Regensburg am Schwarzen Meer

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Regensburg am Schwarzen Meer
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Daniel Weißbrodt

Regensburg am Schwarzen Meer

2 400 Kilometer auf der Donau

Engelsdorfer Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Aus literarischen Gründen und zum Schutz von Persönlichkeitsrechten sind einige Namen verfremdet und einige Begegnungen vom Autor geringfügig verändert worden

Alle hier genannten Marken- und Produktnamen oder Logos sind Marken oder eingetragene Marken ihrer jeweiligen Inhaber

© 2013, Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany, EU

Fotos: www.danielweissbrodt.de/​lesen

Lektorat: Anna Kuschnarowa

Umschlaggestaltung, Karten, Satz und Layout: Michael Kewitsch

Autorenfoto: Anke Duensing

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.engelsdorfer-verlag.de

ISBN 9783954889006

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Sommer 2008

Sommer 2010

Sommer 2011

Schreibweisen, Transliteration und Aussprache 2008

Danksagung



Sommer 2008



EIN MIETSHAUS IM LEIPZIGER WESTEN, vier Stockwerke hoch und gebaut in den 1880er Jahren, Gründerzeit, Backsteinziegel und Stuck. Hinter dem Haus ein gepflasterter Hof mit ein paar Blumenkästen und einer Bank, drei Garagen und eine ehemalige Autowerkstatt.

Die Treppe zum Boden über der Werkstatt ist steil und das Geländer verbogen, die Stufen sind verrostet und die Tür ist nur angelehnt. Unter dem schrägen Dach riecht es nach Holz und nach Öl, Staub flimmert im Licht, das durch die Ritzen zwischen den Ziegeln fällt, und auf einem Regal verrosten Schraubenschlüssel und ein Hammer unter einer Staubschicht.

Hinten im Halbdunkel liegt auf grauen, alten Bohlen neben einem zerbrochenen Stuhl und einem rostigen Eimer noch immer das Boot. Es ist ein Faltboot, viereinhalb Meter lang und achtzig Zentimeter breit, mit grauem Gummiboden und dunkelblauem Verdeck, mit hölzernen Leisten und Spanten, und auch das Paddel ist noch da. Auf dem Kielbrett ist ein kleines Schild angebracht, auf dem steht »VEB Mathias-Thesen-Werft, Deutsche Demokratische Republik, 1984«, und auf dem Verdeck ein Aufnäher, »Kolibri IV«. Es hat zwei Sitze aus Sperrholz und ein kleines Ruder aus Aluminiumblech, es ist verstaubt und der Stoff ist mit einigen, schwarzen Stockflecken gesprenkelt, aber es scheint intakt zu sein und das hölzerne Gerüst ist honigfarben und sieht stabil aus.

Das Boot gehörte einer Frau, die schon seit ein paar Jahren nicht mehr im Haus wohnt. Sie war von unbestimmbarem Alter und hockte oft stundenlang auf dem Hof, mit Kreide schrieb sie in Schönschrift seltsame Botschaften auf das Pflaster, sie ordnete Zweige und Kiesel zu Mustern, murmelte unverständliche Sätze und sah mich und die anderen Mieter mit bösen Blicken an.

Irgendwann hatte es gebrannt in ihrer Wohnung, aus den Fenstern kam schwarzer Rauch und ein Feuerlöschzug stand vor dem Haus. Danach war die Frau verschwunden, niemand weiß wohin, wir haben sie nie wieder gesehen und nichts mehr von ihr gehört.

AM ABEND SITZE ICH IM SESSEL, vor mir ein Glas Rotwein, und überlege.

Seit Jahren liegt das Boot auf dem Boden und die Frau wird wohl kaum wiederkommen, um es abzuholen. Und selbst wenn, dann kann ich es mir ja trotzdem einfach mal für einen Sommer ausleihen, denke ich, sie wird schon nichts dagegen haben, und ich nehme den Atlas aus dem Bücherregal.

Mit dem Boot möchte ich also fahren, aber wo oder wohin?

Es ist nicht weit bis zur Elbe, aber das Stückchen Fluss von Torgau bis Hamburg sieht ganz klein und kurz aus auf der Europakarte und ich suche weiter. Die meisten deutschen und mitteleuropäischen Flüsse nehmen den Weg nach Norden, in die Ostsee oder in die Nordsee. Rhein und Weser, Oder und Wisła.

Ich suche weiter.

Die Donau fließt nach Südosten und an ihr – mit 2 857 Kilometern ist sie der zweitlängste Strom Europas – liegen von Deutschland bis zur Ukraine zehn Länder. Kein Fluss auf der Welt hat mehr Anrainerstaaten, alle paar hundert Kilometer kommt eine neue Grenze, ein neues Land, und das, denke ich mit dem Atlas auf den Knien, das könnte interessant werden.

Es ist das gleiche Wasser, an dessen Ufern die Menschen in Regensburg und in Wien, in Budapest und in Belgrad, in Ruse und in Galaţi leben, aber wie leben sie? Verbindet sie der Fluss, macht er sie zu Nachbarn oder sind die Sprach- und Landesgrenzen stärker, und was wissen und denken sie überhaupt voneinander?

Mit dem Faltboot auf der Donau, das klingt gut, denke ich, auch wenn ich kein geübter Sportler bin und genaugenommen bin ich überhaupt kein Sportler, ich arbeite im Archiv, ich sitze den ganzen Tag am Schreibtisch und wenn ich einmal in der Woche einer Straßenbahn hinterherrenne, dann ist mein durchschnittliches Pensum an Bewegung auch schon erreicht, doch die Strömung wird mich mit sich tragen wie ein Blatt. Ich kann paddeln und ich kann mich treiben lassen, ganz wie ich will, denn der Fluss fließt schließlich ohnehin.

Verfahren kann ich mich wohl kaum, aber ich bestelle mir trotzdem einen Wasserwanderführer vom Deutschen Kanuverband, »Die Donau und ihre Nebenflüsse«, und stelle mir vor, wie es wohl sein wird in Österreich und in der Slowakei, in Ungarn, Kroatien und Serbien, und im Wikipedia-Artikel »Donauschifffahrt« lese ich: »Die gesamte Donau ist inzwischen selbst für unerfahrene Bootsführer leicht befahrbar. Was noch fehlt, sind ausreichend Marinas«, aber einen Platz zum Anlegen, den werde ich schon irgendwo finden.

Bei Regensburg erreicht die Donau ihren nördlichsten Punkt und die Stadt liegt nur etwas mehr als dreihundert Kilometer südlich von Leipzig. Von Regensburg bis Belgrad sind es 1 210 Kilometer und wenn ich am Tag sechzig Kilometer fahre, dann dürfte das in drei Wochen eigentlich zu schaffen sein, denke ich, wenn die Bootshaut überhaupt noch dicht ist und das Boot fahrtauglich.

EIN PAAR TAGE DARAUF trage ich mit meinem Nachbarn das Boot zum nahen Kanal, wir legen es ins Wasser und es schwimmt. Ich steige ein und paddle ein Stück. Das Boot trägt mich und wiegt sich in den Wellen, es reagiert auf jede noch so kleine Bewegung, es schaukelt und ich fahre auf eine Brücke zu. Das sich in den Wellen brechende Sonnenlicht spiegelt sich an der Unterseite des steinernen Bogens und auf der Brücke steht ein etwa vierjähriges Mädchen, es hält sich am Geländer fest und winkt mir zu. Vorsichtig lege ich das Paddel ab, halte es mit einer Hand fest und winke mit der anderen zurück.

Links und rechts stehen Bäume und Gebüsch, der Verkehrslärm ist leiser als an den Straßen und auf den Bürgersteigen, Vögel fliegen am Ufer und ich bin ganz nah am Wasser und spüre seine Kühle durch die Bootshaut.

Zerbrechlich wirkt das Boot, zierlich wie ein Spielzeug mit seinem schmalen, hölzernen Gerippe und der dünnen Haut, die sich glatt und straff darüber spannt, aber es trägt mich. Leicht wie ein Korken schwimmt es auf dem Wasser, mit den Pedalen steuere ich das Ruder und die Bootsspitze neigt sich nach links und nach rechts, ganz wie ich es will.

Abgesehen davon, dass mir Wasser ins Gesicht spritzt und das Verdeck nass tropft, wenn ich das Paddel ungeschickt eintauche, abgesehen davon, denke ich, scheint Bootsfahren eigentlich ganz einfach zu sein.

AN EINEM VORMITTAG IM JULI sitze ich im Auto und fahre nach Süden. Ab und an regnet es aus tiefhängenden, grauen Wolken und nur gelegentlich scheint ein kleiner Fetzen blauer Himmel hervor.

Im Kofferraum liegen die beiden wasserdichten Packsäcke, in denen das Faltboot steckt, und der Rucksack mit dem Gepäck. Zelt und Schlafsack, Isomatte und ein kleiner Gaskocher, Topf, Tasse und Besteck, Notizbuch und Füller, Wörterbücher und der Wasserwanderführer.

In Regensburg baue ich oberhalb der Steinernen Brücke, einer mittelalterlichen Brücke mit vielen, kleinen Bögen, das Boot neben den ausgetretenen Stufen einer Treppe auf, die hinab zum Wasser führt. Danach knote ich Seile an Bug und Heck und binde sie an zwei alten, eisernen Ringen fest, die zu diesem Zweck zwischen den Steinen eingelassen scheinen, und lege es ins Wasser. Das Boot steht in der Strömung, das Wasser fließt und rauscht an ihm vorüber und will es mitreißen, aber die Leinen halten es fest.

 

Ich setze mich auf die Treppe. Das Wasser fließt schnell, viel schneller als ich es erwartet hatte, und im Fluss schwimmen Äste und Zweige, die rasch vorübertreiben. Die Donau ist etwa hundert Meter breit und spiegelt den graublauen Himmel.

Ich hole das Gepäck aus dem Wagen und belade das Boot. Als ich fertig bin, liegt es tief im Wasser.

Ich muss das Auto zur Mietwagenstation bringen und weiß nicht, ob ich das Boot einfach so hier liegen lassen kann. Wenn es irgendjemand losbinden würde, dann wäre die Fahrt zu Ende, noch bevor sie begonnen hat.

Zwei etwa fünfzehnjährige Jungs sitzen am Ufer, sie tragen schwarze, weite Kapuzenshirts und Jeans und halten jeder eine Colabüchse in der Hand, sehen aufs Wasser und schweigen.

Ich gehe zu ihnen.

»Hallo«, sage ich. »Wisst ihr, wie lange ihr noch hier sitzen werdet?«

»Weiß nicht«, sagt der eine etwas gelangweilt. »Warum wollen Sie das denn wissen?«

»Könntet ihr ein Auge auf mein Boot haben?«, frage ich ihn. »In spätestens einer Stunde bin ich wieder da.«

»Na klar«, sagt der andere. »So lange sind wir auf alle Fälle noch hier. Machen Sie sich mal keine Sorgen, wir passen schon auf. Machen wir doch, oder?«, sagt er und stößt seinen Freund in die Seite. Der nickt.

»Ja, das machen wir, geht klar.«

Ich fahre zur Autovermietung und stelle den Wagen auf dem Parkplatz ab, werfe den Schlüssel in den Briefkasten und gehe entlang des Flusses zurück zum Boot.

An der Steinernen Brücke strömt das Wasser durch die engen Bögen und die breiten Pfeiler scheinen es ein wenig zu stauen. Oberhalb der Brücke ist das Wasser geradezu glatt, durch die Bögen fließt es ein wenig abfallend und unterhalb schäumt und sprudelt es in Wellen und Strudeln.

Wenn das mal gut geht, denke ich.

Die Jungs sitzen auf der Treppe direkt neben dem Boot.

»Danke fürs Aufpassen«, sage ich und gebe ihnen fünf Euro. »Das war wirklich sehr nett von euch!«

Sie sehen mich und den Schein verwundert an.

»Danke, das ist krass! Echt krass!«, sagt der eine. »Wohin wollen Sie eigentlich fahren?«

»Nun, so genau weiß ich das auch nicht«, sage ich. »Erst einmal immer flussabwärts jedenfalls und dann werde ich ja sehen, wie weit ich es schaffe. Bis Belgrad wäre schön. Das sind ziemlich genau 1 200 Kilometer.«

»Und da haben Sie alles drin, was Sie brauchen?« Er deutet auf das Boot.

»Ja«, sage ich. »Hoffentlich.«

»Krass! Machen Sie so was öfter?«

»Nein«, sage ich. »Vor fünfzehn Jahren war ich zwar mal mit Freunden in den Masuren paddeln, aber das waren Seen und schmale Kanäle, in denen das Wasser steht. Auf einem Fluss bin ich noch nie gefahren«, sage ich und steige in das Boot. Es zittert in den Wellen und Wasser schwappt über das Verdeck, es schaukelt und ich bin mir nicht sicher, ob das Ganze nicht vielleicht doch einfach nur eine ziemliche Schnapsidee gewesen ist.

Immer wieder schlägt das Ruder zur Seite und ich kann es mit den Pedalen nicht zurück in seine Position bringen.

»Sagt mal, könntet ihr das Ruder festhalten, wenn ich losfahre?«, frage ich die Jungs, die auf der Treppe sitzen und mir interessiert zusehen. Sie nicken und beugen sich über das Wasser, halten das Ruder fest und ich binde die Leinen los.

»Scheiße, ist das alles schwierig«, sage ich.

»Haben Sie Angst?«

»Ja, klar habe ich Angst. Ich habe eine Scheißangst. Aber irgendwie wird es schon gehen, macht’s gut, Jungs, und vielen Dank!«, sage ich und stoße mich vom Ufer ab.

»Regensburg, Steinerne Brücke. Durchfahrt im 2. Joch von rechts, das erste Joch ist nur für Bergfahrer!«, steht im Wasserwanderführer. Ich weiß zwar nicht was ein Bergfahrer ist, bin mir aber ganz sicher, dass ich keiner bin und steuere auf den zweiten Bogen zu. Das Wasser reißt mich mit sich und ich paddle nicht mehr, sondern versuche nur noch, das Boot allein mit dem Ruder zu steuern, ohne die Geschwindigkeit weiter zu erhöhen. Die Bootshaut schrammt über den steinernen Wellenbrecher, der knapp unter der Wasseroberfläche liegt, und ich erwische das zweite Joch, das Wasser trägt mich hindurch und ich umklammere ängstlich das Paddel.

Unterhalb der Brücke gerate ich in einen Strudel und das Boot dreht sich. Hilflos treibe ich im Wasser und auf der Brücke stehen Menschen und sehen zu mir herunter.

Das war’s, denke ich, gleich saufe ich hier ab.

Aber dann benutze ich doch vorsichtig das Paddel und als das Boot wieder in der Strömungsrichtung liegt, beginne ich, flussabwärts zu fahren.

Meine Knie zittern. Keine Angst, sage ich mir immer wieder, ich darf einfach keine Angst haben, das wird schon, aber ich glaube selbst nicht recht daran.

Nach einer Weile wird das Wasser ruhiger. Noch immer fließt es schnell dahin, nun aber ohne Wellen und Strudel, und ich verlasse die Stadt.

Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt, sicherer und einfacher, aber das Boot wird nicht von einer gleichmäßigen und ruhigen Strömung langsam mitgetragen, es vibriert in den Wellen und Strudeln, es will sich drehen und abtreiben und es schaukelt, Wellen kommen von der Seite, von hinten und von vorn und hinter einer überspülten Buhne wird es von einer Gegenströmung herumgerissen. An der nächsten geeigneten Stelle halte ich an, denke ich, auch wenn im Wasserwanderführer keine Zeltmöglichkeit verzeichnet ist, aber ich will so schnell wie möglich wieder ans Ufer, ich möchte an Land sein und festen Boden unter den Füßen spüren, doch links und rechts ist das Ufer mit großen, lose übereinandergeschichteten Steinbrocken befestigt und ich sehe keine Bucht und keinen Steg. Hier kann ich nicht anlegen.

Hinter den steinernen Dämmen stehen Bäume und weit kann ich nicht sehen, ich sitze im Boot und es ist eine Art Froschperspektive, vor mir das blaue Dreieck der Bootsspitze und davor der Fluss.

Nach einer Stunde sehe ich ein paar Angler neben einem kleinen, qualmenden Grill am Ufer stehen.

»Komm her!«, rufen sie. »Es gibt Fisch!«

Aber es geht alles viel zu schnell und schon bin ich an der kleinen Bucht vorbeigefahren.

»Ich muss weiter«, rufe ich zurück. »Ein andermal bestimmt!«

»Gute Reise!«, rufen die Männer, lachen und winken.

Kurz darauf steht in einer Bucht ein Mann in T-Shirt und kurzen Hosen neben einem Wohnmobil, er ist etwa Mitte dreißig, hat die Hände in die Hüften gestemmt und sieht über den Fluss. Ich steuere ans Ufer und schlittere auf eine flache, steinerne Rampe, springe aus dem Boot und der Mann hilft mir, es ein Stück an Land zu ziehen.

Ich habe wieder Boden unter den Füßen. Er fühlt sich gut an, fest und hart und unnachgiebig, und erleichtert setze ich mich ins Gras. Etwas mehr als anderthalb Stunden bin ich unterwegs gewesen und zehn Kilometer gefahren.

Als das Zelt aufgebaut ist, bittet mich der Mann in den Wohnwagen und stellt zwei Flaschen Bier auf den Tisch.

»Ich arbeite in Regensburg«, sagt er. »Meine Frau lebt mit den Kindern in Baden-Württemberg und im Sommer wohne ich unter der Woche hier im Caravan. Das ist billiger als im Hotel und viel schöner sowieso. Fahren muss ich ohnehin, da kann ich auch den Wohnwagen nehmen, und hier drin habe ich alles, was ich brauche. Küche und Fernseher, Dusche und Bett«, sagt er. »Und du? Wo kommst du her? Und wo fährst du hin?«

»Heute Nachmittag bin ich in Regensburg gestartet«, sage ich. »Und wohin, das kann ich noch gar nicht sagen. Ich glaube, ich habe mich ein bisschen überschätzt. Eigentlich wollte ich bis Belgrad fahren. Vielleicht komme ich bis Budapest, vielleicht auch nur bis Wien.«

»Morgen musst du den linken Nebenarm nehmen, hier, siehst du, etwa fünfhundert Meter flussabwärts«, sagt er und breitet eine detaillierte Landkarte der Bucht auf dem Tisch aus. »Nur ein schmaler Kanal führt auf den See und kaum jemand kennt diesen Ort. Dort ist es ganz ruhig und idyllisch, ein Vogelparadies. Ein paar hundert Meter weiter geht’s dann wieder auf den Hauptstrom, das ist überhaupt kein Umweg, doch das solltest du auf keinen Fall verpassen«, sagt er und holt zwei neue Bier aus dem Kühlschrank.

»Belgrad«, sagt er und setzt sich. »Ich wusste gar nicht, dass Belgrad an der Donau liegt.«

»Ich auch nicht«, sage ich. »Aber bevor ich losgefahren bin, habe ich mir erst einmal den Flussverlauf im Atlas angesehen und einen Wasserwanderführer gekauft. Wien, Bratislava, Budapest, das kennt man ja. Aber danach …«

»Ja«, sagt er und nickt. »Budapest, dann Schwarzes Meer. Viel mehr weiß man eigentlich gar nicht.«

Draußen dämmert es und die Tür des Wohnwagens steht offen, wir hören die Vögel zwitschern und das Rauschen und Murmeln des Flusses und nach einer Weile bedanke ich mich für das Bier, verabschiede mich und lege mich ins Zelt.

Auf der dünnen Isomatte ist es hart und unbequem, neben dem Zelt raschelt irgendetwas im Gras und der Wind rauscht in den Bäumen, gelegentlich ist das Motorengeräusch eines Schiffes zu hören und erst nach einer ganzen Weile schlafe ich ein.

AM MORGEN IST DER CARAVAN verschwunden und ich hole Gaskocher, Topf und eine Wasserflasche aus dem Boot. Der kleine Dreifuß ist schnell aufgebaut, blaue Flämmchen brennen leise fauchend aus den Düsen und kurz darauf kocht das Wasser sprudelnd im Topf. Mit dem Kaffeebecher in der Hand gehe ich ein paar Schritte hinab zum Ufer und sehe über den Fluss. Ein Schlepper fährt vorüber und Wellen klatschen ans Ufer.

Ich will nicht wieder in dieses wacklige und schaukelnde Boot einsteigen und stattdessen koche ich mir einen zweiten Kaffee, aber auch der ist irgendwann ausgetrunken und ewig kann ich ja nicht hier sitzenbleiben, denke ich und habe großen Respekt vor dem Fluss. Paddeln ist wahrscheinlich ein bisschen wie Bergsteigen und der Fluss ist viel stärker als man denkt. Aber was kann ich jetzt anderes tun, als wieder ins Boot steigen und es aufs Neue versuchen? Kurz kommt mir der Gedanke, dass es ja recht hübsch hier ist, und ich sehe mich um. Wenn ich einfach hierbleibe?

Aber dann ziehe ich doch das Boot ins Wasser und steige mit zitternden Knien ein, fahre los und die Strömung nimmt mich auf. Nach einer Weile gewöhne ich mich an die Geschwindigkeit und an die Kraft des Wassers und der Fluss kommt mir schon nicht mehr ganz so bedrohlich vor wie gestern Abend.

Die Strömung scheint geringer zu sein, es ist nun eher ein gemächliches Dahintreiben und mir fällt auf, dass sich das Boot viel besser steuern lässt, wenn ich paddle. Wenn ich schneller bin als die Strömung, dann können mir die Strudel fast gar nichts anhaben, dann fahre ich einfach über sie hinweg, und nur, wenn ich mich treiben lasse, hat das Ruder eine gewisse Trägheit. Dann muss ich es schon eine ganze Weile, bevor sich die Spitze des Bootes in die Richtung dreht, in die ich fahren möchte, wieder gerade halten, sonst fahre ich Schlängellinien. Aber eigentlich ist es genau so, wie es auch jeder Fahrschüler in den ersten Stunden lernt. Wenn man nicht kurz vor der Motorhaube auf die Straße sieht, sondern dorthin, wo man auch hinfahren möchte, dann bleibt man nach einer Weile von ganz alleine in der Spur.

Ich überquere den Fluss und biege in den Seitenarm. Dort fließt das Wasser nicht mehr, es steht, und ein Milan schwebt weit oben am blauen Himmel. Algen und ein paar Plastikflaschen treiben im Wasser und es ist ganz still. Nur die Vögel zwitschern und auf einem abgestorbenen Baum sitzen ein paar Kormorane mit ausgebreiteten Flügeln reglos in der Sonne. Das Ufer ist nicht mehr mit grauen Steinblöcken befestigt, stattdessen steht dort Schilf, in dem Spatzen lärmen, und ein paar Seerosenblätter schwimmen auf dem Wasser.

Der Nebenarm verläuft parallel zum Strom, nach ein paar hundert Metern gelange ich über einen schmalen Kanal wieder zurück auf den Fluss und auch im Hauptarm hat die Strömung nun nachgelassen.

»Km 2 373,1 – Beginn des Rückstaus der Staustufe Geisling«, steht im Wasserwanderführer.

Das Buch ist sehr hilfreich. Alle Orte, Brücken und Zeltmöglichkeiten sind auf hundert Meter genau verzeichnet, dazu kommen kurze, nützliche Hinweise und Flussverlaufsskizzen, die Staustufen sind sogar mit kleinen Karten versehen und am Ufer stehen links und rechts Schilder, weiße Zahl auf schwarzem Grund, die die Flusskilometer anzeigen.

Die Donaukilometrierung beginnt in Sulina am Schwarzen Meer mit dem Kilometer 0 und folgt dem Fluss aufsteigend bis zu einer steinernen Tafel mit der Inschrift »Donau 2 779« am Zusammenfluss von Brigach und Breg bei Donaueschingen.

 

Eigentlich ist das alles ziemlich gut eingerichtet, denke ich, beinahe wie eine Straße ist der Fluss ausgeschildert, Schleusen werden auf blauen Tafeln angekündigt und Bojen – links sind sie grün, rechts rot – markieren die Schiffsrinne. Nach einem kurzen Blick in das Buch weiß ich immer, wo ich bin, und ich stoppe die Zeit und rechne aus, dass ich mit fünf bis sechs Kilometern in der Stunde vorankomme.

Links und rechts verbirgt ein mit kurzem Rasen bewachsener Damm das umliegende, flache Land und nur ab und an sehe ich die roten Ziegeldächer eines Dorfes oder die Spitze eines Kirchturms und links auf einem Hügel steht die Walhalla.

Ein paar Kilometer weiter steht das Wasser ganz. Die Donau ist nun kein Fluss mehr, sondern ein See, breit und ruhig. Ich kann mich nicht mehr treiben lassen, ich muss paddeln, um voranzukommen und schaffe nicht viel mehr als drei bis vier Kilometer in der Stunde.

Am blauen Himmel schweben nur noch ein paar kleine, weiße Wölkchen, die Sonne scheint und es ist warm geworden, Schweiß steht mir auf der Stirn und ich glaube, ich bekomme langsam einen leichten Sonnenbrand.

Ein großes Schiff kommt mir entgegen, dick und breit und lang. Vor sich schiebt es eine weißschäumende Bugwelle her und es kommt schnell näher. Das Schiff fährt in knapp hundert Metern Entfernung an mir vorüber und ich sehe die Wellen auf mich zulaufen. Sie sind einen guten halben Meter hoch und ich drehe die Bootsspitze in Richtung Flussmitte, so dass ich direkt in sie hineinfahre. Das Boot schaukelt, es hebt und senkt sich, liegt aber stabil im Wasser. Kurz darauf brechen sich die Wellen am Ufer und kommen zurück. Erst nach ein paar Minuten hat sich das Wasser wieder beruhigt und langsam, denke ich, langsam lerne ich, wie alles funktioniert, mittlerweile kann ich mir tatsächlich sogar schon beinahe vorstellen, in den nächsten drei Wochen im Boot unterwegs zu sein, und es ist nicht mehr weit bis zur Staustufe Geisling, der ersten von insgesamt dreizehn Donauschleusen in Deutschland und Österreich.

Die Skizze im Buch habe ich mir zwar immer wieder angesehen, verstehe sie aber nicht.

Am Horizont taucht eine graue Betonmauer auf, die sich über die gesamte Flussbreite spannt, flankiert von Türmen und großen Gebäuden, und ich binde das Boot an der ersten der eisernen Leitern in der langen Kaimauer am linken Ufer fest, klettere hinauf und sehe auf einem kurzgeschnittenen Rasen ein Schild stehen. »Zur Schleusung über Sprechstelle melden. Weisung über Lautsprecher abwarten«, steht darauf, aber ich gehe erst einmal nach vorn. Dort steht ein Turm mit einer verglasten Kanzel, der aussieht wie ein Flughafentower, und über dem breiten Doppelflügeltor der Schleuse leuchtet eine rote Ampel. Hinter der Anlage ergießt sich das Wasser neben dem Schleusenbecken rauschend und donnernd über eine etwa fünf Meter hohe Staumauer.

Ich gehe zurück und neben dem Schild hängt an einem Pfahl unter einem kleinen Dach ein altertümliches Telefon.

Ich hebe den Hörer ab und es klingelt.

»Grüß Gott!«, sagt eine Männerstimme.

»Guten Tag!«, sage ich. »Ich möchte geschleust werden, mit meinem Paddelboot, geht das?«

»Jaja, das geht«, antwortet der Mann. »In fünfzig Minuten kommt ein Frachter. Wenn die Ampel auf Grün schaltet, fährt zuerst das große Schiff in die Schleuse, danach rufe ich Sie aus und dann kommen Sie in die Kammer.«

»Danke!«, sage ich und lege auf.

Das scheint ja doch ganz einfach zu sein und gar nicht so kompliziert wie ich befürchtet hatte, und ich setze mich unter einen Baum in den Schatten und warte auf das Schiff.

Nach einer knappen Stunde kommt der Frachter und legt an der rechten Kaimauer an, ich stehe auf und sehe zur Ampel. Das Tor zur Schleusenkammer öffnet sich und die Ampel schaltet auf Grün, das Schiff fährt hinein und ich klettere die Leiter hinunter, steige ins Boot und mache die Leinen los.

»Das Ruderboot jetzt bitte in die Schleusenkammer einfahren!«, ertönt es aus einem Lautsprecher und ich paddle los. In der Kammer halte ich mich an einer in die Mauer eingelassenen Eisenleiter fest und hinter uns schließt sich quietschend und rumpelnd das schwarzstählerne Tor.

Das Schiff neben mir ist die »Doria«. Unter der Brücke liegen die Kabinen, in den Fenstern hängen Spitzengardinen, stehen Blumentöpfe und kleine Gartenzwerge aus Ton. Die »Doria« sieht beinahe so aus wie ein stählernes, weißgestrichenes, schwimmendes Einfamilienhäuschen und auf dem flachen Dach steht ein frischgeputzter, silberfarbener Mercedes.

Nach einer Weile beginnt der Wasserspiegel zu fallen. Langsam und Zentimeter für Zentimeter und Meter für Meter sinken wir immer tiefer. Die Mauer neben mir ist nach einer halben Stunde etwa fünf Meter hoch, nass und mit Algen bewachsen, und die Leiter, an der ich mich festhalte, ist glitschig. Aus kleinen Vertiefungen in der Wand tropft Wasser.

Das vordere Tor öffnet sich und wieder schaltet eine Ampel von Rot auf Grün. Hinter der »Doria« schäumt grünlichweiß das Wasser auf und sie fährt hinaus. Nach einer Weile, als sich das Wasser wieder beruhigt hat, folge ich ihr. Der Fluss fließt nun wieder, über etliche Kilometer steht dichter Auwald an beiden Ufern und als er sich lichtet, kann ich am linken Horizont schon hellblau die Berge des Bayerischen Waldes erkennen.

In einer Bucht mit Kiesstrand und einem schmalen Streifen Wiese, umgeben von Wald, baue ich das Zelt auf und zünde ein kleines Feuer an. Es ist ganz still, nur ein paar wenige Vögel zwitschern und das Feuer knackt leise. Ich sitze auf einem Stein und sehe über den Fluss und auf das gegenüberliegende Ufer, wo die Bäume in der Abendsonne leuchten. Ein Schwarm kleiner Fische steht im klaren Wasser in Ufernähe, ein Biber schwimmt an der Bucht vorbei, er scheint mich nicht zu bemerken und aus der Ferne ist leise das Motorengeräusch eines flussaufwärts fahrenden Lastkahns zu hören, das langsam näher kommt.

Am Bug der »Phoenix«, der Name steht in lateinischen und in kyrillischen Buchstaben an der weißen Schiffswand, hängt die deutsche, am Heck die weiß-grün-rote bulgarische Flagge. Vor das Schiff ist, wie ein Anhänger an einen LKW, ein Schubleichter gekoppelt, ein voll beladener Lastkahn ohne Brücke und Motor, eine schwimmende Wanne aus rostrotem Stahlblech.

Ich sitze am Ufer und habe Muskelkater in den Armen und den Händen. Die Finger, die den ganzen Tag das Paddel gehalten haben, krümmen sich auch jetzt am Abend noch und es fällt ein wenig schwer, sie gerade auszustrecken.

Ich habe einen Sonnenbrand und morgen, denke ich, morgen werde ich mir in Straubing Sonnencreme und einen Hut kaufen, mache mir ein paar Notizen und schreibe die Erlebnisse der ersten beiden Tage in meine Kladde.

IN DER STAUSTUFE STRAUBING, lese ich am Morgen im Wasserwanderführer, wird nur die Großschifffahrt geschleust, für Kanufahrer gäbe es stattdessen eine »leicht bedienbare Bootsgasse«, was immer das auch sein mag. Aber ich kann die Skizze im Buch schon etwas besser verstehen als gestern und fahre zur Bootsgasse neben der Schleuse.

Eine Öffnung ist mit einem Brett versperrt, neben dem Brett hängt an einem Pfosten eine Kette wie an einer altertümlichen Klospülung und auf einem Schild steht »Bootsgasse. Bitte ziehen«. Ich ziehe an der Kette, das Brett senkt sich und macht den Blick frei auf eine vielleicht zwanzig Meter lange, steile Rinne, etwa zweieinhalb Meter breit, durch die nun Wasser fließt. Die Bootsgasse.

So muss ich wenigstens nicht darauf warten, dass ein großes Schiff kommt, mit dem ich geschleust werden kann, denke ich und fahre vorsichtig hinein. Der Bug senkt sich, das Boot gleitet durch den Kanal und Wasser spritzt mir ins Gesicht, es ist ein bisschen wie Achterbahn fahren und kurz darauf schwimmt das Boot fünfeinhalb Meter tiefer im Fluss.

Jetzt sind es genau einhundert Kilometer bis zur Schleuse Kachlet und bis zum Beginn des Rückstaus fließt das Wasser nun auf achtzig Kilometern frei. Zwischen Straubing und Vilshofen liegt das letzte, größere, unverbaute Stück Donau in Deutschland.

In Straubing scheint eine flache, steinerne Rampe ein guter Anlegeplatz zu sein, aber seltsamerweise liegt die Rampe verkehrtherum im Fluss. Ich muss wenden und gegen die Strömung auf sie hinauffahren. Doch das geht ganz leicht und ich muss nur ein wenig schneller sein als die Strömung, schon lässt sich das Boot erstaunlich gut manövrieren und ich schlittere nicht mehr mit der Fließgeschwindigkeit über die Steine, sondern gleite ganz langsam und sacht ans Ufer. Nicht die Rampe liegt also verkehrt im Fluss, sondern ich bin bisher in die falsche Richtung an Land gefahren.

Der Bootsrumpf sitzt auf, ich springe heraus und hole mir, zum ich weiß nicht wievielten Male, nasse Füße.

Alle zwei bis drei Stunden fahre ich an Land und Wellen schwappen ans Ufer, das manchmal fest, manchmal sandig und manchmal schlammig ist, ich muss aussteigen und das Boot ein Stück weit an Land ziehen, ich stehe im Wasser und trocken bleiben die Füße beim Ein- und Aussteigen eigentlich nie.