsichtbrille von der Nase. „Dieses Jahr habe ich etwas Hilfe dabei. Junger Hüpfer, frisch vom College. Bringt mich noch ins Grab.“

Noahs Mundwinkel wanderten nordwärts.

„Jedes Mal, wenn ich dich sehe, siehst du mehr aus wie dein Vater“, sagte Walt. „Gutaussehender Teufelsbraten. Setz dich doch. Wie geht’s deinen Eltern?“

„Die genießen ihren Ruhestand. Diese Woche sind sie in Las Vegas. Letzte Woche waren sie in der Sierra Nevada wandern. Wer weiß, was sie nächste Woche machen.“

„Das freut mich für sie. Darauf haben sie sich schon lange gefreut.“

„Oh ja. Wie geht es Ihrer Familie?“

„Alles bestens. Hier, das ist mein neuestes Enkelkind.“ Er reichte Noah das gerahmte Foto eines Neugeborenen, fest eingewickelt und rosig. „Lori Ann, nach meiner Frau.“

„Herzlichen Glückwunsch. Sie ist eine echte Schönheit.“

„Das ist sie, ja.“ Walt stellte das Foto wieder an seinen Platz. „Also, was kann ich für dich tun, Noah? Brauchst du dieses Jahr Hilfe mit deiner Steuererklärung?“

„Das ist es eigentlich nicht.“ Er zog den Brief aus der Hosentasche und reichte ihn über den Schreibtisch. „Den hatte ich heute in der Post. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir raten, wie ich jetzt weitermachen soll.“

Walt setzte seine Brille wieder auf. Beim Lesen runzelte er die Stirn.

Eine ganze Stunde schien zu vergehen, bis der ältere Mann endlich aufschaute und Noahs Blick über den Brillenrand erwiderte. „Wann wurde deine Scheidung denn zum Abschluss gebracht, Noah?“

Scheidung. Würde er sich je an das Wort gewöhnen? „Vor dem Januar im fraglichen Steuerjahr.“

„Dann war die getrennte Veranlagung natürlich richtig.“ Sein Blick fiel wieder auf den Brief.

„Wie kann ich das in Ordnung bringen?“

„Nun, falls das hier auf einem Fehler beruht, schickst du ihnen eine Kopie des endgültigen Scheidungsurteils, und die Angelegenheit hat sich erledigt.“

„Was meinen Sie mit ‚falls‘ das auf einem Fehler beruht?“

Walt reichte ihm den Brief zurück. „Vielleicht solltest du bei deinem Anwalt nachfragen, nur, um sicherzugehen, dass alles ordentlich unter Dach und Fach ist.“

Noah blinzelte. „Natürlich ist es das.“

„Nun, sicher. Dann schickst du denen einfach eine Kopie des Scheidungsurteils, und das war’s dann.“

Das war’s dann. Die Scheidung war unangefochten gewesen, einfacher hätte es wohl nicht sein können, nahm er an. Aber nichts war einfach, wenn es darum ging, ein Fleisch zu trennen. Wenn er bei dem Ganzen irgendetwas gelernt hatte, dann das.

Das Klingeln des Telefons im Vorzimmer weckte Noah aus seiner Benommenheit. „Alles klar. Vielen herzlichen Dank, Sir. Dann werde ich Sie jetzt nicht länger aufhalten.“ Er stand auf. Seine Knie zitterten.

„Viel Glück, Noah. Grüß deine Eltern von mir, wenn du sie das nächste Mal siehst.“

„Mache ich.“

Noahs Herz raste, während er den Flur hinunterging. Ihm drehte sich der Kopf.

Das Scheidungsurteil. Er hatte diese Unterlagen. Er hatte sie unterschrieben, und Josephine hatte ihm eine Kopie davon geschickt. An so viel erinnerte er sich, auch wenn diese trauerbehafteten Monate so neblig waren wie das Tal an einem Frühlingsmorgen. Sich Josephine an dem alten, abgewetzten Tisch gegenüberzusehen. Sich wie Fremde zu fühlen, obwohl sie fast zwei Jahre verheiratet gewesen waren. Ihre Porzellanhaut ein blasser Kontrast zu ihrem roten Lippenstift. Wie im Wahn zu arbeiten, das Essen zu vergessen. Nacht für Nacht in seinem leeren Bett zu liegen, mit einem Betonklotz auf der Brust.

Das Scheidungsurteil. Er konnte nicht sagen, wo genau es jetzt gerade war, aber er wusste, dass er es hatte.

Es war alles nur ein Fehler. Aber es ergab keinen Sinn, den ganzen Weg zurück auf den Berg zu fahren, wenn er nur ans andere Ende der Stadt musste, um sicherzugehen. Er würde bei seinem Anwalt eine Kopie anfertigen lassen und sie abschicken, solange er noch in der Stadt war. Es hinter sich bringen. Stante pede.

Auf dem Gehweg wandte er sich nach links und marschierte zu seinem Silverado. Es war viel Verkehr in der Stadt, weil alle ihre Erledigungen machten. Als er die Büroräume von „Connelly Law Office“ erreichte, bog er auf den Parkplatz ein und eilte nach drinnen.

„Noah, schön Sie zu sehen.“

„Ich war mir nicht sicher, ob Sie heute geöffnet haben.“

Die Männer schüttelten die Hände. Joes Partner, Vernon, hatte sowohl Noah als auch Josephine in der Scheidungsangelegenheit vertreten. Aber ein ernster Herzinfarkt hatte den Mann kurz darauf in den Ruhestand und nach Colorado befördert, wo er es genoss, Zeit mit seinem Sohn und seinen Enkeln zu verbringen.

„Heutzutage muss man auch samstags geöffnet haben, wenn man im Geschäft bleiben will. Meine Sekretärin hat die Grippe und ist zu Hause. Setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee oder Tee anbieten?“

„Kaffee klingt gut.“

Joe goss eine Tasse ein und reichte sie ihm. „Kommen Sie mit. Ich arbeite gerade an einer eidesstattlichen Erklärung, nichts, was nicht warten könnte.“

Noah folgte ihm und atmete tief durch, versuchte, seine Nerven zu beruhigen. Lag das nur an ihm, oder roch das Gebäude tatsächlich wie ein Ort, an den Ehen kamen, um zu sterben?

Er setzte sich Joe gegenüber – an einen Schreibtisch, der einen völligen Kontrast zu Walts darstellte. Außer einen winzigen Stapel Papiere und einem Stifteköcher war nur glänzendes Mahagoni zu sehen.

Joe faltete seine Hände auf der Tischplatte. „Was kann ich für Sie tun, Noah?“

Zum zweiten Mal an diesem Morgen zog er den Brief aus seiner Hosentasche und erklärte die Situation.

Joe hörte aufmerksam zu, seine habichtartigen Augen aufmerksam auf Noah gerichtet. „Ich verstehe“, sagte er, als Noah zum Ende kam. „Na, hoffen wir, dass die Steueraufsicht sich irrt – wäre nicht das erste Mal. Erinnern Sie sich daran, das Scheidungsurteil unterschrieben zu haben?“

„Ja. Ich habe eine Ausfertigung zu Hause.“ Möglicherweise war er im Laufe des Prozesses nicht so aufmerksam gewesen, wie er es hätte sein sollen. Er hatte in einem Tunnel gesteckt und das überwältigende Bedürfnis verspürt, die ganze Kleinarbeit Josephine zuzuschieben. Sie hatte es ja schließlich darauf angelegt.

„Ein Scheidungsurteil ist endgültig vollzogen, wenn beide Parteien, und abschließend auch der Richter, es unterschrieben haben.“

„Der Richter?“ Noah rieb sich mit der Handfläche den Hals und fühlte sich wie ein unglaublicher Trottel. „Ich kann mich nicht an die Unterschrift eines Richters erinnern, aber ich habe auch nicht wirklich darauf geachtet.“

„Nun, das Gericht ist geschlossen, aber wir können auf jeden Fall in unseren Unterlagen nachschauen.“ Joe stand auf und ging zu einer Wand mit Aktenschränken hinüber. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Vernon das durchgegangen ist.“

„Unser Prozess kam gerade zum Abschluss, als er seinen Herzinfarkt hatte.“

Joes Finger tasteten sich über die Aktenordner. „Er ist vor seinem Umzug noch einmal ins Büro gekommen, um ein paar lose Enden seiner Fälle zu verknüpfen. Ich nehme an, die Möglichkeit besteht, dass das Scheidungsurteil übersehen wurde.“ Joe zog eine Akte hervor und schloss die Schublade. „Wollen doch mal sehen, was wir hier haben.“

Noahs Herz pochte gegen seine Rippen, während Joe durch die Unterlagen blätterte. Bitte, Gott. Er war nur in die Stadt gekommen, um ein paar Erledigungen zu machen. Wie konnte das jetzt nur passieren?

Joe zog einen Stapel aus der Mappe. „Also, hier ist eine Kopie des Urteils.“

Noahs Lungen leerten sich. „Gott sei Dank.“

„Also … immer mit der Ruhe“, sagte der Rechtsanwalt, der schnell zur letzten Seite vorblätterte. „Es ist nicht vom Richter unterschrieben.“

Noah sank in seinem Stuhl zusammen.

„Hier ist eine Notiz, die besagt, dass Vernon Josephine am 28. September eine Ausfertigung übergeben hat. Wenn der Richter unterschrieben hat, schicken wir beiden Parteien eine Kopie und behalten eine für unsere Akten. Nachdem nun keine solche Ausfertigung hier vorliegt, ist sie wohl nie dem Richter vorgelegt worden. Sie können das am Montag im Gericht überprüfen, um ganz sicherzugehen, aber es sieht so aus, als wäre Ihre Scheidung nie abgeschlossen worden.“

Ihm entfuhr ein nervöses Lachen. „Ich kann nicht glauben, dass das gerade passiert.“

Joe legte Noah eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß, das scheint schlimm zu sein, aber das lässt sich leicht beheben. Die Scheidungsangelegenheit ist möglicherweise noch in der Schwebe. Das passiert öfter, als Sie sich vorstellen können. Seien Sie nur einfach froh, dass keiner von Ihnen beiden wieder geheiratet hat. Und ja, auch das kommt tatsächlich vor.“

Leicht beheben.

Die Worte sprangen in Noahs Kopf hin und her, während er das Büro verließ. Joe hatte gut reden. Der war ja nicht, ohne es zu wissen, die letzten achtzehn Monate mit der Frau verheiratet gewesen, die seine Welt zertrümmert hatte. Der war ja nicht von der Frau, die er mehr liebte als sein Leben, völlig im Stich gelassen worden – jetzt zum zweiten Mal.

Josephine. Du bist immer noch mit ihr verheiratet. Sie ist immer noch deine Frau.

Sein verräterisches Herz tat einen besonders schweren Schlag, gefolgt von einem schnellen Stottern. Sehnsucht brandete auf, stark und unerbittlich, machte seine Brust eng und das Atmen schwer.

Die reflexhafte Reaktion brachte sein Blut zum Kochen. Dass sie immer noch so viel Macht über ihn hatte … Würde es nie aufhören? Was war er nur für ein Idiot?

Das war alles ihre Schuld. Sie hatte versprochen, das abzuwickeln. Und hier waren sie nun. Achtzehn Monate später und immer noch verheiratet.

Irgendwie hatte er für die Dauer ihres endlosen Scheidungsprozesses einen Deckel auf seinen Gefühlen gehalten. Hatte sie einfach blockiert, die Zähne zusammengebissen, seine Lippen verschlossen. Wenn sie wusste, dass er am Boden zerstört war deswegen, dann nicht, weil er vor ihr zusammengebrochen war. Wenn sie von dem Zorn wusste, der in seinem Inneren brodelte, dann nicht, weil er ihr gegenüber gewütet hätte.

Aber die Gefühle, die jetzt in ihm tobten, bettelten darum, freigelassen zu werden. Und seine Füße, die jetzt zielstrebig über den Gehweg schritten, schienen dieser Macht gegenüber hilflos. Diesmal würde sie ganz genau wissen, wie er sich fühlte.

 

KAPITEL 2

Josephine Mitchell zog einen Kamm durch Abel Cranes frischgeschnittenes Haar. Ihre geschickten Finger zupften hier und da an den groben Strähnen, überdeckten einen Wirbel, zähmten eine Welle. Abel war in seinen Sechzigern und hatte einen dicken Schopf grauen Haars, das so schnell wuchs wie ein Rasen im Juni.

Die Kundenschar am Samstagmorgen füllte Josephines Herrensalon mit den vertrauten Klängen von Plaudereien, dem Summen eines Rasierapparats und dem Plätschern des Wassers in den Waschbecken. Sie roch das herbe Aroma der Rasiercreme und hörte das Schaben einer Rasierklinge, die ihre Freundin und Mitarbeiterin Callie gekonnt über die Wange eines Kunden zog.

Mit einem Schwung hob Josephine den Umhang von Abels Schultern. „Ta-da! Stattlich wie immer, Mr. Crane.“

„Vielen Dank, meine Liebe.“

Abel wohnte am Fuß der Hügel in einem Trailer, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Vor zwei Jahren war er nach einer Rückenverletzung in der Kiesgrube gezwungen gewesen, einen Behindertenstatus zu beantragen. Seine Frau kümmerte sich zu Hause um ihre erwachsene Tochter, die unter schwerer zerebraler Kinderlähmung litt und an den Rollstuhl gefesselt war.

Während Josephine ihre Werkzeuge verstaute, klingelte hinter der Trennwand die Türglocke. Ihre vier Friseurinnen waren mit ihren Kunden beschäftigt.

„Bin gleich da!“, rief sie.

Auf seinem Weg zum Empfang fischte Abel sein Portemonnaie aus der Hosentasche, eine Routine so vertraut wie der Geruch des Shampoos.

Josephine unterbrach ihn. „Jetzt aber, mein Bester, Sie wissen doch, dass Ihr Geld bei uns nichts wert ist. Kaufen Sie lieber Ihrer Frau ein Stück Kuchen, und richten Sie ihr einen lieben Gruß von mir aus.“

Abels runde Wangen röteten sich. „Oh, aber das ist doch nicht nötig. Uns geht es wohl was besser, jetzt, wo unser Junge auf eigenen Beinen steht.“

Sie gab ihm einen sanften Klaps auf den Arm. „Ach was, nun aber raus hier, Abel Crane. Wir sehen uns dann nächsten Monat. Und sagen Sie Lizzie, sie soll mal hereinschauen.“

„Mache ich“, sagte er und verließ den Laden. „Vielen herzlichen Dank, Josephine.“

Sie drehte sich um und suchte nach dem Neuankömmling. „Geben Sie mir nur eben ein Momentchen zum Aufkehren und …“

Ihr Blick fiel auf den wartenden Kunden. Aber es war nicht nur irgendein Kunde. Es war Noah. Aufrecht und selbstbewusst stand er in der Ecke ihres kleinen Empfangsbereichs und brachte etwas in ihr zum Schmerzen. So war es eben mit Noah. Er kam durch ihre Tür, und die vergangenen anderthalb Jahre schwebten einfach wie ein Lufthauch davon.

„Noah.“ Sein Name entfuhr ihr mit einem Atemzug.

Sein Haar war vom Wind zerzaust, sein Gesicht voller harter Kanten und einem rauen Dreitagebart. In seinen bernsteinfarbenen Augen schien ein Feuer zu lodern. „Wir müssen reden.“

Ihr Mund öffnete sich, aber in ihrem Gehirn war ein einziges Kuddelmuddel. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, warum er hier sein könnte, warum er auf sie wütend sein sollte. Seit ihrer Aussage hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

Sie verschränkte die Arme, eine bestenfalls schwache Barriere, und klebte sich ein Lächeln auf die Lippen. „In Ordnung. Was ist los?“

Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Was los ist? Ich werde dir sagen, was los ist, Josephine.“

Das tat weh. Sie erwartete ja nicht gerade, diese tiefe, raue Stimme „mein Mädchen“ sagen zu hören, aber Josephine? Er hatte sie von Anfang an Josie genannt.

Er beugte sich näher zu ihr, und der volle Effekt seines männlichen Duftes machte sie benommen. „Ich muss deine Ausfertigung unseres Scheidungsurteils sehen.“

Sie blinzelte. Ihr Blick huschte durch den Empfangsbereich. Sie war dankbar, dass er leer war. Trotzdem, die Trennwand war nicht aus Stahl. Eine Hitzewelle stieg über den Nacken in ihre Wangen. „Bitte sprich etwas leiser.“

„Das Scheidungsurteil, Josephine. Geh es holen.“

„Schön. Es ist oben. Ich hole es eben.“ Sie hasste es, wie ihre Stimme zitterte. Sie drehte sich um und eilte in den hinteren Bereich ihres Ladens. Das Lächeln, das auf ihren Lippen fixiert war, geriet ins Wanken, als sie im Spiegel einen Blick auf Noah erhaschte, der ihr folgte.

Na, das würde dann wohl spätestens zur Mittagszeit in der Stadt die Runde gemacht haben. Josephine DuPree Mitchell empfing bei helllichtem Tag ihren Ex-Ehemann in ihrer Wohnung.

Sie schlüpfte durch die Hintertür in den kurzen Flur, der zur Treppe zu ihrer Wohnung führte. Als sie den Treppenabsatz erreichte, sah sie Noah hinter sich am Fuß der Treppe stehen, die muskulösen Arme vor seiner Brust verschränkt.

„Kommst du nicht?“

Er durchbohrte sie mit einem stürmischen Blick voller Misstrauen. „Ich glaube, ich werde einfach hierbleiben.“

Die Hitze in ihren Wangen verstärkte sich noch, während sie die restlichen Stufen mit Knien so wackelig wie ein dreibeiniger Tisch hinaufstieg, weil ihr Gehirn immer noch versuchte, diese letzte unwirkliche Minute zu verarbeiten. Noah hier. In ihrem Laden.

Sie versuchte, den steinernen Ausdruck in seinem Gesicht zu vergessen. So anders, als er sie früher immer angeschaut hatte, als seine Löwenaugen voller Verehrung gewesen waren und seine Lippen sich zufrieden gekräuselt hatten, wenn sie völlig tiefenentspannt in ihrem Bett gelegen hatten. In diesen satten, wohligen Minuten, bevor der Schlaf sie mit sich trug, war es immer am einfachsten gewesen, die Angst wegzuschieben.

Na und? Das hast du nur dir selbst zuzuschreiben, Josephine. Die altvertrauten Schuldgefühle bohrten sich hart in ihre Brust, und sie erlaubte sich einen langen, maßlosen Moment lang, die Wucht des Ganzen zu spüren.

Darüber konnte sich jetzt nicht nachdenken. Konzentration. Wo hatte sie diese Papiere hingelegt?

Ihre Augen huschten durch ihre unordentliche Wohnung. Sie hatte keinen richtigen Aktenschrank; alles, was irgendwie wichtig war, landete auf ihrem Schreibtisch. Die Rechnungen ließ sie links liegen und tauchte direkt zum Grund des Bergs. Nicht da. Sie suchte weiter.

Ihre Finger zitterten, sie war unbeholfen. Ein Stapel Papiere segelte aufs Parkett, und sie bückte sich, um sie aufzusammeln. Es waren vor allem Coupons und Werbung; sie war noch nicht dazu gekommen, sich das alles anzuschauen. Sie schwankte, als sie sich aufrichtete. Wo war es nur?

Sie ging zu den Schubladen über und wühlte darin herum. Himmel, welch ein Durcheinander. Sie musste wirklich Ordnung schaffen. Man konnte schließlich nie wissen, wann der Exmann mit verschränkten Armen übelgelaunt am Fuß der Treppe warten würde.

Die Zeit lief, und seine Laune – sie hatte da so ein Gefühl – wurde mit jeder Sekunde schlechter. Sie fand das Urteil auf dem Grund der letzten Schublade und zog es mit einem von Herzen kommenden Seufzer hervor.

Sie nahm sich noch einen Moment, um kurz durchzuatmen, und ihre Augen blieben an dem Spiegel neben der Eingangstür hängen. Das Adrenalin, das sie durchflutete, hatte ihre Wangen gerötet und Schweißperlen auf ihre Stirn gezaubert. Sie tupfte sich die Stirn mit einem Papiertuch ab und widerstand dem Impuls, ihren Lippenstift aufzufrischen und sich durch die Haare zu fahren.

Komisch, dass sie immer noch schön für ihn aussehen wollte. Manche Dinge änderten sich wohl nie, nahm sie an.

Den Papierstapel fest umklammernd, verließ sie ihre Wohnung und stieg langsam und bewusst tief atmend die Treppe hinunter. Noah wartete unten, still und gefährlich – gefährlich für ihr emotionales Wohlbefinden.

Sie brachte ein kleines Lächeln zustande, als sie ihm den Umschlag überreichte. „Bitte schön. Ich kann dir eine Kopie davon anfertigen, falls du deine Unterlagen verloren hast.“

Er bedachte sie mit einem steinharten Blick, während er das Dokument aus dem Umschlag zog.

Auf ihren wankenden Beinen verlagerte sie ihr Gewicht. „Ich habe all deinen Bedingungen zugestimmt. Ich kann mir nicht vorstellen, warum du jetzt auf einmal so aufgebracht bist.“ Ihr Lachen klang nervös, erstickt von der Enge in ihrer Kehle.

Er öffnete das zusammengeheftete Dokument, schlug die Seiten nach hinten um und hielt es ihr dann hin. „Was ist das hier, Josephine? Was siehst du hier?“

Sie wich zurück, bis die Buchstaben auf der Seite scharf wurden. Ihre Namen, hübsch und ordentlich gedruckt. Ihre Unterschriften auf den entsprechenden Linien.

Und eine Linie darunter für den Richter. Eine leere Linie.

„Alsooo … Ich nehme an, wir haben vergessen, die Unterschrift des Richters einzuholen?“

Wir haben das nicht vergessen. Du hast das vergessen.“

Sie nahm den Papierstapel aus seinem stählernen Griff. „Möglicherweise haben die Anwälte eine unterschriebene Ausfertigung.“

Sein Lachen war völlig humorlos. „Oh, ich kann dir versichern, dass das nicht der Fall ist.“ Er nahm die Papiere wieder an sich und beugte sich zu ihr, bis sie die braunen Flecken in seinen Augen sehen konnte, die sie früher schon immer hypnotisiert hatten.

„Wir sind nicht geschieden, Josephine. Die Unterlagen sind nie vom Richter unterzeichnet worden.“

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Was – was redest du da?“

„Du hast das Verfahren nicht zu Ende gebracht. Es ist nie abgeschlossen worden.“ Mit einem Blick machte er sie platt. „Wir sind immer noch verheiratet.“

„Das – das kann nicht wahr sein“, presste sie heraus. Eine nörgelnde Stimme in ihrem Hinterkopf lachte spöttisch.

„Du hast gesagt, du würdest dich darum kümmern. ‚Ich erledige das alles, Noah. Mach dir bloß keine Gedanken darum, Noah.‘ Und jetzt – schau her!“ Er drehte sich zur Wand um. Seine Schulten hoben und senkten sich, und sie hätte schwören können, dass die Temperatur um zehn Grad gestiegen war.

„Ich bringe das in Ordnung. Wir lassen es unterschreiben und geben es ab.“

Er verschränkte die Hände im Nacken. Seine Armmuskeln spannten sich an. Seine Schultern sanken, und ein bisschen von seiner Kampfbereitschaft schien seinen Körper zu verlassen. „So einfach ist das nicht. Die Papiere sind datiert. Joe weiß nicht, ob das Scheidungsverfahren noch in der Schwebe oder ganz eingestellt worden ist.“

„Es tut mir so leid … Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Vernon hat die Papiere hier abgegeben, wir haben unterschrieben, ich habe Kopien davon angefertigt und dir und ihm jeweils eine geschickt. Ich dachte, das wäre alles.“

„Nun, das war es aber nicht.“

„Ich werde mich sofort darum kümmern.“

Er drehte sich um. Seine Augen waren so kalt wie ein Bergquell. „Oh nein, das wirst du nicht. Diesmal kümmere ich mich darum. Ich werde am Montag im Gericht anrufen und herausfinden, was wir tun müssen, um das geradezubiegen.“