Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen

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Aus der Reihe: Mit Kindern wachsen
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Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen
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Daniel J. Siegel & Mary Hartzell

Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen


Für unsere Kinder:

Für die Freude und die Weisheit, die sie in unser Leben bringen,

und in tiefer Dankbarkeit für unsere Eltern:

Für das kostbare Geschenk des Lebens

und für alles, was wir von ihnen gelernt haben

1. Auflage 2020

Copyright © 2003 by Daniel J. Siegel und Mary Hartzell

Copyright der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiamt, 2004.

Published by arrangement with Jeremy P. Tarcher,

a member of Penguin Group (USA) Inc.

First published in the United States under the title

Parenting from the Inside Out by Daniel J. Siegel and Mary Hartzell

Lektorat: Eva Bachmann

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-335-8

Inhalt

Einführung

Kapitel 1: Wie wir uns erinnern

Kapitel 2: Wie wir die Realität wahrnehmen

Kapitel 3: Wie wir fühlen

Kapitel 4: Wie wir kommunizieren

Kapitel 5: Wie wir uns binden

Kapitel 6: Wie wir unser Leben verstehen

Kapitel 7: Wie wir uns zusammennehmen oder zusammenbrechen

Kapitel 8: Wie wir uns trennen und wieder verbinden

Kapitel 9: Wie wir die Geistsicht entwickeln

Einige Gedanken zum Abschluss

Dank

Weiterführende Literatur

Einführung

Erziehung von innen heraus

Die Art und Weise, wie man die Erfahrungen seiner Kindheit verarbeitet, hat tief greifende Auswirkungen auf die Erziehung der eigenen Kinder. In diesem Buch untersuchen wir, wie sich Selbstkenntnis auf unsere Vorstellungen von unserer Rolle als Eltern auswirkt. Wenn wir uns selbst besser verstehen, hilft uns das, eine bessere und freudvollere Beziehung zu unseren Kindern aufzubauen.

Indem wir an uns wachsen und uns selbst besser verstehen, bieten wir unseren Kindern ein Maß an emotionalem Wohlbefinden und Sicherheit, auf dessen Grundlage sie sich gut entwickeln können. Untersuchungen über die Entwicklung von Kindern haben gezeigt, dass die Qualität einer Eltern-Kind-Bindung sehr stark davon abhängt, wie gut Eltern ihre eigenen frühen Lebenserfahrungen verarbeitet haben. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme bestimmen frühe Erfahrungen nicht zwingend unser Schicksal. Wenn man eine schwierige Kindheit hatte und sich mit diesen Erfahrungen auseinander gesetzt hat, muss man nicht zwangsläufig die gleiche problematische Beziehung mit seinen eigenen Kindern nachbilden. Es ist jedoch wissenschaftlich erwiesen, dass sich die Geschichte ohne Selbstkenntnis wahrscheinlich wiederholen wird, da Familien negative Beziehungsmuster von Generation zu Generation weitergeben. Dieses Buch soll dabei helfen, die Vergangenheit und Gegenwart unseres Lebens besser zu verstehen, indem wir uns bewusst machen, wie unsere Kindheit unser Leben beeinflusst und wie sie sich auf unsere Rolle als Eltern auswirkt.

Wenn wir Eltern werden, erhalten wir die wunderbare Gelegenheit, uns selbst weiterzuentwickeln, denn wir erleben erneut eine innige Eltern-Kind-Beziehung, dieses Mal jedoch in einer anderen Rolle. Immer wieder sagen Eltern: „Ich hätte nie gedacht, dass ich meinen Kindern all die Dinge antun oder sagen würde, die mich selbst als Kind verletzt haben. Und doch ertappe ich mich dabei.“ Sie fühlen sich vielleicht in wiederkehrenden, unproduktiven Verhaltensmustern gefangen, die in keiner Weise zu der liebevollen und fördernden Beziehung beitragen, welche sie sich zu Beginn ihrer Elternrolle ausgemalt haben. Wenn sie ihre Lebenserfahrungen verarbeiten, können Eltern sich von den Mustern der Vergangenheit befreien, die sie in der Gegenwart gefangen halten.

Über die Autoren

Die Autoren lassen ihre unterschiedlichen beruflichen Erfahrungen aus ihrer Arbeit mit Eltern und Kindern in dieses Buch einfließen. Daniel Siegel ist Kinderpsychologe und Mary Hartzell Erzieherin. Beide sind selbst Eltern: Daniel Siegel hat schulpflichtige Kinder, Mary Hartzells Kinder sind erwachsen und haben bereits eigene Kinder.

Mary Hartzell leitet einen Kindergarten und arbeitet seit über dreißig Jahren als Erzieherin mit Kindern und Familien. Sie arbeitet mit Kindern, Eltern und Lehrern und berät Eltern individuell. Sie konnte am Leben vieler Familien teilhaben und dabei viel über die Freuden und Frustrationen lernen, welche mit dieser manchmal entmutigenden Aufgabe des Elternseins einhergehen. Bei der Ausarbeitung ihrer Kurse für Eltern fand Mary Hartzell heraus, dass Eltern, die ihre Kindheitserfahrungen aufarbeiten konnten, beim Umgang mit ihren eigenen Kindern eine bessere Auswahl der Mittel hatten.

Mary Hartzell und Daniel Siegel begegneten sich, als seine Tochter den Kindergarten besuchte, den Mary Hartzell leitete. In dieser Einrichtung wird ein Ansatz verfolgt, der die emotionalen Erfahrungen von Kindern in jeder Hinsicht respektiert und die Würde und Kreativität von Kindern, Eltern und Erziehern unterstützt. Zu jener Zeit hielt Daniel Siegel im Rahmen der Elternbildung an ebendiesem Kindergarten einige Vorträge über Gehirnentwicklung. Als Mary und Dan klar wurde, dass ihre Erziehungsansätze in der gleichen Richtung verliefen, beschlossen sie, gemeinsam ein Seminar auszuarbeiten, das beide Gesichtspunkte integrierte.

Dans Interesse an der Entwicklungsforschung und seine Arbeit als Kinderpsychologe eröffneten eine andere, ergänzende Perspektive. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet er daran, durch eine Synthese zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen eine umfassende Basis für die Entwicklungsforschung zu schaffen, auf der man zu einem besseren Verständnis von Geist, Gehirn und menschlichen Beziehungen gelangen kann. Diese interdisziplinäre Annäherung wurde in den USA unter dem Namen „interpersonelle Neurobiologie“ bekannt und nach und nach zum Bestandteil einer Reihe berufsbezogener Fortbildungsprogramme für geistige und emotionale Gesundheit. Als sein Buch über die Entwicklung des Geistes mit dem Titel The Developing Mind. Toward a Neurobiology of Interpersonal Experience 1999 in den USA erschien, gaben Mary und Dan bereits ihre ersten Kurse. Das begeisterte Echo der Eltern inspirierte sie dazu, gemeinsam dieses Buch zu erarbeiten. Viele der Eltern bemerkten während der Seminare, wie sehr ihnen diese Ideen dabei halfen, sich selbst besser zu verstehen und eine sinnerfüllte Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen. „Warum schreiben Sie nicht gemeinsam ein Buch, so dass auch andere an dieser spannenden Kombination von Wissenschaft und Weisheit – und der Energie – teilhaben können, die Sie in dieses Seminar eingebracht haben?“, drängten zahlreiche Eltern.

Die Vorstellung, diesen Ansatz mit anderen zu teilen, ist sehr aufregend. Möge dieses Buch auf unterhaltsame und verständliche Weise einige dieser praktischen Gedanken über die Kunst und die Wissenschaft davon vermitteln, wie man Beziehungen und Selbsterkenntnis kultivieren kann. Die Autoren hoffen, dass dieses Buch Eltern und Kindern dazu verhelfen wird, jeden Tag mehr Freude aneinander zu haben.

Beziehungen knüpfen und sich selbst verstehen

Die Art und Weise, wie wir mit unseren Kindern kommunizieren, beeinflusst in großem Maße ihre Entwicklung. Unsere Fähigkeit zu einer einfühlsamen und wechselseitigen Kommunikation trägt dazu bei, dass ein Kind sich sicher fühlt, und dieses Vertrauen in sichere Bindungen hilft Kindern in vielen Bereichen ihres Lebens. Wie sehr wir unseren Kindern durch wirksame Kommunikation ein Gefühl der Sicherheit vermitteln können, hängt in hohem Maße davon ab, wie gut wir unsere eigenen frühen Erlebnisse verarbeitet haben. Indem wir unser Leben verstehen, verstehen und integrieren wir unsere eigenen Kindheitserfahrungen, positive wie negative, und akzeptieren sie als Teil unserer fortlaufenden Lebensgeschichte. Wir können nicht ändern, was uns als Kind widerfahren ist, wohl aber unsere Sichtweise dieser Erlebnisse.

Um anders über unser Leben denken zu können, müssen wir uns unsere heutigen Erfahrungen mitsamt all unseren Gefühlen und Wahrnehmungen bewusst machen, und wir müssen verstehen, wie sich Ereignisse aus unserer Vergangenheit auf unsere Gegenwart auswirken. Wenn wir wissen, wie sich unsere Erinnerungen formen und wie wir zu unserem Bild von uns selbst als Teil der Welt, in der wir leben, gelangen, können wir besser verstehen, welchen Einfluss unsere Vergangenheit noch immer auf unser Leben ausübt. Wie hilft das unseren Kindern? Wenn wir uns aus den Fesseln unserer Vergangenheit lösen, können wir genau die spontanen und verbindenden Beziehungen zu unseren Kindern aufbauen, die sie benötigen, um zu gedeihen. Je besser wir unsere eigenen emotionalen Erfahrungen verstehen, desto besser können wir uns auf unsere Kinder einstellen und ihr Selbstverständnis und ihre gesunde Entwicklung unterstützen.

Ohne Aufarbeitung wiederholt sich die Geschichte häufig, und Eltern laufen Gefahr, ungute Verhaltensmuster aus ihrer eigenen Vergangenheit an ihre Kinder weiterzugeben. Wenn wir unser eigenes Leben verstehen, kann uns das aus der sonst sehr wahrscheinlich entstehenden Situation befreien, dass wir unseren Kindern das Gleiche antun, was uns in unserer Vergangenheit widerfahren ist. Studien haben deutlich gezeigt, dass die Bindung unserer Kinder an uns von all dem beeinflusst wird, was uns in unserer Jugend geschah, wenn wir diese Erfahrungen nicht aufarbeiten. Indem wir unser eigenes Leben verstehen, verstehen wir auch uns selbst besser und gelangen zu einem stimmigen Bild von unseren Gefühlen, von unserer Sichtweise und von unserem Austausch mit unseren Kindern.

 

Natürlich wird die Persönlichkeitsentwicklung jedes Kindes durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst, unter anderem durch Veranlagung, Temperament, körperliche Gesundheit und Erfahrung. Eltern-Kind-Beziehungen sind eine wichtige Quelle früher Erfahrungen, die einen direkten Einfluss darauf haben, wie sich die gerade entstehende Persönlichkeit eines Kindes formt. Emotionale Intelligenz, Selbstwertgefühl und kognitive und soziale Fähigkeiten basieren auf dieser frühen Bindungsbeziehung. Wie Eltern über ihr eigenes Leben nachgedacht haben, wirkt sich unmittelbar auf die Art dieser Beziehung aus.

Selbst wenn wir gelernt haben, uns selbst gut zu verstehen, werden unsere Kinder doch ihren eigenen Weg durchs Leben gehen. Auch wenn wir ihnen durch unsere Selbsterkenntnis eine sichere Grundlage bieten mögen, so können wir in unserer Rolle als Eltern die Entwicklung unserer Kinder lediglich unterstützen, ein Ergebnis garantieren können wir nicht. Untersuchungen liefern jedoch Anhaltspunkte dafür, dass Kinder mit einer positiven Beziehung flexibler mit den Herausforderungen des Daseins umgehen können. Um eine positive Beziehung zu unseren Kindern aufzubauen, müssen wir für unser eigenes Wachstum und für unsere Entwicklung offen sein.

Durch Reflexion können wir zu einem stimmigeren Bild unserer eigenen Lebensgeschichte gelangen und unsere Beziehung zu unseren Kindern verbessern. Es gibt keine „perfekte“ Kindheit, und manche von uns mussten mehr Herausforderungen begegnen als andere. Doch selbst Menschen mit einer überaus schwierigen Vergangenheit können diese aufarbeiten und eine sinnvolle und bereichernde Beziehung zu ihren Kindern erlangen. Das spannende Ergebnis einiger Untersuchungen zeigt, dass auch Eltern, die selbst keine „guten“ Eltern oder sogar eine traumatische Kindheit hatten, ihr Leben aufarbeiten und gesunde Beziehungen eingehen können. Für unsere Kinder ist nicht so wichtig, was uns in unserer Vergangenheit widerfahren ist, sondern vielmehr, wie wir damit umgehen. Und wir haben ein Leben lang die Gelegenheit, uns zu verändern und zu entwickeln.

Über dieses Buch

Dieses Buch ist keine Gebrauchsanleitung für Erziehung, sondern ein Wegweiser zu uns selbst. Wir werden neue Erkenntnisse über das Leben mit Kindern auskundschaften, indem wir untersuchen, wie wir uns erinnern, wie wir wahrnehmen, fühlen, kommunizieren, uns binden, Bedeutung erfahren, uns trennen und wieder verbinden, und mit unseren Kindern über die Natur ihrer inneren Erfahrungen nachdenken. Wir werden die neuere Forschung hinsichtlich Eltern-Kind-Beziehungen erkunden und dabei neue Erkenntnisse über die Hirnforschung einbeziehen. Indem wir wissenschaftliche Erkenntnisse über unser Erleben und unsere Bindungen untersuchen, erhalten wir eine neue Perspektive, die uns helfen kann, uns selbst, unsere Kinder und unsere Beziehungen zueinander besser zu verstehen.

Die „Übungen von innen heraus“ am Ende jedes Kapitels können dazu verwendet werden, neue Möglichkeiten für unser inneres Selbstverständnis und unseren Austausch mit anderen zu erforschen. Die Überlegungen, zu welchen diese Übungen Anlass geben, haben vielen Eltern geholfen, aktuelle und vergangene Erlebnisse besser zu verstehen, und sie befähigt, ihr Verhältnis zu ihren Kindern zu verbessern.

Wenn Sie Ihre Er fahrungen aus diesen Übungen niederschreiben, kann Sie das zu einem intensiveren Nachdenken und zu einem besseren Selbstverständnis führen. Das Schreiben kann Ihnen dabei helfen, den Kopf von den Verstrickungen der Vergangenheit frei zu bekommen. Tragen Sie in Ihr Tagebuch ein, was immer Sie möchten: Zeichnungen, Überlegungen, Beschreibungen, Geschichten … Manche mögen überhaupt nichts aufschreiben, sondern reflektieren lieber in Ruhe für sich oder sprechen mit einem Freund oder einer Freundin. Andere schreiben gern jeden Tag in ein Tagebuch oder immer dann, wenn ein Erlebnis oder ein Gefühl sie dazu bewegt. Tun Sie das, wonach Ihnen ist. Der Wert der Übungen erschließt sich durch eine offene Einstellung und sorgfältiges Nachdenken.

Die Abschnitte „Im Licht der Wissenschaft“ am Ende jedes Kapitels bieten dem interessierten Leser zusätzliche Informationen über Forschungsergebnisse zum Leben mit Kindern. Diese Abschnitte sind nicht essentiell notwendig, um dieses Buch zu verstehen und damit arbeiten zu können. Sie enthalten weiterführende, leicht verständlich aufbereitete Informationen, die einen tieferen Einblick in die wissenschaftlichen Grundlagen dieses Buches geben, und wir hoffen, dass Sie diese als nützlich und zum Nachdenken anregend empfinden. Jeder dieser Abschnitte bezieht sich zwar auf das jeweils aktuelle Kapitel, sie sind jedoch vom Haupttext unabhängig und können auch jeder für sich gelesen werden. Alle wissenschaftlichen Abschnitte zusammen verschaffen eine interdisziplinäre Sicht auf jene Aspekte der Forschung, die für das Leben mit Kindern wichtig sind.

Unter Wissenschaftlern gibt es die Redewendung, dass „der Zufall den vorbereiteten Geist begünstigt“. Kenntnisse über Entwicklungsforschung und menschliches Erleben können Sie darauf vorbereiten, ein tieferes Verständnis von Ihrem eigenen und dem emotionalen Leben Ihrer Kinder zu entwickeln. Ganz gleich, ob Sie die wissenschaftlichen Abschnitte direkt nach jedem Kapitel lesen oder sich lieber erst nach Abschluss des gesamten zentralen Textes näher damit befassen – wir hoffen, dass Sie einfach Ihren eigenen bevorzugten Lernstil berücksichtigen.

Über Erziehung

Dieses Buch wird Sie ermutigen, sich dem Thema Erziehung auf der Basis von Grundprinzipien inneren Verstehens und zwischenmenschlicher Beziehungen anzunähern. Die Eckpunkte für diesen Ansatz einer Eltern-Kind-Beziehung sind Achtsamkeit, lebenslanges Lernen, flexibles Verhalten, Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes und freudvolles Leben.

Achtsam sein

Achtsamkeit ist das Herzstück jeder bereichernden Beziehung. Wenn wir achtsam sind, leben wir im Hier und Jetzt, sind uns unserer eigenen Gedanken und Gefühle bewusst und gleichzeitig offen für diejenigen unserer Kinder. Wenn wir in uns selbst klar und aufmerksam sein können, sind wir fähig, unsere Aufmerksamkeit anderen zu widmen und die individuellen Erfahrungen jedes Einzelnen zu respektieren. Zwei Personen sehen die gleichen Dinge niemals genau gleich. Achtsamkeit respektiert die Einzigartigkeit eines jeden Menschen uns sein Recht auf Selbstbestimmung.

Wenn wir als Eltern völlig präsent sind, wenn wir achtsam sind, dann befähigt dies unsere Kinder, sich selbst in diesem Moment ganz zu erleben. Kinder lernen durch die Art und Weise, wie wir mit ihnen kommunizieren, etwas über sich selbst. Wenn wir mit der Vergangenheit beschäftigt sind oder uns Sorgen um die Zukunft machen, dann sind wir zwar physisch bei ihnen, aber geistig abwesend. Kinder benötigen unsere ungeteilte Aufmerksamkeit nicht rund um die Uhr, wohl aber bei Interaktionen, die unsere Bindung zu ihnen betreffen. Als Eltern achtsam zu sein heißt absichtsvoll handeln. Sie wählen Ihr Verhalten bewusst und haben dabei stets das Wohlergehen Ihrer Kinder im Sinn. Kinder nehmen dies sehr leicht wahr und blühen auf, wenn sie einen absichtsvollen Austausch mit ihren Eltern erleben. In ihrer emotionalen Bindung zu uns entwickeln Kinder dabei ein tieferes Verständnis ihrer selbst sowie die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen.

Lebenslanges Lernen

Ihre Kinder bieten Ihnen die Möglichkeit, sich zu entwickeln, und fordern Sie dazu heraus, sich mit unerledigten Angelegenheiten Ihrer eigenen Kindheit zu befassen. Wenn Sie diese Herausforderung als Last empfinden, kann das Leben mit Kindern zu einer lästigen Pflicht werden. Wenn Sie hingegen versuchen, diese Momente als Chance zu begreifen, dann können Sie wachsen und sich weiterentwickeln. Mit der Bereitschaft, ein ganzes Leben lang dazuzulernen, können Sie sich dieser „Entdeckungsreise Erziehung“ mit großer Offenheit nähern.

Der Geist entwickelt sich ein Leben lang weiter. Er wird durch die Aktivität des Gehirns hervorgebracht, so dass die Erkenntnisse der Hirnforschung dazu beitragen können, dass wir uns selbst besser verstehen. Neuere Ergebnisse in den Neurowissenschaften lassen den Schluss zu, dass das Gehirn ein Leben lang sowohl neue Verbindungen und möglicherweise sogar neue Nervenzellen, Neurone, bildet. Die Verbindungen zwischen den Neuronen bestimmen, wie geistige Prozesse hervorgebracht werden. Erfahrungen führen zu neuralen Verbindungen im Gehirn. Daher formen Erfahrungen das Gehirn. Zwischenmenschliche Beziehungen und das Nachdenken über uns Selbst fördern die stetige Entwicklung des Geistes: Als Eltern haben wir die Chance, unaufhörlich zu lernen, indem wir unsere Erfahrungen aus immer wieder neuen Blickwinkeln betrachten. Und wir können bei unseren Kindern eine offene Geisteshaltung unterstützen, indem wir ihre Neugier wach halten und sie bei ihrer immer weiter führenden Erkundung der Welt begleiten. Die komplexen und oft herausfordernden Interaktionen im Leben mit Kindern schaffen uns immer wieder die Gelegenheit, dass unsere Kinder und wir selbst wachsen und uns entwickeln.

Flexibles Verhalten

Sich flexibel verhalten zu können ist eine der größten Herausforderungen für Eltern. Flexibles Verhalten ist die geistige Fähigkeit, eine Vielzahl mentaler Prozesse, beispielsweise Impulse, Ideen und Gefühle, zu sichten und wohlüberlegt zu handeln. Anstatt einfach automatisch auf eine Situation zu reagieren, kann jeder Einzelne abwägen und eine angemessene Handlungsweise bewusst auswählen. Flexible Handlungen sind das Gegenteil einer reflexartigen Handlung. Dazu gehört, dass man Bedürfnisse zurückstellen und impulsives Verhalten zügeln kann. Diese Fähigkeit ist ein Grundstein für emotionale Reife und mitfühlende Beziehungen.

Unter bestimmten Umständen kann unsere Flexibilität gestört sein. Wenn wir müde, hungrig, frustriert, enttäuscht oder wütend sind, können wir vielleicht nicht mehr nachdenken und sind in der freien Wahl unseres Verhaltens eingeschränkt. Wir können ganz von unseren Gefühlen mitgerissen werden und die Übersicht verlieren. In solchen Momenten können wir nicht mehr klar denken und laufen sehr stark Gefahr, überzogen zu reagieren und unseren Kindern Leid zu verursachen.

Kinder fordern uns dazu heraus, flexibel und emotional ausgeglichen zu bleiben. Es ist bisweilen schwierig, Flexibilität und die Bedeutung von Strukturen im Leben eines Kindes richtig auszubalancieren. Eltern können lernen, dieses Gleichgewicht herzustellen und Flexibilität bei ihren Kindern fördern, indem sie selbst im Umgang mit anderen beweglich bleiben. Wenn wir flexibel sind, haben wir die Wahl, wie wir uns verhalten und welchen erzieherischen Ansatz und welche Wertvorstellungen wir unterstützen. Wir können agieren anstatt nur zu reagieren. Mit dieser Flexibilität können wir etliche Emotionen im Zaum halten und, nachdem wir den Standpunkt unseres Gegenübers in Betracht gezogen haben, überlegen, wie wir darauf antworten. Wenn Eltern flexibel auf ihre Kinder eingehen können, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass auch ihre Kinder Flexibilität entwickeln.

Die Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes

Die Fähigkeit, unsere eigenen geistigen Prozesse und die anderer wahrzunehmen, bezeichnen wir als mindsight, als „Sicht des Geistes“ oder „Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes“. Unser Geist erschafft Abbildungen, so genannte Repräsentationen, von Objekten und Ideen. So können wir zum Beispiel das Bild einer Blume oder eines Hundes in unserem Geist visualisieren, obwohl in unserem Kopf nicht wirklich eine Pflanze oder ein Hund existiert, nur ein neural konstruiertes Symbol, das Informationen über das jeweilige Objekt enthält. Die Geistsicht stützt sich auf dessen Fähigkeit, mentale Bilder seiner selbst zu erschaffen. Diese Fähigkeit erlaubt es uns, unser Augenmerk auf unsere eigenen Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, Empfindungen, Erinnerungen, Überzeugungen, Einstellungen und Absichten und auf die anderer zu richten. Dies sind die Grundelemente des Geistes, die wir wahrnehmen und verwenden können, um unsere Kinder und uns selbst zu verstehen.

Eltern reagieren auf das Verhalten ihrer Kinder oft, indem sie sich auf den oberflächlichen Eindruck der Erfahrung konzentrieren, und nicht auf die tiefere Ebene des Geistes. Manchmal schauen wir wohl nur auf das Verhalten anderer und nehmen nur die Art und Weise wahr, wie Menschen handeln, ohne die inneren Abläufe zu sehen, die diese Handlungen herbeiführen. Es gibt jedoch eine tiefere Ebene hinter dem Verhalten, die Wurzel unserer Motive und Handlungen. Diese tiefere Ebene ist der Geist. Die Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes erlaubt es uns, unser Augenmerk auf mehr als nur die Oberfläche unserer Erfahrungen zu richten. Eltern, die sich im Umgang mit ihren Kindern auf die geistige Ebene konzentrieren, fördern die Entwicklung von emotionalem Verständnis und Mitgefühl. Mit Kindern über ihre Gedanken, Erinnerungen und Gefühle zu sprechen gibt ihnen wichtige zwischenmenschliche Erfahrungen, die sie benötigen, um sich selbst zu verstehen und ihre sozialen Fähigkeiten zu entwickeln.

 

Mit der Einsicht in die Funktionsweise unseres Geistes können Eltern durch die wahrgenommenen Hauptsignale hindurch den Geist ihrer Kinder „sehen“. Verbale Informationen, die Worte, die Menschen verwenden, sind nur ein Teil davon, wie wir zum Verständnis anderer gelangen. Nonverbale Mitteilungen wie Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Tonfall, Gestik und Körperhaltung sowie die zeitliche Abstimmung und die Intensität einer Erwiderung sind ebenso außerordentlich wichtige Elemente der Kommunikation. Diese nonverbalen Signale können direkter ausdrücken, was in uns vorgeht, als unsere Worte es vermögen. Offenheit gegenüber nonverbaler Kommunikation hilft uns dabei, unsere Kinder besser zu verstehen, und erlaubt es uns, ihre Sichtweise in Betracht zu ziehen und mitfühlend auf sie einzugehen.

Freudvolles Leben

Freude an Ihrem Kind zu haben und Anteilnahme an dem Abenteuer zu entdecken, was es heißt lebendig zu sein, ein Mensch in einer wunderbaren Welt zu sein, ist für die Entwicklung eines positiven kindlichen Selbstverständnisses von grundlegender Bedeutung. Wenn wir uns selbst und unseren Kindern respektvoll und mitfühlend begegnen, gewinnen wir oft eine neue Perspektive, die unsere Freude am gemeinsamen Leben bereichern kann. Sich an die Erfahrungen des täglichen Lebens zu erinnern und darüber nachzudenken, bewirkt ein tiefes Gefühl von Verbundenheit und Verständnis.

Eltern können der Aufforderung ihrer Kinder, die Schönheiten und die freudigen Beziehungen des Lebens jeden Tag aufs Neue zu schätzen, folgen und sozusagen freudig einen Gang herunterschalten. Wenn Eltern sich in ihrem geschäftigen Leben unter Druck gesetzt fühlen, mag es ihnen oft anstrengend erscheinen, bei der Verwaltung von Familienterminen alle Einzelheiten im Auge zu behalten. Aber man muss Kinder genießen und schätzen, nicht verwalten. Wir konzentrieren uns häufig auf die Probleme des Lebens anstatt auf die Gelegenheiten, uns zu freuen und etwas zu lernen. Wenn wir zu sehr damit beschäftigt sind, etwas für unsere Kinder zu tun, vergessen wir darüber, wie wichtig es ist, einfach mit ihnen zusammen zu sein. Wir können uns einfach daran erfreuen, mit unseren Kindern die wundervolle Erfahrung zu teilen, zusammen zu wachsen. Im Mittelpunkt einer bereichernden Eltern-Kind-Beziehung steht das Lernen, wie man an der Freude des Lebens teilnimmt.

Wenn wir Eltern werden, sehen wir uns oft als Lehrer unserer Kinder, aber wir entdecken bald, dass unsere Kinder genauso unsere Lehrer sind. Durch diese innige Beziehung gewinnen unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine neue Bedeutung, indem wir Erfahrungen miteinander teilen und Erinnerungen schaffen, die unser gemeinsames Leben sehr bereichern. Wir hoffen, dass Ihnen dieses Buch dabei nützt, als Person und als Mutter oder Vater zu wachsen und sich zu entwickeln, so dass Sie die fortdauernde Beziehung zu Ihren Kindern Ihr Leben lang vertiefen können.