Apple intern

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Apple intern
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Daniela Kickl:

Apple intern

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: JaeHee Lee

Gestaltung: Lucas Reisigl

Lektorat: Lena Schulze Frenking

Zum Schutz der Privatsphäre handelnder Personen wurden in diesem Buch alle Namen, persönliche Merkmale jeder Art, Funktionen und teilweise auch zeitliche Abläufe geändert.

Dieses Buch entstand im Respekt vor meinen Kollegen bei Apple und dem Konzern Apple selbst, der einst technologische Revolutionen ermöglicht hatte und derzeit als Arbeitgeber die Existenzgrundlage von mehr als 100.000 Menschen bildet.

Es entstand als Inspiration für Verbesserungen im Inneren sowohl des Unternehmens Apple als auch anderer Unternehmen mit vergleichbaren Strukturen.

1 2 3 4 5 — 20 19 18 17

ISBN 978-3-99001-227-7

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Der Philosoph Immanuel Kant meinte, dass der Mensch ein Zweck an sich sei und demnach nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden darf.

Für alle, die Menschwürde ebenso empfinden.

Für alle, denen es auch reicht.

Für uns alle.

INHALT

VORWORT

TEIL 1 ENTHUSIASMUS

TEIL II DEMÜTIGUNG

TEIL III HOFFNUNG

EPILOG

DANKSAGUNG

Listen –

What people do to other souls

They take their lives, destroy their goals

Their basic pride and dignity

is stripped and torn

and shown no pity

When this should be

heaven for everyone

Horch –

Was Menschen anderen Seelen antun

Sie nehmen ihr Leben, rauben ihnen die Ziele

Ihr Stolz und ihre Würde

Ist zerpflückt und zerrissen

Und niemand zeigt Erbarmen

Wo dies doch der Himmel für jeden sein sollte

Queen, Heaven for Everyone, 1988

»Bleiben Sie hungrig, bleiben Sie verrückt«

Am 12. Juni des Jahres 2005 hielt Apple-Gründer Steve Jobs vor Studenten der Stanford University eine legendäre Abschlussrede, hier im Wortlaut.

»Es ist mir eine Ehre, bei Ihrer Abschlussfeier an einer der renommiertesten Universitäten der Welt dabei sein zu dürfen. Um ehrlich zu sein, ich selbst besitze keinen Collegeabschluss – und so nah wie heute bin ich einem solchen Abschluss nie zuvor gekommen. Ich möchte Ihnen heute drei Geschichten aus meinem Leben erzählen. Das ist alles. Nichts Besonderes. Nur drei Geschichten.

Bei der ersten Geschichte geht es darum, Zusammenhänge zu erkennen.

Mein Studium am Reed College habe ich nach den ersten sechs Monaten abgebrochen. Danach blieb ich aber noch und besuchte für weitere etwa anderthalb Jahre das College immer mal wieder, bis ich das Studium endgültig abbrach. Warum habe ich das getan? Das hat schon vor meiner Geburt begonnen. Meine leibliche Mutter war eine junge, unverheiratete Studentin, die sich entschied, mich zur Adoption freizugeben. Es war ihr sehr wichtig, dass ich von Hochschulabsolventen adoptiert werden sollte – also wurden alle nötigen Vorbereitungen getroffen, damit ich bei meiner Geburt von einem Anwalt und dessen Gattin adoptiert werden konnte. Sie entschieden aber in letzter Minute, dass sie lieber ein Mädchen wollten.

Meine Eltern, die auf der Warteliste standen, erhielten also mitten in der Nacht einen Anruf: ›Wir haben hier ganz unerwartet einen neugeborenen Jungen. Wollen Sie ihn haben?‹ Sie antworteten: ›Natürlich.‹

Später fand meine leibliche Mutter heraus, dass meine Mutter keinen Collegeabschluss besaß und dass mein Vater noch nicht einmal die Highschool richtig abgeschlossen hatte. Sie weigerte sich daraufhin, die Adoptionspapiere zu unterzeichnen. Erst Monate später lenkte sie ein – weil meine Eltern ihr versprachen, dass ich später ein College besuchen würde. Das war mein Start ins Leben, und 17 Jahre später besuchte ich dann tatsächlich ein College.

Naiv, wie ich war, hatte ich mir aber ein College ausgesucht, das fast so teuer war wie Stanford. Die gesamten Ersparnisse meiner Eltern, die aus der Arbeiterschicht kamen, gingen für meine Studiengebühren drauf. Nach sechs Monaten kam ich zu dem Schluss, dass mir das nichts brachte. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anstellen wollte, und keine Ahnung, wie das College mir helfen sollte, das herauszufinden – und gleichzeitig gab ich das Geld aus, das meine Eltern ihr ganzes Leben lang zusammengespart hatten. Ich entschied mich also, mein Studium abzubrechen und darauf zu vertrauen, dass alles gut gehen würde.

Zum damaligen Zeitpunkt war das ziemlich beängstigend. Wenn ich aber jetzt zurückblicke, war es eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe. Ich musste keine Pflichtfächer mehr belegen, die mich nicht interessierten, und konnte als Gasthörer die Vorlesungen besuchen, die mir viel interessanter erschienen.

Es war nicht nur romantische Studienidylle. Ich hatte kein eigenes Zimmer im Studentenwohnheim und musste bei Freunden auf dem Boden schlafen. Ich sammelte Colaflaschen und kaufte mir von dem Pfand Essen. Jeden Sonntagabend ging ich mehr als zehn Kilometer zu Fuß durch die Stadt zum Hare-Krishna-Tempel, damit ich einmal in der Woche eine ordentliche Mahlzeit bekam. Ich liebte es. Und vieles von dem, in das ich durch Zufall hineingeriet, weil ich meiner Neugier und Intuition folgte, erwies sich später als unbezahlbar. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen.

Das Reed College bot zu jener Zeit den vielleicht besten Kalligrafiestudiengang des Landes an. Weil ich keine herkömmlichen Vorlesungen besuchen musste, entschied ich mich, Kalligrafieunterricht zu nehmen. Ich lernte etwas über Schriftarten mit und ohne Serifen, wie man den Abstand zwischen unterschiedlichen Buchstabenkombinationen variiert, was großartige Typografie großartig macht. Es war wunderschön. Es hatte Geschichte und war auf eine Weise künstlerisch subtil, wie die Wissenschaft es nicht zu erfassen vermag. Ich fand es faszinierend.

Natürlich konnte ich nicht auch nur im Entferntesten davon ausgehen, dass irgendetwas davon einen praktischen Nutzen in meinem Leben haben würde. Aber als wir zehn Jahre später den ersten Macintosh-Computer entwarfen, kam alles wieder, und wir integrierten das alles in den Mac. Es war der erste Rechner mit wunderschöner Typografie. Hätte ich niemals diesen Kurs besucht, hätte der Mac niemals verschiedene Schriftarten bekommen oder solche mit proportionalen Zwischenräumen. Und da Windows Mac einfach kopiert hat, ist es wahrscheinlich, dass kein PC das hätte. Also: Hätte ich mein Studium nie abgebrochen, hätte ich nie als Gasthörer an der Kalligrafievorlesung teilgenommen, und PCs besäßen heute vielleicht nicht diese wundervolle Typografie. Natürlich war es unmöglich, während meiner Collegezeit diese Zusammenhänge zu erkennen. Aber als ich zehn Jahre später zurückblickte, waren sie deutlich sichtbar.

Noch einmal: Wenn Sie in die Zukunft blicken, können Sie nicht erkennen, wo Zusammenhänge bestehen. Das wird erst in der Rückschau möglich. Das heißt, Sie müssen darauf vertrauen, dass sich die einzelnen Mosaiksteinchen in Ihrer Zukunft zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Sie müssen auf etwas vertrauen – Ihr Bauchgefühl, das Schicksal, das Leben, Karma, egal was. Denn der Glaube daran, dass sich irgendwann die einzelnen Mosaiksteinchen zusammenfügen werden, gibt Ihnen die Zuversicht, dem Ruf Ihres Herzens zu folgen. Auch wenn der Sie abseits der ausgetretenen Wege führt – aber das macht den Unterschied.

Bei meiner zweiten Geschichte geht es um Liebe und Verlust.

Ich hatte Glück. Ich habe schon früh im Leben herausgefunden, was ich gern mache. Als ich 20 war, haben Woz (Steve Wozniak, Anm.) und ich Apple in der Garage meiner Eltern gegründet. Wir haben schwer gearbeitet, und in zehn Jahren war Apple nur von uns beiden in einer Garage zu einem zwei Milliarden Dollar schweren Unternehmen mit 4000 Mitarbeitern gewachsen. Wir hatten gerade unser Glanzstück, den Macintosh, auf den Markt gebracht, und ich war gerade 30 geworden, da wurde ich gefeuert. Wie kann man aus einem Unternehmen gefeuert werden, das man gegründet hat? Nun ja, als Apple immer größer wurde, stellten wir jemanden an, von dem wir dachten, er habe großes Talent und könne das Unternehmen mit mir zusammen führen. Im ersten Jahr ging auch alles gut. Doch dann begannen unsere Vorstellungen von der Zukunft immer stärker voneinander abzuweichen – und schließlich kam es zum Streit. Bei diesem Streit ergriff das Board für ihn Partei.

Ich stand mit 30 auf der Straße, und alle Welt bekam es mit. Das, worum sich während meines gesamten Erwachsenenlebens alles gedreht hatte, war weg. Es hat mich umgehauen. Monatelang wusste ich wirklich nicht, was ich tun sollte. Ich hatte das Gefühl, die vorige Generation Unternehmer im Stich gelassen zu haben, den Staffelstab bei der Übergabe fallen gelassen zu haben. Ich traf mich mit David Packard (einem der Gründer von Hewlett-Packard) und Bob Noyce (einer der Gründer von Intel) und versuchte, mich dafür zu entschuldigen, dass ich so viel Mist gebaut hatte. Ich dachte sogar daran, aus dem Silicon Valley zu fliehen.

 

Doch mit der Zeit wurde mir ganz allmählich etwas bewusst. Das, was ich tat, machte ich immer noch gern. Das bei Apple Vorgefallene hatte daran nicht das Geringste geändert. Ich war zurückgewiesen worden, aber ich liebte es immer noch. Also beschloss ich, wieder von vorn anzufangen.

Damals konnte ich es noch nicht ahnen, aber von Apple gefeuert zu werden war das Beste, was mir je passiert ist. Die Schwere des Erfolgs wurde ersetzt durch die Leichtigkeit, wieder Anfänger zu sein, sich der Dinge weniger sicher zu sein. Ich war frei, einen der kreativsten Abschnitte meines Lebens zu erleben.

In den folgenden fünf Jahren gründete ich ein Unternehmen mit dem Namen Next, ein weiteres mit dem Namen Pixar und verliebte mich in eine wunderbare Frau, die meine Ehefrau wurde. Pixar schuf mit »Toy Story« den weltweit ersten computeranimierten Kinofilm und ist heute das erfolgreichste Animationsstudio der Welt.

Wie das Leben so spielt, kaufte Apple Next – und ich kehrte zu Apple zurück. Die Technik, die wir bei Next entwickelt hatten, ist Kern von Apples jetziger Renaissance. Und Laurene und ich haben eine wunderbare Familie.

Ich bin mir sicher, das alles wäre nicht geschehen, wäre ich nicht bei Apple gefeuert worden. Es war bitter, aber ich hatte es wohl nötig. Manchmal zieht einem das Leben eins mit dem Knüppel über den Schädel. Man darf nur nicht den Glauben verlieren.

Ich bin überzeugt, dass meine Liebe zu meiner Arbeit mein einziger Antrieb war. Man muss finden, was man liebt – das gilt für die Arbeit wie fürs Privatleben. Ihre Arbeit wird einen großen Teil Ihres Lebens einnehmen. Und die einzige Möglichkeit, Zufriedenheit zu erlangen, besteht darin, das zu tun, was man selbst für großartige Arbeit hält. Und der einzige Weg, großartige Arbeit zu leisten, besteht darin, zu lieben, was man tut. Haben Sie das noch nicht gefunden, dann suchen Sie weiter, lassen Sie nicht locker. Wie bei allen Herzensangelegenheiten werden Sie wissen, wenn Sie das Richtige gefunden haben. Und wie jede gute Beziehung wird auch diese im Laufe der Jahre immer besser. Suchen Sie weiter. Finden Sie sich nicht mit weniger ab.

Bei meiner dritten Geschichte geht es um den Tod.

Als ich 17 war, las ich irgendwo ein Zitat, das ungefähr so lautete: ›Lebt man jeden Tag, als wär’s der letzte, liegt man eines Tages damit richtig.‹ Das ist hängen geblieben. Seitdem frage ich jeden Morgen mein Spiegelbild: ›Wenn heute der letzte Tag meines Lebens ist, würde ich dann gern das tun, was ich heute tun werde?‹ Und wenn die Antwort an zu vielen Tagen hintereinander Nein lautet, weiß ich, dass ich etwas ändern muss.

Mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich bald sterbe, ist mein wichtigstes Hilfsmittel, um weitreichende Entscheidungen zu treffen. Fast alles – alle Erwartungen von außen, aller Stolz, alle Angst vor Peinlichkeit oder Versagen – das alles fällt im Angesicht des Todes einfach ab. Nur das, was wirklich zählt, bleibt. Sich daran zu erinnern, dass man eines Tages sterben wird, ist in meinen Augen der beste Weg, um nicht zu denken, man hätte etwas zu verlieren. Man ist bereits nackt. Es gibt keinen Grund, nicht dem Ruf des Herzens zu folgen.

Vor etwa einem Jahr wurde bei mir Krebs diagnostiziert. Morgens um halb acht wurde die Aufnahme gemacht, und sie zeigte deutlich einen Tumor auf meiner Bauchspeicheldrüse. Ich wusste nicht einmal, was die Bauchspeicheldrüse war. Die Ärzte erklärten mir, dass diese Art von Krebs mit ziemlicher Sicherheit unheilbar sei, und ich sollte mich darauf einstellen, dass ich nur noch drei bis sechs Monate zu leben hätte.

Mein Arzt riet mir, nach Hause zu gehen und meine Sachen in Ordnung zu bringen. In der Sprache der Ärzte heißt das: Bereiten Sie sich aufs Sterben vor. Es bedeutet: Versuchen Sie Ihren Kindern in wenigen Monaten all das zu sagen, von dem Sie dachten, Sie hätten die nächsten zehn Jahre dafür Zeit. Es bedeutet: Sehen Sie zu, dass alles unter Dach und Fach ist, damit es für Ihre Familie so einfach wie möglich wird. Es bedeutet: Nehmen Sie Abschied.

Ich trug diese Diagnose den ganzen Tag mit mir herum. Später am Abend wurde eine Biopsie gemacht. Dabei wurde mir ein Endoskop in den Rachen durch den Magen in meine Eingeweide gesteckt, eine Nadel in meine Bauchspeicheldrüse gestoßen und einige Tumorzellen entnommen. Meine Frau erzählte mir später, dass der Arzt, als er die Zellen unterm Mikroskop betrachtete, zu weinen begann. Es stellte sich nämlich heraus, dass es sich um eine sehr seltene Art Krebs handelte, die operativ behandelt werden kann. Ich wurde operiert, und mir geht es heute gut.

So direkt hatte ich dem Tod noch nie ins Gesicht gesehen, und ich hoffe, das war’s jetzt auch für die nächsten paar Jahrzehnte. Nun, da ich das durchgestanden habe, kann ich Ihnen das mit etwas mehr Gewissheit sagen als zu der Zeit, da der Tod noch ein nützliches, aber rein geistiges Konzept war.

Niemand will sterben. Sogar die Menschen, die in den Himmel kommen wollen, wollen dafür nicht sterben. Und doch ist der Tod das Schicksal, das wir alle teilen. Niemand ist ihm jemals entronnen. Und so soll es auch sein: Denn der Tod ist wohl die mit Abstand beste Erfindung des Lebens. Er ist der Katalysator des Wandels. Er räumt das Alte weg, damit Platz für Neues geschaffen wird.

Jetzt sind Sie das Neue. Doch eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft werden Sie das Alte sein und aus dem Weg geräumt werden. Bitte entschuldigen Sie, dass ich so dramatisch werde, aber es ist so. Ihre Zeit ist begrenzt, verschwenden Sie sie nicht damit, das Leben eines anderen zu leben. Lassen Sie sich nicht von Dogmen gefangen nehmen – das würde bedeuten, mit dem zu leben, was andere Leute erdacht haben. Lassen Sie nicht zu, dass der Lärm, den die Meinungen anderer erzeugen, Ihre innere Stimme, die Stimme Ihres Herzens, Ihre Intuition überdröhnt.

In meiner Jugend gab es eine wunderbare Publikation mit dem Titel ›The Whole Earth Catalogue‹, eine der Bibeln meiner Generation. Geschaffen wurde sie von einem gewissen Stuart Brand, unweit von hier in Menlo Park. Er erweckte sie mit seinem Gefühl für Poesie zum Leben. Es waren die späten 60er, PCs gab es noch nicht. Das heißt, alles wurde mit Schreibmaschine, Schere und Polaroid-Kameras hergestellt. Es war eine broschierte Art Google 35 Jahre vor Google. Es war idealistisch, strömte über vor lauter großartigen Ideen.

Auf der letzten Ausgabe Mitte der 70er-Jahre, damals war ich in Ihrem Alter, war das Foto einer Landstraße im Morgengrauen – die Art Straße, auf der man, wenn einen die Abenteuerlust überkommt, vielleicht per Anhalter eine Mitfahrgelegenheit sucht. Unter dem Foto standen die Worte: ›Bleibt hungrig, bleibt verrückt.‹ Das war ihre Botschaft zum Abschied.

Ich habe mir das auch immer für mich selbst gewünscht. Und nun, da dieser Abschluss für Sie ein Neubeginn ist, wünsche ich Ihnen: Bleiben Sie hungrig, bleiben Sie verrückt.

Ich danke Ihnen. Vielen Dank an alle.«

Steve Jobs (1955–2011)

Vorwort

Wenn ich von unerträglichen, menschenverachtenden Zuständen bei asiatischen Firmen lese, nehme ich das mit einer gewissen Betroffenheit zur Kenntnis, die aber nicht lange währt. Schließlich haben die Asiaten ein eigenartiges Gesamtverständnis, von allem quasi. Sie essen auch Katzen und Hunde, nur als Beispiel. Wenn Menschenrechtsaktivisten in Asien ausufernde Überstunden, Vertragsverletzungen, Billiglöhne, Arbeit von Minderjährigen und Misshandlung durch Vorgesetzte beklagen, hat das wohl auch mit den anderen Allgemeinzuständen dort zu tun. Bei denen gehören manche Dinge, die bei uns seltsam sind oder auch verachtenswert, eben dazu.

Außerdem geht mich das nichts an. Ich bin definitiv nicht zuständig. In Wirklichkeit auch dann nicht, wenn in solchen Berichten eine Firma vorkommt, die Kleider näht, die ich kaufe, oder die als Zulieferer mit dem Bau des Smartphones betraut ist, das ich verwende. Erstens kaufen doch irgendwie alle solche Kleider und alle verwenden solche Smartphones, außerdem muss ich auch sehen, wo ich bleibe. Ich muss auf meine Ausgaben achten. Wenn bei den Asiaten, die für leistbare Produkte sorgen, etwas nicht stimmt, dann lösen sie ihre Probleme am besten selbst. Wozu haben die ihre Politiker.

Wenn ich von einer Selbstmordwelle bei einer Firma in Frankreich lese, ist das ein bisschen etwas anderes. Immerhin ist Frankreich ein zivilisiertes Land. Die Franzosen kochen zwar Frösche, aber was soll’s, ein bisschen seltsam ist ja jeder. Wahrscheinlich hat jeder Europäer schon einmal einen Franzosen kennengelernt, sich einen französischen Film angesehen oder einen französischen Wein getrunken. Ich will es so sagen: Irgendwie sind uns die Franzosen einfach näher als irgendwelche Asiaten.

Ganz ehrlich gesagt sind aber zum Beispiel die Mitarbeiter der France Télécom, unter denen es eine Selbstmordwelle mit mehr als zwanzig Toten gab, schon auch irgendwie selber schuld. Warum haben die keinen richtigen Job und arbeiten in einem Callcenter? Und wenn ihnen dort alles zu viel ist, warum kündigen sie dann nicht einfach?

Jene, die es nicht aushalten, den ganzen Tag mit Kunden zu telefonieren, können sich ja weiterbilden. Dann bekommen sie bestimmt einen besseren Job. Für die Ambitionierten wird es ja wohl nicht so schwer sein, etwas anderes zu finden.

Ja und mein Gott, Anrufer in einem Callcenter sind wahrscheinlich auch einmal schlecht drauf, das ist dann Teil des Jobs. Wenn so ein Anrufer die Artikel über die Selbstmordwelle gelesen hat und sagt »bringen Sie sich doch auch um«, gehört das irgendwie dazu. Das Berufsleben ist eben so. Das ist jedenfalls noch lange kein Grund, sich aus dem Bürofenster zu stürzen oder sich daheim aufzuhängen und der Nachwelt dann noch einen Brief zu hinterlassen, in dem steht, dass die Firma an allem schuld ist.

Was ich damit sagen will, ist ganz einfach: Solche Dinge mögen schlimm sein, aber jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, und in Wirklichkeit haben wir alle unsere Schwierigkeiten im Berufsleben, müssen wir alle unsere Kämpfe ausfechten, ich sowieso. Die Berichte über schwierige oder sogar richtig schlimme Arbeitssituationen gehen mich deshalb in Wirklichkeit auch dann nichts an, wenn sie aus Frankreich oder so kommen, und selbst wenn, ich könnte trotzdem nichts daran ändern.

Ganz ehrlich: Denken Sie manchmal so, zumindest ein bisschen? Ich traue mich, das zu fragen, weil ich selbst einmal so gedacht habe.

Ich bin in diese Art zu Denken hineingerutscht, obwohl ich eigentlich nicht dafür prädestiniert war. Zu Schulzeiten bezeichnete mich einmal ein Lehrer mit gutem Grund als »Geist, der stets verneint«, frei nach Goethe, der das in »Faust« seinen Mephisto über sich selbst sagen lässt. Ich habe immer alles hinterfragt und mir nie etwas gefallen lassen. Doch irgendwann war auch ich Opfer wirtschaftlicher Notwendigkeiten oder habe mich zumindest als solches gefühlt und damit vieles ignoriert oder gerechtfertigt, vor anderen und vor mir selbst.

Bis in mir die Erkenntnis reifte, dass schlechte Behandlung von Mitarbeitern keine Bedingung für Wirtschaftlichkeit ist. Vielleicht für Ausbeutung, die von Gier getrieben ist, aber definitiv nicht für Wirtschaftlichkeit.

Ich bin inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem die Conclusio aus all dem, das ich in den vergangenen drei Jahren bei meinem Job in der Europa-Zentrale von Apple im irischen Cork erlebt und gesehen habe, schlicht lautet: Mir reicht es. So, wie es läuft, ist es falsch, und falsch bleibt falsch, auch wenn es zum Standard und zum System geworden ist.

Ich werde in diesem Buch keine kriminellen Praktiken aufdecken, keine Kinderarbeit zum Beispiel, ich werde keine Verantwortlichen für Selbstmorde benennen und an den Pranger stellen und keine Schuld zuweisen. Ich werde vielmehr zeigen, dass falsch auch Dinge sein können, die formal korrekt sind. Weil sie etwas mit den Seelen der Menschen machen, das nicht gut ist. Weil sie Menschen ihrer Leben und Ziele berauben, ihren Stolz und ihre Würde zerpflücken und zerreißen, und niemand Erbarmen zeigt, wo diese Welt doch für jeden der Himmel sein sollte, wie die Popgruppe Queen in ihrem Song Heaven for Everyone sang, den ich eingangs zitiert habe. Und weil das alles genau das Gegenteil von hungrig und verrückt bleiben fördert, also von jener Lebenshaltung, die Apple-Gründer Steve Jobs damals in Stanford den Studenten ans Herz legte.

Sie können über mein Buch also denken, wie Sie wollen. Ich habe es jedenfalls in der Hoffnung geschrieben, die Welt damit ein bisschen besser zu machen.

 

Daniela Kickl, Februar 2017