Irren ist göttlich

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Irren ist göttlich
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Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39


ZUM BUCH

In der Welt eines fehlerlosen Gottes zu leben, ist sehr angenehm. Solange er keine Fehler macht. Als er den jungen Thariel verflucht, glaubt erst mal niemand an dessen Unschuld.

Also reist er in die Stadt des Allmächtigen, nur um zu erfahren, dass es nicht nur um Gott schlechter steht als befürchtet, sondern gleich um das ganze Königreich. Thariel gerät in Intrigen, legt sich mit finsteren Mächten an und strandet mit einem Zeitmaschinen-Prototypen außerhalb von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wird er den Fluch los und kann er nebenbei das Königreich retten?

»Irren ist göttlich«

Thariel Verlag, Berlin

Copyright © 2020 by Daniel Sand

Covergestaltung: Kati Knitt (www.katiknitt.com)

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers in irgendeiner Form reproduziert und unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN: 978-3-9822093-1-9

Daniel Sand

Irren ist göttlich

Ein Abenteuer vom Würfelplaneten

Für Haiko – Weil ich vergessen habe, wem ich es eigentlich widmen wollte.

Tritt irgendwo ein Gott ab, tritt irgendwo ein Gott an.

Ein altes (nicht sonderlich bekanntes) Sprichwort

Prolog

Über dem Schlachtfeld kreisten schon die Geier und stießen schrille Laute der Vorfreude aus, als Thariel zornig zwischen all den Gefallenen stand. Dunkle Wolken schoben sich vor die Sonne und in der Ferne tanzten Blitze über das Firmament. Bald würde es regnen, auch das noch! Manchmal hörte er auf der Wiese und aus dem nahen Wald noch jemanden seufzen oder stöhnen, doch längst war das Kriegsgeschrei verklungen und eine mächtige Armee war nicht mehr. Thariel trug daran keine Schuld, gewiss nicht! Er hatte eine Strategie gehabt, aber seine Soldaten hatten sie nicht umgesetzt. So war es zu diesem Blutbad gekommen. Er säuberte gerade seine verdreckten Stiefel, als er die Männer den Hügel hinaufkommen sah. Unterhändler aus Tiefburg. Es war Zeit zu verhandeln.

1

Engelsbienen sorgten in der Nacht für Licht. Unzählige Wanderer, die sich in den Rokonischen Sümpfen verirrt hatten, folgten ihnen dankbar durch die Finsternis. Und damit tiefer und tiefer in den Sumpf. Niemand von ihnen kehrte je zurück. Hier draußen, in der Wildnis, wo jeder falsche Schritt der letzte sein konnte, wo noch Fabelwesen durchs Unterholz schlichen und Giftpflanzen geduldig auf ihre Opfer warteten, gab es keine Rettung für sie.

Steine, Äste und Quellen konnten den Tod bringen und wer nicht von Engelsbienen ins Verderben geführt wurde, lauschte womöglich dem Gesang ferner Koboldchöre, gab sich ganz ihrer Musik hin und merkte nicht, wie ihn der Sumpf langsam verschlang. Jedes Geräusch aus den Nebelschwaden konnte eine zuschnappende Falle sein, jeder Pfad im Rachen eines Moorlöwen enden. Manche Sumpfgeister nahmen die Gestalt von Menschen an, um Wanderer in Sicherheit zu wiegen und der süßliche Duft betörender Blumen war nicht selten ein lähmendes Gift. Niemand sollte nachts alleine in den Rokonischen Sümpfen sein … ein Lied pfeifend, hüpfte Thariel von Stein zu Stein und von Wurzel zu Wurzel, immer darauf achtend, nicht auf den feuchten Untergrund zu treten. Zu oft stellte dieser sich als hungriger Treibsand heraus.

Heute Nacht gab es keine Engelsbienen, die ihn verwirren konnten. Das fahle Mondlicht reichte aus, um sich den Weg zu bahnen. Manchmal versuchte eines der Sumpfwesen jedoch, ihn ins Unterholz zu locken, indem es die Schreie von Menschen und das Winseln von Tieren nachahmte. Doch er pfiff weiter sein Lied und störte sich auch nicht an den drei giftgrünen Augen, die ihm eine Weile lang folgten, bevor ein großes rotes Auge auftauchte und es zu einem Kampf in der Düsternis kam. Thariel vermutete hinter den grünen Augen eine Sumpfschlange und hinter dem roten einen Zyklopenbären.

Irgendwann leuchtete ein fernes Licht auf. Ein Haus. Und noch ein Haus. Ein ganzes Dorf. Schon blieb die Wildnis zurück und das Land öffnete sich, wurde breiter und freundlicher. Wald folgte auf Sumpf und fester Untergrund auf feuchten Morast. Als Thariel das Moor endgültig verlassen hatte, drehte er sich noch einmal um. In der Dunkelheit leuchteten Dutzende Augenpaare und es fauchte und knurrte im dampfenden Wasser und in den grauen Ästen toter Bäume.

Thariel liebte es, die Augen zu zählen.

»Wo warst du schon wieder?«

Er zuckte zusammen und versteckte etwas unter seinem Hemd, als Lydia plötzlich mit verschränkten Armen hinter ihm stand: »Wir waren bei meinem Vater zum Essen verabredet! Und was versteckst du da?«

Lydia hatte ihre blonden Haare zu einem Zopf geflochten und trug ein grünes Kleid. Er wusste, dass es ihr nicht gefiel, wenn er durch die Sümpfe wanderte. Aber er wollte das nicht aufgeben. Er liebte die Natur und er nahm es den Monstern nicht übel, dass sie ihn fressen wollten. So etwas sollte man nie persönlich nehmen, fand er. Doch Lydia nahm Sumpfkrokodilen, Heckenadlern und den Flammenzahnschnecken genau das übel.

Aber jetzt war die Welt wieder in Ordnung. Die Monster in ihrem Sumpf und Thariel in seinem Dorf.

»Für dich!« Er zog unter dem Hemd nun ein grünlich schimmerndes Etwas von der Größe einer Tontafel hervor, das einen Geruch verströmte, als würde es schwitzen.

»Igitt, was ist das?« Lydia fasste es nicht an.

»Rinde vom Marathonbaum!« Thariel sprach es mit Stolz aus, weil er wusste, wie schwer es war, einen Marathonbaum zu fangen. Es handelte sich immerhin um die ausdauerndste und zäheste Baumart, der noch dazu die eigenen Wurzeln als verwirrende Zahl von Füßen dienten, statt sich tief ins Erdreich zu graben.

Thariel hatte seinen Marathonbaum mindestens zwei Stunden verfolgt und dachte zwischendurch nicht mehr, dass er ihn einholen würde und er hätte es wohl auch nicht geschafft, wenn der Baum nicht einen Krampf erlitten hätte. Also konnte sich Thariel eine Rindenfläche nehmen, wobei er sich für eine entschied, die ohnehin schon schlapp herunterhing. Durch die schweißtreibende Flucht hatte die Rinde natürlich einen starken Eigengeruch entwickelt, was Thariel nicht störte.

 

»Schön, leg sie doch zu den anderen Sachen aus dem Sumpf, die du immer so mitbringst«, meinte Lydia unbeeindruckt und merkte erst zu spät, dass Thariel auf die Knie gegangen war und ihr die Rinde jetzt mit beiden Händen entgegenstreckte.

Mit dem Grün eines Tintenpilzes hatte er auf die Rinde geschrieben: Willst du mich heiraten, Lydia? Dazu die Antwortmöglichkeiten Ja und Nein.

Lydia wurde erst rot und dann blass. Dann lächelte sie und nahm ihm mit einem leichten Ausdruck von Ekel die Rinde aus der Hand.

»Komm, lass uns ins Haus gehen, mein Vater wartet schon.«

Sie nahmen sich an der Hand und liefen einige Schritte, bevor Thariel fragte: »Und? Wie hast du dich entschieden?«

»Lass mich darüber nachdenken.«

»Was sagt dein Herz?«

»Nichts, Thariel, mein Herz kann nicht sprechen.«

Sie gingen nun etwas schneller durch das Dorf, in dem sie beide geboren und aufgewachsen waren. Lydia am einen Ende dieser Siedlung mit zwölfeinhalb Häusern, er am anderen. Ein größerer Abstand war nicht möglich. Deswegen sagten sie oft im Spaß, dass er aus dem nördlichen Teil käme und sie aus dem südlichen. Zumindest er sagte das immer. Haus zwölfeinhalb war schon zur Hälfte in den Sumpf gerutscht und es war absehbar, dass es irgendwann vollständig verschluckt werden würde. Dieses Haus gehörte Thariel.

Das Dorf selbst befand sich auf einer Lichtung, die von drei Seiten von Wäldern umschlossen wurde, deren Bäume bis hinauf in die Wolken reichten. Erst dort oben berührten sich ihre Wipfel. Manche Dorfbewohner hatten deswegen in ihrem Leben noch keine Baumkrone gesehen und kannten nur diese mächtigen Stämme und gewaltigen Äste. Dass die Wälder hier eine solche Höhe erreichten, lag einerseits an der Abgeschiedenheit und andererseits daran, dass es sich um Himmelsbäume handelte. Sie wuchsen ein Leben lang und sie wurden sehr alt. Es gab Exemplare, die noch nie ein Mensch bestiegen hatte. Es hieß, dass manche eine Höhe von 10.000 Metern erreichten. Baumsteiger waren besessen davon, möglichst viele Erstbesteigungen von Himmelsbaumwipfeln für sich zu reklamieren. Aber das Sumpfdorf lag so abgeschieden, dass sich von diesen Extremsportlern bisher keiner hierher verirrt hatte – oder womöglich verspeisten Tiere, Pflanzen und Fabelwesen der Sümpfe sie auch bei der Anreise.

Auf der anderen Seite wurde das Dorf von eben diesem Sumpf begrenzt, dessen Nebelbänke wie Geisterschiffe über dem grünlichen Morast schwebten. Graue Bäume ragten als traurige Pfähle aus der Düsternis und bei der von Algen, Schlick und Moos bewachsenen Uferlandschaft konnte man nie sicher sein, ob beim nächsten Schritt der scheinbar feste Boden nachgab.

Im Ort selbst gab es eine Feuerstelle und einen Brunnen, die das Zentrum darstellten. Ansonsten bauten die Bewohner in ihren kleinen Gärten alles selbst an, was sie benötigten. Es gab auch eine kleine, umzäunte Weide mit drei Kühen und fünf Schafen. Doch die zahmen Tiere vor den hungrigen Raubtieren aus dem Himmelswald zu beschützen, war zeitaufwendig und gefährlich. Auch wenn die schrecklichsten Geschöpfe in den Sümpfen hausten, strichen immer noch genug blutdurstige Wesen durch die Wälder. Neben den üblichen Wildtieren wie Bergdrachenhirschen, Querstrichhyänen oder Rosawölfen machten hier vor allem Zyklopenelefanten den Menschen das Leben schwer.

Als Thariel Lydia nun bat, den Leuten am Brunnen die Marathonbaumrinde zu zeigen, hatte sie diese schon verloren.

»Tut mir leid, die war so glitschig, wahrscheinlich ist sie mir aus der Hand gerutscht!«

»Soll ich sie suchen gehen?«

Schon zog er in die eine Richtung und sie in die andere.

»Nein, lass gut sein«, setzte sie sich mit einem heftigen Ziehen durch.

Am Dorfbrunnen schöpften zwei Frauen Wasser und kicherten über diese Unstimmigkeit. Andere Bewohner trockneten Wäsche vor dem Haus oder schnitten Tomaten. Von irgendwo zog der Duft eines Distelkuchens herüber, kleine Kinder tobten um die Häuserecken und in der Ferne sang ein Berguhu sein Lied.

»Wie geht’s, Thariel«, rief eine junge Frau mit schwarzen Haaren und grünen Augen, als sie den beiden entgegenkam. In den Armen trug sie Brennholz.

Er nickte freundlich zurück. »Danke, gut, und dir Sulala?«

Thariel mochte sie ganz gerne. Auch sie wanderte oft durch die Sümpfe und schlief mehr unter freiem Himmel als in weichen Betten.

»Sulalas Haus hat kein Dach«, zischte Lydia.

»Es ist nur ein kleiner Dachschaden, wegen des Kugelblitzes, der darüber rollte«, meinte Thariel.

»Warum widersprichst du mir eigentlich dauernd, wenn es um sie geht?«, giftete sie, »immer nimmst du sie in Schutz, ich frage mich, warum du nicht mit ihr zusammen bist!«

»Das war doch nicht so gemeint«, entschuldigte er sich.

»Sulalas Haus hat kein Dach, wie peinlich ist das denn!«

Er nickte und sie atmete durch.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie ihm zufrieden ins Ohr und tätschelte seine Wange, als ob er ein Dressurpegasus war, der ein Kunststück vollführt hat.

»Thariel«, rief jetzt Sulala aus einiger Entfernung, »ich habe was gefunden, was euch gehört!«

»Die gibt auch keine Ruhe«, zischte Lydia und Thariel traute sich nicht, Sulala zu antworten. Lydias Hand bohrte sich so fest in seine, dass ihre Fingernägel ihm wehtaten. Erst als Sulala nicht mehr rief, entspannte sie sich wieder. Nachdem sie schließlich an ihrer Türe angekommen waren, hauchte sie: »Schlaf gut und danke für das Ding, das du mir aus dem Sumpf mitgebracht hast.«

»Marathonbaumrinde.«

»Genau.«

»Und wie wirst du dich entscheiden?«

»Genau«, wiederholte sie und lächelte ihn an.

Er schaute ihr in die dunkelgrünen Augen und träumte davon, sie zu heiraten. Ausgerechnet er, der Kerl mit dem halben Haus und dem unscheinbaren Aussehen. Er war ein schlaksiger Kerl mit braunen Augen und einer etwas breiten Nase über zu dünnen Lippen. Nun wagte er etwas und beugte sich leicht vor, um Lydia zu küssen. Doch statt ihrer weichen Haut spürte er sprödes Holz. Lydia war längst ins Haus gegangen und hatte die Türe geschlossen. Trotzdem ging er danach zufrieden seiner Wege.

Wie seine Vorfahren arbeitete er als Reparaturist im eigenen Laden Reparaturen aller Art. Wenn etwas im Dorf nicht mehr funktionierte, wurde es zu ihm gebracht, auch wenn er im Reparieren nie die Kunstfertigkeit seines Vaters und schon gar nicht die seines Großvaters erreicht hatte, von dem das ganze Dorf noch voller Ehrfurcht sprach. Wenn Thariel mal wieder das wacklige Bein eines Tisches endgültig abbrach oder aus einer beschädigten Uhr eine kaputte machte, hieß es deswegen immer nachsichtig: »Er ist eben nicht sein Großvater.« Genau genommen kam es nie vor, dass er etwas so reparierte, dass es danach nicht einfach auf eine andere Art defekt war. Dennoch mochten ihn die Dorfbewohner. Er gab sich Mühe und außerdem hatten sie Mitleid mit ihm, weil sein Haus vom Sumpf verschluckt wurde.

Thariel fühlte sich rundum wohl in seinem Heimatdorf. Noch nie hatte er etwas Anderes gesehen als die Sümpfe und noch nie hatte er den Wunsch verspürt, dass sich das eines Tages ändern möge. Wie sein Leben verlaufen würde, schien klar vorgezeichnet zu sein. Er würde heiraten – hoffentlich Lydia – und Kinder haben, die eines Tages den Laden übernehmen würden. Er war immer froh gewesen, dass alles so einfach war. Er träumte von der Zeit, da er am Abend mit seiner Frau auf der Terrasse sitzen würde und sie gemeinsam dem Mond zusehen, wie er hinter dem Sumpf aufgeht. Sie würden den Wasserfall bewundern, der vom Mond hinab auf den Planeten stürzt und im Licht der Sterne silbern glänzt. Und sie würden über die komplexen Flugformationen der Algebrakrähen staunen, wenn sie als Zahlenkombination oder geometrische Form über das Dorf hinwegflogen.

Thariel ging in sein halbes Haus und schaute noch hinüber zu Lydias Zimmer, bis dort die Kerze erlosch und das Haus plötzlich von der Dunkelheit verschluckt wurde. Auch er legte sich ins Bett und dachte noch, dass alles gut war, wie es war. Und genau darin bestand das Problem: Als er am nächsten Morgen aufwachte, war es nicht mehr gut, so wie es war.


Als er verschlafen vor dem Spiegel stand, entfuhr ihm ein Schrei. Über seinem Kopf hing eine Regenwolke. Er schlug nach ihr, als wäre sie eine lästige Fliege, aber seine Hände gingen wie durch Nebel. Er rannte hin und her und machte Liegestützen. Er stellte sich auf den Kopf und kippte sich Wasser in den Nacken. Nichts davon beeindruckte die Regenwolke, die weiter über ihm schwebte. Er wusste nicht, was er noch tun sollte und öffnete darum das Fenster.

»Lydia!«, schrie er über das Dorf hinweg, »Lydia!«

Als sie kurz darauf bei ihm ankam, stand Thariel hinter einem Schrank im Flur, so dass sie ihn nicht sofort sehen konnte.

»Versprichst du mir, nicht zu schreien, wenn ich dir jetzt etwas zeige?«, wollte er wissen.

»Was ist los?« Sie klang verärgert, weil er noch nie zuvor über das ganze Dorf hinweg nach ihr gerufen hatte.

»Es ist alles in Ordnung, keine Sorge, es ist nur so, dass ...«

»Komm hinter dem Schrank hervor!«, unterbrach sie ihn.

»Es ist nur so«, setzte er wieder an, konnte seinen Satz aber nicht beenden, weil dieser in Lydias Schrei unterging. Sie hatte nicht mehr warten wollen und war zu ihm gelaufen. Nun torkelte sie mehrere Schritte zurück und Thariel trat in den Flur hinaus.

Über ihm regnete es.

»Nicht so laut, die Nachbarn!« Er presste dabei den Finger vor den Mund und Lydia ging dazu über, nur noch aufgeregt zu atmen, bis ihr schwindelig wurde und sie sich setzen musste.

Eine Weile saß sie nur da und trank das Wasser, das Thariel ihr gebracht hatte. Dann meinte sie mit ruhigerer Stimme: »Was ist das?«

»Keine Ahnung.« Thariel schüttelte den Kopf.

Als sich Schritte näherten, versteckte er sich erneut hinter dem Schrank und setzte sich erst wieder zu Lydia, als diese sich entfernt hatten.

»Lass mich mal sehen.«

Sie betrachtete die Wolke aus allen Richtungen. Nichts unterschied sie von gewöhnlichen Regenwolken, außer, dass sie viel kleiner war. Lydia blies dagegen, ohne dass es eine Wirkung zeigte. Dann nahm sie einen Holzlöffel und schlug damit in die Wolke, durchdrang sie aber ebenfalls wie Nebel. Sie hielt eine Kerze dicht an sie ran und ließ das erst bleiben, als sie Thariels Haare ansengte. Schließlich nahm sie wieder Platz.

»Da hängt eine Regenwolke über dir«, murmelte sie.

Er nickte. Danach saßen sie wieder da und versuchten beide, diese Tatsache zu verarbeiten. Manchmal hob Thariel die Hand und wollte seinen Begleiter wegschieben, als sei er ein Teller Suppe, von dem man nicht weiter essen möchte. Natürlich gelang es ihm nicht. Obwohl es sich um eine Regenwolke handelte, wurde der Boden um Thariel herum nicht nass, was ihm erst jetzt auffiel. Es war Lydia, die als erste damit begann, die Sache nüchterner zu betrachten.

»Wo kannst du die Wolke herhaben?«, fragte sie, »gab es das schon öfter in deiner Familie?«

»Davon wüsste ich nichts.«

»Oder hast du sie dir in den Sümpfen geholt?«

»Da bin ich schon mein ganzes Leben lang unterwegs, warum sollte das ausgerechnet jetzt passieren?«

»Oder hast du mit grüner Magie experimentiert?«1

»Natürlich nicht.« Er verzog sein Gesicht, wie konnte sie das nur glauben.

»Oder ist es vielleicht ein«, sie stockte und schwieg schließlich. Beide wussten, was sie sagen wollte.

Thariel schüttelte nervös den Kopf und sprach das schlimme Wort auch nicht aus: »Warum sollte das ein … sein?«

»Stimmt, das ist keiner!«

»Das würde ich ausschließen.«

»Ich auch.«

»Absolut!«

Lydia ging danach Salben und Kräuter besorgen, um die Wolke auf diese Weise zu vertreiben. Aber auch die brachten außer einem üblen Hautausschlag nichts. Thariel wagte sich nicht aus dem Haus und spähte nur vorsichtig aus dem Fenster. Er sah mehrere Bewohner Holz in einen Schuppen tragen und zwei Kinder, die mit einem Reif spielten, den sie über den Boden rollten.

»Wenn es aber doch ein, naja ... wäre«, begann Lydia, »dann ...«

 

»Ist es nicht!«, fiel Thariel ihr ins Wort, »ich fühle mich einfach etwas unwohl. Ich habe Fieber und Husten.« Er gab ein Röcheln von sich, das wohl ein Husten sein sollte. Lydia fasste gegen seine Stirn, die kalt wie eine Winternacht war. Sie nickte unbestimmt.

»Ich lege mich ins Bett, wenn ich wieder gesund bin, ist das da oben weg«, kündigte Thariel an und schleppte sich die Treppe hinauf, ohne dass Lydia ihm dabei half.

Kurz darauf lag er da und lauschte auf den Regen über seinem Kopf. Doch der machte keinen Lärm. Es regnete geräuschlos. Irgendwann gelang es Thariel tatsächlich einzuschlafen.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, doch als er aufwachte, wollte er sofort aufstehen und in den Spiegel schauen. Aber vor dem Bett saß Lydia und schüttelte nur den Kopf. Da ließ er sich wieder auf den Rücken fallen. Er fragte sich, wie die Dorfbewohner wohl reagieren würden, wenn er sich ihnen mit einer Regenwolke präsentierte. Am besten würde er so tun, als sei das vollkommen normal. Aber er wusste, dass das nicht funktionieren würde. Menschen reagierten im Allgemeinen sehr misstrauisch auf plötzliche Veränderungen. Ganz besonders in abgelegenen Sumpfdörfern, wo jede Veränderung als Bedrohung betrachtet wurde.

Lydia und er versuchten sich ganz normal zu unterhalten. Sie vermieden es dabei, die schlimmste Möglichkeit auszusprechen, dass es sich doch um einen, nun ja … um einen … wenn es sich um so was handeln würde. Solche Bestrafungen nahm Gott Thromokosch nämlich persönlich vor.

»Du hast aber wirklich nichts angestellt, oder?«, fragte Lydia und schaute Thariel tief in die Augen.

Er schüttelte den Kopf.

»Wir müssen zu meinem Vater gehen!«

»Auf keinen Fall«, kam es entsetzt zurück und Thariel verschränkte die Arme.

»Aber er ist ein Kräuterhansel!«2

»Wir haben doch schon was mit Kräutern ausprobiert.«

»Mein Vater hat ganze Regale mit Cremes, Wurzeln, Knäueln, Mehl, Kräutern, Blättern, Wassern, Sand, Pfeffer, Gewürzen und Disteln. Er hat bestimmt ein Gegenmittel!«

»Ich weiß nicht«, blieb Thariel unschlüssig.

»Es ist wirklich toll, was er alles heilen kann. Vor kurzem hatte er eine Elchfee im Wald gefunden, verletzt und dem Tode nahe. Er schleppte das schwere Wesen zu uns und braute ein Heilmittel zusammen. Schon am nächsten Mittag konnte die Elchfee wieder entlassen werden.«

»Ach, dann hat sie euren Gartenzaun niedergetrampelt?«

»Ja, und jetzt komm! Wer weiß, vielleicht wird eine Heilung immer schwerer, je länger man wartet.«

Immer noch zaudernd, ergriff er die ausgestreckte Hand und sie machten sich auf den Weg.

Torsten Sampftmeier war ein ruhiger und freundlicher Witwer, leicht übergewichtig und etwas gedrungen. Er blickte aus fröhlichen Augen in die Welt hinaus. Als Kräuterhansel genoss er viel Ansehen im Ort. Seine Tochter und Thariel huschten zwischen dem Wolkenwald und den Rückseiten der Häuser entlang, um nicht gesehen zu werden. Als sie schließlich vor der Tür standen und anklopften, hielt Lydia Thariels Hand und flüsterte ihm erleichtert ins Ohr.

»Jetzt wird alles gut!«

Er nickte.

Schritte näherten sich, die Türe wurde geöffnet und der mächtige Leib von Herrn Sampftmeier, wie immer in einen großzügigen, weißen Kittel gehüllt, erschien.

»Papa, wir haben ein Problem«, begann Lydia und kam nicht weiter, weil ihr Vater sofort zu schreien begann, als er die Regenwolke sah. Er zog seine Tochter zu sich und weil sie und Thariel sich noch an den Händen hielten, stieß er ihn weg.

»Du wirst unser Haus nicht mehr betreten, bis das geklärt ist! Und du wirst meine Tochter nicht mehr sehen, bis das geklärt ist!«, brüllte er mit wutrotem Kopf.

Thariel stolperte und fiel in eine Pfütze. Die Tür knallte zu.

Er stand nicht sofort wieder auf, sondern stellte erstaunt und entsetzt fest, wie schnell ein Dorf zum Geisterdorf werden kann. Als die Bewohner die Regenwolke sahen, reagierten die Mütter am schnellsten. Hektisch zerrten sie ihre verdutzten Kinder in die Häuser, als nächstes packten die Waschweiber und Sumpfangler ihre Sachen und verschwanden ebenfalls hinter zuschlagenden Türen. Als schließlich auch die Pilzsammler und Himmelwald­gänger zu ihren Familien eilten, gab es schon keine Fenster mehr, vor denen keine schweren Vorhänge hingen. Über dem dampfenden Sumpf strahlte die Sonne blass durch die Nebel, keine Wolke stand am Himmel und dennoch regnete es unaufhörlich auf Thariels Kopf. Lydia stand am Fenster und warf ihm einen Handkuss zu, als er zu ihr aufblickte. Kurz darauf war der Vorhang zugezogen.

Was sollte er jetzt machen? Aus den ersten Häusern flog faules Obst in seine Richtung. Ein Ei zerplatzte an seiner Schulter. Auf einmal traten zwei Wesen zwischen den Häusern hervor. Sie steckten in braunen Anzügen, die nur zwei kleine Sehschlitze hatten. Das eine Wesen trug ein Netz, das andere eine lange Stange, an deren Ende eine Schlinge angebracht war, wie man sie beim Einfangen der Schafe benutzte, wenn sie mal wieder ausgebrochen waren ... Jetzt verstand Thariel! Er sprang auf und in diesem Moment fingen auch die beiden Gestalten an zu rennen.

»Bleib stehen!«, schrie einer und Thariel erkannte die Stimme. Es war der Schuster Reubig, der ihn da zusammen mit einem anderen Bewohner einfangen wollte. Thariel rannte aus dem Dorf hinaus und hörte plötzlich ein seltsames Surren in der Luft, das er sich erst erklären konnte, als das mit kleinen Steinen beschwerte Netz direkt neben ihm gegen einen Feuerpilz krachte, aus dem daraufhin etwas Lava quoll. Thariel verstand die Welt nicht mehr, Reubig hatte ihm gerade gestern noch eine zerbrochene Vase gebracht und ihn für heute zum Sumpfangeln eingeladen. Statt mit ihm zusammen am Ufer zu sitzen, wurde er nun von ihm gejagt. Er achtete kaum darauf, wohin seine Füße traten, die ihn immer tiefer ins Moor führten. Nur weit weg von diesem Netz und dieser Schlinge. Bäume, Wurzeln, Sumpf und Pfad verschwammen, wurden zu einem und dann wieder zu vielen. Irgendwo dampfte es, irgendwo knurrte es, irgendwo schnappte etwas nach ihm.

Thariel schaute sich kurz um und in diesem Moment rutschte er auf einer Schneekastanie aus und fiel einen Abhang hinunter, direkt in den wabernden Sumpf hinein, der ihn gierig schmatzend festhielt und bei jedem Befreiungsversuch mehr in die Tiefe zog. Er fühlte den grünen Schlick schon an seinem Kinn und roch die Fäulnis des toten Gewässers. Er wurde noch weiter hinab gezogen und sein Mund verschwand im Morast. Längst hatte er den Kampf verloren und konnte nur noch seinen Kopf so halten, dass seine Nase möglichst lange über der Oberfläche blieb. Sein linker Arm ragte wie ein Ast hervor, der stumm nach Hilfe rief. Dann machte es einen weiteren Ruck und Thariel tauchte ganz unter. Nur noch seine Hand war zu sehen und vielleicht seine Regenwolke, wie er voller Bitterkeit dachte. Graue Algen streichelten um sein Gesicht, während ihm die Luft ausging. Ihm wurde schwarz vor Augen und er konnte spüren, wie er das Bewusstsein verlor.

Das war das Ende …

Eine mächtige Pranke, die nicht zu einem Menschen gehörte, griff seine Hand und zog ihn mit schierer Kraft aus dem Sumpf, der sich heftig dagegen wehrte, seine sicher geglaubte Beute freizugeben. Kaum, dass Thariel am glitschigen Ufer saß und noch schwer atmete, wurde er schon wie ein Sack Kartoffeln auf die Schulter seines Retters geworfen, der stumm und mit langen, schweren Schritten durch die Sümpfe schritt. Thariel bekam von der Wanderung nicht viel mit, da er vor Schwäche immer wieder ihn Ohnmacht fiel. Irgendwann erreichten sie eine kleine Lichtung und Thariel wurde abgesetzt. Er war über und über mit grauen Algen bedeckt, die er nur mühsam und nicht allzu erfolgreich, entfernte.

»Was machst du nur für Sachen, Junge!«, sprach der Retter mit tiefer Stimme, in der kein Groll zu hören war, sondern nur Sorge. Erst als er diese Stimme hörte, kam Thariel wieder richtig in dieser Welt an. Es war Günter der Golem, der ihn gerettet hatte. Er bewachte das Dorf in der Nacht und dafür vertrieben ihn die Bewohner nicht bei Tag. Niemand wusste, wer zuerst hier gelebt hatte, er oder die Menschen. Für ihn sprach, dass sich kein Mensch an eine Zeit vor Günter dem Golem erinnern konnte, aber andererseits dauerte ein Golemleben auch länger als drei Menschengenerationen und es war nicht auszuschließen, dass die Ururgroßeltern der heutigen Bewohner ihn eines Tages willkommen hießen. Im Grunde spielte es keine Rolle, aber »Und was war zuerst da, Golem oder Mensch?« gehörte neben »Wie findest du das Wetter?« zu den beliebtesten Gesprächsthemen am Dorfbrunnen.

Der Golem ließ sich auf einem morschen Baumstumpf nieder, der mit einem kaum hörbaren Knirschen unter seinem Gewicht zerbrach. Wenige Meter weiter befand sich ein moosbewachsener Stein, der als Sitzgelegenheit bessere Dienste leistete. Thariel blieb einfach stehen. Sie beide einte ein besonderes Band. Günter war die erste Person, an die Thariel sich erinnern konnte. Er musste damals etwa zwei Jahre alt gewesen sein und Günter hatte ihn in einem Korb über eine duftende Blumenwiese getragen. Vielleicht hatte er deswegen niemals Angst vor diesem Koloss gehabt. Günter der Golem überragte alle Dorfbewohner um mindestens zwei Köpfe und hatte einen doppelt so breiten Brustkorb wie die anderen. Sein Körper bestand aus Sand, weswegen er einen gewissen Respekt vor Wasser hatte.

»Danke«, meinte Thariel nach einer langen Weile.

»Ich hatte dich rennen sehen, anders als du sonst rennst. Also bin ich besser mal hinterher.«

Thariel entfernte mit spitzen Fingern mehrere Algen von seiner Brust.

»Was ist das?« Ein breiter Finger, deutete auf die Regenwolke.

»Nichts«, blockte Thariel ab.

»Ist das ein …« Auch der Golem sprach es nicht aus.

»Glaub ich nicht.«

»Die Dorfbewohner wollten dich deswegen fangen, deine eigenen Freunde«, erinnerte ihn der lebende Sandberg, »sie haben Angst vor dir!«

»Tja, da kann man wohl nichts dran ändern. So sind wir Menschen eben. Wir können von einem Moment zum nächsten zu Feinden werden.«

»Es liegt an dem da über deinem Kopf. Du musst ins Dorf zurück und dich der Diagnose3 stellen!«

»Nicht nötig, das geht vorbei.«

Der Golem schüttelte langsam den Kopf. Aus zwei schwarzen Augenhöhlen blickte er Thariel lange an. So lange, dass Thariel wieder über etwas nachdachte, was ihn schon als Kind beschäftigt hatte. Sind das überhaupt Augen oder sind es nur Löcher im Sand? Auf eine seltsame Art hatte diese Augenpartie aber eine sehr beruhigende Ausstrahlung. Egal, ob sie nun wirklich Augen beherbergten oder nur aus zwei Löchern bestanden.