Hokuspokus Kompetenz?

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Hokuspokus Kompetenz?
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Daniel Hunziker

Hokuspokus Kompetenz? Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen ist keine Zauberei ISBN Print: 978-3-0355-0788-1 ISBN E-Book: 978-3-0355-0862-8

Gestaltung: Renate Salzmann und Philippe Gertsch, Bern

3. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil 1 Schule und Gesellschaft

1 Was die Gesellschaft von der Schule fordert

2 Was Kinder von der Schule brauchen

3 Was Lehrpersonen bewirken können

Teil 2 Kompetenzorientierung

4 Was Kompetenz eigentlich ist

4.1 Kompetenzmodelle

5 Wissenserwerb

5.1 Individualisiertes Lernen

5.2 Lehrmittel und Methoden für den Wissens- und Fähigkeitserwerb

6 Qualifikation von Wissen und Können

7 Kompetenzentwicklung

7.1 Schlüsselkompetenzen

7.2 Kompetenzorientierte Aufgabenstellungen

7.3 Fehlerkultur

7.4 Kompetenzen beurteilen

Teil 3 Kompetenzatlas

Kompetenzatlas

8 Schlüsselkompetenzen für Kinder bis 12 Jahre

8.1 Personale Kompetenzen

8.2 Aktivitäts- und Handlungskompetenzen

8.3 Soziale und kommunikative Kompetenzen

8.4 Fach- und Methodenkompetenzen

9 Schlüsselkompetenzen für Jugendliche

9.1 Personale Kompetenzen

9.2 Aktivitäts- und Handlungskompetenzen

9.3 Soziale und kommunikative Kompetenzen

9.4 Fach- und Methodenkompetenzen

10 Kompetenzen für Lehrpersonen

10.1 Tools für die Schulentwicklung

Literatur

Links

Einleitung

Was brauchen Kinder und Jugendliche von ihrer Schule? Ein Klima, in dem sie lernen und wachsen können, vertrauensvolle Beziehungen mit Menschen, die an sie glauben, unterstützende Gemeinschaften sowie Herausforderungen, die ihrer Reife und ihren Interessen entsprechen und durch die sie lernen, eigenständig zu denken, sich mit anderen auszutauschen und zu handeln. Und sie sollen die Gelegenheit bekommen, jene Kompetenzen zu erwerben, die sie in ihrem Erwachsenen- und Berufsleben lebens- und arbeitsfähig machen.

Arbeitskräfte von morgen müssen nicht standardisiertes Wissen abrufen können. Es reicht auch nicht mehr aus, Produktionsroutinen blindlings zu beherrschen, wie dies in einer überwiegend landwirtschaftlichen und industriellen Gesellschaft noch verlangt wurde. Jugendliche müssen sich heute keine Stelle fürs Leben mehr suchen, sondern sich durch Individualität und kreatives Gestaltungsvermögen eine Startposition in einer Berufswelt sichern, die ganz anders funktioniert als noch eine Generation davor. Das zunehmende öffentliche Interesse an der Leistungsfähigkeit der Schule veranlasst politische wie wirtschaftliche Entscheidungsträger zu Reformen. Die in den letzten Jahren geschaffenen Steuerungsinstrumente, wie das Gestalten neuer, kompetenzorientierter Lehrpläne, lenken die Schule weg vom ehemaligen Auftrag einer kanonischen Wissensvermittlung hin zur deutlich vielschichtigeren Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler auf die selbstständige Lösung komplexer, sich schnell ändernder Situationen vorzubereiten, wie sie ihnen später im Leben begegnen. Sie sollen lernen, kompetent zu handeln.

Bildung ist ein Menschenrecht. In Deutschland wird es mittels Schulpflicht durchgesetzt, in anderen europäischen Ländern wie der Schweiz und Österreich, zumindest teilweise, durch Unterrichtspflicht. Der Anteil von Kindern, die zu Hause oder in alternativen Schooling-Systemen unterrichtet werden, ist verschwindend klein. Es ist also in erster Linie die (öffentliche) Schule, die Kinder und Jugendliche beim Kompetenzerwerb unterstützen muss. Entsprechend sind Politik, Bildungsverantwortliche, Institutionen und Lehrbeauftragte gefordert. Es braucht passende Unterrichtsmethoden, Bildungszielsetzungen und Lehrpersonal, das über eine dialogische Beziehungshaltung und über das Know-how kompetenzorientierten Lehrens verfügt.

Kompetenzorientierung erfüllt nicht nur wirtschaftliche und gesellschaftliche Voraussetzungen, sie dient – und das ist hier zentral – Kindern und Jugendlichen in ihrem natürlichen Lernprozess. Kompetenz mag als Begriff durch undurchsichtige politische Steuerungsprozesse und populistischen Journalismus zu einer leeren Formel geworden sein. Wer sich aber frei von bildungspolitischen Zwängen darauf konzentriert, was Kinder und Jugendliche nun wirklich von ihrer Schule brauchen, was sie also in ihrer Entwicklung unterstützt und sozial wie intellektuell weiterbringt, stößt auf genau dies: auf kompetenzorientiertes Lehren und Lernen. Der Mensch lernt von Geburt an durch eigenen Antrieb, durch Nachahmen und vor allem durch Handeln. Was er braucht und ihm die Gesellschaft – und damit auch die Schule – schuldet, sind die nötigen Anreize und Handlungsmöglichkeiten. Ein Kind soll nicht unbedingt bekommen, was es will. Aber es muss von der Schule zwingend bekommen, was es braucht.

Schule dient also immer der Gesellschaft ihrer Zeit und dem Kind selbst. Sie muss ein Lernumfeld bieten, das seiner Entwicklung sowie dem Menschenrecht nach Bildung gerecht wird. Dieses Buch spannt einen Bogen von Forderungen der Gesellschaft respektive der Arbeitswelt an die Schule zu einer Übersicht kindlicher Entwicklungsbedürfnisse und zu Erkenntnissen der modernen Hirnforschung über effektives Lernen. Von oben verordnetes, kompetenzorientiertes Lehren und Lernen kann bestens funktionieren – nämlich von unten, aus dem Lernbedürfnis der Kinder und einem darauf abgestimmten Lehrverständnis heraus. Voraussetzung ist, dass sich Lehrpersonen nicht nur als Wissensvermittler, sondern auch als Lernbegleiter oder -coach verstehen.

Dieses Buch soll Schulen Mut machen, hinzuschauen, umzudenken und Veränderungsprozesse beherzt anzupacken. Es geht nicht nur um die Handlungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen, sondern auch um diejenige der Lehrpersonen und Schulleitungen. Das Buch enthält einen Kompetenzatlas, mit dem sich kompetenzorientierter Unterricht konkret gestalten lässt. Das Buch dient Lehrpersonen als Orientierungshilfe auf dem Weg zu einer zeitgemäßen Schule, die ihren Auftrag der modernen Dienstleistungsgesellschaft erfüllt und zugleich den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen gerecht wird.



Spätestens seit den 1980er-Jahren befinden wir uns in einer durch Computertechnologie bestimmten Zeit, die wir als Informationszeitalter bezeichnen können. Immer raffiniertere Maschinen und Roboter ersetzten die menschliche Arbeitskraft am – vor hundert Jahren als revolutionär gefeierten – Fließband. Neue Kommunikations- und Transporttechnologien beschleunigen jeden Arbeitsprozess und führten im Verlauf des letzten Jahrhunderts definitiv zu einer Globalisierung der Wirtschaft. Vor rund fünfzig Jahren war hierzulande noch die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung in der Produktion tätig, heute beträgt der Anteil weniger als dreißig Prozent. Gemäß der Einteilung der Beschäftigung einer Volkswirtschaft in drei Sektoren ist der dritte Sektor, der Dienstleistungssektor, deutlich am größten. Wir sprechen deshalb von einer Dienstleistungsgesellschaft. Weil der Begriff allerdings kaum mehr zu charakterisieren vermag, welche Tätigkeiten überhaupt in diesen dritten Wirtschaftsbereich fallen, kursieren auch Schlagworte wie «Freizeitgesellschaft» und «Informationsgesellschaft» oder «Wissensgesellschaft». Es gibt Stimmen, die einen vierten, einen sogenannten Wissenssektor propagieren. Dabei wird Wissen als Allgemeingut verstanden, das sich grundsätzlich jeder und jede jederzeit aneignen kann. Durch die Technologie und Vernetzung – insbesondere durch das Internet – ist Wissen nicht mehr ausschließlich Gelehrten und Studierten zugänglich, wie dies vor 150 Jahren noch der Fall war. Wissenschaftliche Erkenntnisse vervielfachen und verbreiten sich innerhalb weniger Jahre, wodurch sich die Halbwertszeit geltender Überzeugungen und wissenschaftlicher Fakten rapide verkürzt und aus Gelerntem in kürzester Zeit gedankliche Altlast wird. Tritt die Prophezeiung einer baldigen nächsten, vierten Industriellen Revolution ein, stehen uns neue Technologien bevor, die mit erneuerbaren Energien noch weitgehend unbekannte Produkte und Berufe generieren und neue Formen des Zusammenlebens hervorbringen werden.

 

Unter diesen Vorzeichen ist es schwierig vorauszusehen, was für unsere Kinder als spätere Träger einer Gesellschaft wesentlich und richtig sein wird. Sicher ist allerdings, dass das Erlernen von statischem Wissen nicht weiter Zielsetzung einer zeitgemäßen und modernen Schule sein kann. Sie muss sich zwingend anpassen, um Kinder und Jugendliche auf Erfordernisse einer wie auch immer gearteten Zukunft vorzubereiten.

Im Zuge der Globalisierung, der digitalen Vernetzung, der immer größeren Wahrscheinlichkeit, mit fremden Kulturen in Kontakt zu kommen, mit unterschiedlich denkenden Menschen zusammen zu leben und zu arbeiten, muss das wichtigste Ziel für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts und die bedeutendste Aufgabe der heutigen Schulen sein, dass Kinder und Jugendliche die angeborene Offenheit und Neugierde für Neues und Unbekanntes erhalten können. Das hilft ihnen, Menschen aus anderen Kulturkreisen zu begegnen und mit ihnen das soziale Leben und das Arbeitsleben zu teilen. Diese jungen Menschen werden sich zuversichtlich und mutig auf immer wieder neue Situationen einlassen können.

Der Trend in Betrieben und Organisationen läuft in die Richtung, dass Teamarbeit das Einzelkämpfertum ablöst. Es wird nicht mehr in einzelnen Büros alleine für sich selbst, sondern in Großraumbüros gemeinsam gearbeitet. Arbeitsteams erhalten Ziel- und Zeitvorgaben und sind dann autonom dafür verantwortlich, diese zu erreichen. Schulen übernehmen diesen Trend, indem sie sogenannte Lernateliers oder Lernbüros einrichten.

Die Tendenz zur Teamarbeit steht im Zusammenhang mit Individualisierungstendenzen. Zusammenarbeit bringt ein Unternehmen nur deshalb weiter, weil autonom denkende Köpfe zusammen einen kreativen Thinktank bilden können. Die Gesellschaft fragt nach Individualisten und bringt sie gleichzeitig hervor. Werbung und Konsummöglichkeiten werden zunehmend personalisiert, also auf den Verbraucher abgestimmt, Lebens- und Wohnformen werden immer individueller gestaltet und durch Wohlstand auch möglich. Individualismus geht mit Eigenständigkeit einher. Diese erfordert ein hohes Maß an Entscheidungsfähigkeit. Der respektive die Einzelne muss die eigenen Bedürfnisse kennen und wissen, was aus unzähligen Wahlmöglichkeiten wozu dienlich ist und ihm oder ihr gut tut. Das bedeutet für Kinder und Jugendliche, dass sie sich selbst kennenlernen müssen und eigene Entscheidungen treffen dürfen. Nur solche Erfahrungen machen sie zu eigenständigen Personen, die entscheidungsfähig und verantwortungsbewusst sind.

Die neue Gewichtung des Individuums bedingt ein neues Verständnis von Zusammenleben. Wenn wir nicht wollen, dass Individualität zu Egozentrik verkommt, müssen wir an Schulen Ideen entwickeln, wie wir sowohl Autonomie und Eigensinn der jungen Menschen fördern können, als auch sie befähigen, in Gemeinschaften kooperativ und konstruktiv zu wirken. Wir brauchen weder fremdgesteuerte Befehlsempfänger noch Egomanen, sondern Menschen, die Zugang zu ihren Bedürfnissen und zu ihrer Kreativität haben, auch eigenständig denken und handeln können und diese Fähigkeiten gemeinschaftsdienlich einsetzen.

Die Schulen müssen Erfahrungsräume bieten, in denen Schülerinnen und Schüler mit komplexen Herausforderungen konfrontiert sind. Es wird künftig weniger wichtig sein, vorgefertigte Aufgabenstellungen in einem Richtig-falsch-Schema lösen zu können, als sich offenen und lebensnahen Aufgabenstellungen kreativ zu stellen und zu lernen, diese Aufgaben mit Zuversicht und Tatendrang in Kooperation mit anderen anzugehen.

Durch die weltweite digitale Vernetzung wird jede Art von Wissen jederzeit abrufbar. So ist die Zeit reif, die Lehrperson als die Instanz der Wissensvermittlung zu entmonopolisieren. Sie übernimmt stattdessen die Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, auf welchen Wegen sie zu Wissen kommen, und sie hilft ihnen, es für sich nutzbar zu machen. Es ist ihre Aufgabe, durch eine hohe Beziehungskompetenz die Brücke zwischen Wissensinhalten und den Lernenden zu schlagen, sodass das Wissen für diese bedeutsam und nutzbar wird.

Es muss gelehrt werden, über welche Kanäle welches Wissen abrufbar ist, was Mittel und Medien taugen, was zentral und was überflüssig ist, welche Quellen welches Wissen in welcher Qualität bereitstellen und wie Kinder und Jugendliche sich vor der ungefilterten Informationsschwemme schützen können. Je nach Ziel, Perspektive und Zweck sind unterschiedliche Entscheidungen über die Art der Wissensbeschaffung zu treffen. Die Reflexion darüber muss eine Aufgabe der Schule von heute sein, sodass Kinder und Jugendliche zu Menschen mit eigenständigen Meinungen und Werten heranreifen können.

Wenn noch bis vor wenigen Jahrzehnten in großen Teilen der Gesellschaft eine Akzeptanz darüber herrschte, dass sich Untergebene bereitwillig den Anforderungen und Erwartungen ihrer Vorgesetzten unterwerfen, so werden Autoritäten immer mehr infrage gestellt, und die Bereitschaft zu blindem Ausführen schwindet. Hierarchisch verordnete Befehle von oben werden heute in den Schulen weder von Lehrpersonen einfach so hingenommen noch von den Schülerinnen und Schülern ohne Widerwillen akzeptiert. Wenn Kinder und Jugendliche strenge Forderungen nicht fraglos und gehorsam erfüllen, riskieren sie nach wie vor häufig eine Strafe oder andere Disziplinierungen. Das Resultat – Resignation, Widerstand und Unproduktivität – ist der Preis, den sich die Gesellschaft eigentlich nicht mehr leisten kann. Anstelle der einseitigen Kommunikation durch Befehle von oben muss an Schulen dringend eine dialogische Beziehungskultur treten. Auf allen Stufen der Schulhierarchie soll Mitsprache für eigene Arbeits- oder Lernprozesse Sinnhaftigkeit und persönliches Engagement bewirken. Eine Gesellschaft, die lustlose, auf Minimalismus ausgerichtete Arbeitskräfte und Abarbeiter mit Fremdaufträgen beschäftigt, wird nicht das für aktuelle und künftige Herausforderungen notwendige Engagement und die erforderliche Freude am eigenen und gemeinsamen Tun vorfinden.

Die kriselnde Finanzwirtschaft, die steigende Zahl aus psychischen Gründen arbeitsunfähiger Menschen, der immer breitere Graben zwischen Arm und Reich, das immer teurere Gesundheitswesen, die bedrohte Umwelt, schwindende Energieressourcen bei steigendem Energieverbrauch, die zunehmend unverhältnismäßige Anzahl älterer Menschen gegenüber jener der erwerbstätigen Menschen – dies sind die Herausforderungen, denen sich die heranwachsende Generation stellen muss. Es braucht immer mehr Menschen, die kreativ und konstruktiv querdenken können und die Kraft haben, neue Ideen umzusetzen. Also werden an Schulen Erfahrungsräume notwendig, die Querdenkertum zulassen und dazu animieren. Die Umsetzung eigener Ideen muss möglich werden und eine Fehlerkultur herrschen, in der das Ausprobieren von Neuem erwünscht und ein Scheitern erlaubt ist. Mehrere Hirne können mehr und kreativer denken als eines allein. Eine kooperative statt konkurrierende Arbeitsweise an Schulen verhilft Kindern und Jugendlichen zu wichtigen Erfahrungen, die sie zur konstruktiven Zusammenarbeit in ihrem Erwachsenen- und Berufsleben befähigt. Werden Schülerinnen und Schüler dazu erzogen, sich an äußeren Erfordernissen zu orientieren, verlieren sie den Zugang zu eigenen Impulsen und Ideen. Die moderne Schule braucht eine Ausgewogenheit zwischen Innen- und Außenorientierung, sodass Kinder und Jugendliche autonome Gedanken ausdrücken, Ideen umsetzen und sich dadurch zu engagierten und handlungsfähigen Persönlichkeiten entwickeln können.


Welche Anforderungen die Gesellschaft an die Schule stellt, ist eine Sache. Was Kinder von ihrer Schule brauchen, eine ganze andere. Darum soll es im Folgenden gehen; um die Frage nach den eigentlichen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen, darum, was ihre Lernprozesse aus neurobiologischer und ihre persönliche Entwicklung in psychologischer Sicht begünstigt, was die Schule diesbezüglich leisten kann und muss.

Der bekannte Hirnforscher und Autor Gerald Hüther fasst kurz und prägnant zusammen, was Kinder von ihrer Schule brauchen:[1]

–Aufgaben, an denen sie wachsen können,

–Vorbilder, an denen sie sich orientieren können, und

–Gemeinschaften, in denen sie sich aufgehoben fühlen.

Aufgaben, an denen Kinder wachsen können, sind eine ganz individuelle Angelegenheit. Sie liegen jenseits der Komfortzone, in der Bekanntes und Routinen perpetuiert werden. Sie gehören aber auch nicht in die Angstzone, wo Herausforderungen als bedrohlich erlebt werden. In diesen beiden Bereichen sind nicht wirklich gute Lernprozesse möglich.


Abb. 1: Lernzonenmodell

Dazwischen liegt der Bereich, wo anstelle von Routinen oder sogar Langweile respektive Unterforderung oder Angst eine gesunde Neugierde tritt. In dieser Zone sind die wirklichen Herausforderungen angesiedelt. Nun verlaufen die Grenzen zwischen diesen Zonen bei jedem Menschen anders. Eine Aufgabenstellung kann für den einen in der Komfortzone liegen, während der andere in der Angstzone damit konfrontiert wird. Positive emotionale Verknüpfungen sind eine Voraussetzung für fruchtbare Lernprozesse. Eine Lehrperson kann nur im Dialog mit den Kindern und Jugendlichen herausfinden, wo die individuellen Zonengrenzen verlaufen und wer wann welche Aufgabenstellung als echte Herausforderung erlebt. Dies ist von zwei wichtigen Aspekten abhängig: der individuellen Reife und dem Vermögen, an Vorwissen andocken zu können. Die individuelle Reife – das wissen wir aus den langjährigen Studien des Schweizer Kinderarztes und Autors Remo Largo – differiert beim Schuleintritt bis zu vier, beim Schulaustritt bis zu sechs Jahren. Die Initiierung fruchtbarer Lernprozesse an Schulen ist nur sehr eingeschränkt in jahrgangshomogenen Klassen möglich, wo derselbe Lernstoff gleichzeitig allen Schülerinnen und Schülern vermittelt wird. Bis zu ihrem Schuleintritt würde niemand Kinder unabhängig ihres Alters respektive ihrer Reife mit standardisierten Aufgaben konfrontieren und Unangemessenes verlangen. Man stelle sich ein zweijähriges Kind vor, das mit seiner Mutter auf einem Spielplatz ist, und ein fünfjähriges, Fahrrad fahrendes Kind beobachtet. Es sieht ihm zu und spielt dann weiter. Ist das Kind in derselben Situation aber drei, vier Jahre älter, wird es seine Mutter auffordern, die Stützräder seines Fahrrads wegzunehmen, um selber auf zwei Rädern Fahrradfahren zu lernen. Nun ist seine Gehirnentwicklung und damit einhergehende motorische Entwicklung so weit fortgeschritten, dass es diese Herausforderung erfolgreich bewältigen kann. Maria Montessori hat dies schon vor mehr als hundert Jahren erkannt und ihre Pädagogik entsprechend ausgerichtet: Kinder lernen nur das, wozu sie reif und durch ihre Umgebung inspiriert sind.

 

Diese wichtige Erkenntnis lässt sich neurobiologisch begründen. Das Gehirn ist ein Organ, das den Zustand der Kohärenz zwischen inneren Bildern, die sich aus immer wieder ähnlichen Erfahrungen zu Netzwerken von Nervenverbindungen bündeln, und der äußeren Realität sucht. Wenn beispielsweise ein siebenjähriges Kind, das auf einem kognitiven Reifestand eines fünfjährigen eingeschult wird, nun in der 1. Klasse Rechnungsaufgaben lösen soll, hat es zwar das innere Bild, erfolgreich neue Herausforderungen meistern zu können, in der äußeren Realität zeigt sich jedoch, dass es ihm aufgrund seiner Reifeentwicklung nicht gelingt, die mathematischen Anforderungen zu meistern. Um die Inkohärenz zwischen seinen inneren Vorstellungen und der äußeren Realität wieder in Kohärenz zu bringen, versucht es alles, was ihm helfen kann, die Herausforderungen zu reüssieren: Noch mehr Hausaufgaben, sich den Sachverhalt noch einmal erklären lassen, noch mehr üben, sich durch Nachhilfestunden unterstützen lassen und so weiter. Erreicht es den Zustand der Kohärenz nicht, versucht es nach ein paar Jahren nicht mehr, die äußere Realität seinem inneren Bild von sich anzupassen – das ist ihm ja missglückt –, es beginnt statt dessen, ein neues inneres Bild von sich zu kreieren, das zum äußeren Bild passt, das da lautet: Für Mathe bin ich zu blöd. Oder gar: Ich bin allgemein dumm. Wenn es nun wieder erfolglos vor einer Rechenaufgabe steht oder eine schlechte Prüfung zurückerhält, ist das zwar kein Erfolg, aber das hat es ja erwartet, und in seinem Hirn stellt sich endlich wieder der Zustand der Kohärenz ein. Die Folgen davon sind natürlich verheerend: Das Kind wird sich nicht mehr so schnell davon überzeugen lassen, dass es etwas kann, dass es gut und in der Lage ist, Herausforderungen zu meistern.

Das aktuelle Schulsystem anerkennt die Heterogenität der Kinder in den Schulklassen mehr denn je, in der Unterrichtspraxis ist es aber sehr schwierig bis unmöglich, dem wirklich Rechnung zu tragen. Mit den Integrations- und Inklusionsbemühungen zeigt sich dies in noch verschärfterem Maße, und die Entwicklungsunterschiede fallen umso mehr ins Gewicht. Trotzdem wird an der jahrgangshomogenen Klassenführung, die seit mehr als 150 Jahren Bestand hat, festgehalten. Unterschiedlichkeit wird als belastend erlebt und die Bestrebung nach Gleichheit innerhalb einer Jahrgangsklasse angestrebt. Auf der Stufe Sek I (nach dem Lehrplan 21 der 3. Zyklus; 9. bis 11. Schuljahr) behilft man sich mit der Aufteilung der Schülerinnen und Schüler in Gruppen unterschiedlicher Anforderungsniveaus – dies in der Absicht, den individuellen Bedürfnissen einzelner Jugendlicher zumindest ein wenig nachzukommen, zugleich aber allen dieselben Inhalte (in angepasstem Umfang und nach unterschiedlichen Methoden) vermitteln zu können. In der Fachsprache ist von niveaudifferenziertem Unterricht die Rede. Dieser ist verhältnismäßig aufwendig für die Lehrpersonen und bewirkt einen relativ geringen Effekt, wenn es darum geht, Schülerinnen und Schüler mit auf sie zugeschnittenen Herausforderungen zu konfrontieren.


Abb. 2: Es wird trotz der zunehmenden Entwicklungsunterschiede lediglich innerhalb des Jahrgangs differenziert.

Erstrebenswerter als die Differenzierung innerhalb von Themen wäre echtes Individualisieren, das heisst, dass die individuelle Reife und das Vorwissen Ausgangspunkt von Lernprozessen sind.


Abb. 3: Es wird innerhalb der ganzen Entwicklungsspanne individualisiert.

Kinder und Jugendliche wenden sich Menschen zu, von denen sie sich wahrgenommen und geliebt fühlen. Dies sind im entwicklungspsychologischen Sinn ihre Vorbilder, die sie unbewusst nachahmen. Soll eine Lehrperson diese Funktion erfüllen, muss zwischen ihr und dem Kind als Voraussetzung eine vertrauensvolle, gleichwürdige Beziehung bestehen. Dabei ist Kommunikation in zwei Richtungen möglich: von den Lehrpersonen ausgehend, die Unterricht gestalten, mitteilen, was sie wollen, und auch ausdrücken können, wie es ihnen geht und wie sie empfinden. In die andere Richtung kommunizieren die Kinder und Jugendlichen, die ebenfalls das Recht dazu haben sollen. Lehrpersonen müssen es ihnen zugestehen und ein aufrichtiges Interesse an der Befindlichkeit ihrer Schülerinnen und Schüler haben. So gestalten sich dialogische Beziehungen auf Vertrauensbasis. Sollen sie aufgebaut werden, müssen sich Lehrpersonen ihrerseits den Herausforderungen stellen, die die Vereinbarung einer solchen Haltung mit der Vermittlung von Inhalten, wie sie im Lehrplan vorgeschrieben sind, mit sich bringt; Konflikte sind vorprogrammiert. Eine dialogische Haltung ist auch die Voraussetzung für eine gute Lehrer-Eltern-Arbeit, für eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Schulleitung und Lehrerschaft und zwischen Behörden und Schulleitung.

Ein Merkmal einer für alle gesunden zwischenmenschlichen Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen ist Gleichwürdigkeit. Der Begriff stammt vom dänischen Familientherapeuten und Autor Jesper Juul. Gemeint ist damit nicht Gleichheit von Groß und Klein. Es geht nicht darum, dass ein Kind in seinem Handeln die gleichen Rechte hat wie Lehrpersonen oder Eltern. Kinder brauchen situativ Grenzen, die ihnen Sicherheit und Geborgenheit geben, damit sie innerhalb dieses Rahmens fruchtbare Erfahrungen machen können. Unter Grenzen sind also nicht starre, von oben verordnete Gesetze oder Regeln zu verstehen. Gemeint ist damit der persönliche Ausdruck von in Beziehung stehenden Erwachsenen, die in der Lage sind, ihren Kindern empathisch zu begegnen und ihnen auch die eigenen Gefühle mitzuteilen. Gleichwürdigkeit ist durch eine Subjekt- Subjekt-, nicht aber durch eine Subjekt-Objekt-Relation gegeben.

Was sich seit einigen Jahren in vielen Familien und auch in Schulen vor allem zeigt, ist ein Beziehungsverhältnis von Erwachsenen und Kindern, das sich am ehesten als egozentrisches Nichbeziehungsverhältnis bezeichnen lässt. Noch vor fünfzig Jahren waren in unserer Gesellschaft patriarchalische Strukturen etabliert und unumstritten. Im öffentlichen Leben war der Pfarrer, Arzt und Lehrer, in der Familie der Vater, eine unangreifbare Autorität. Schulklassen wurden mit vierzig und mehr Kindern geführt, nach deren persönlichen Bedürfnissen fragte niemand. Begriffe wie Heterogenität oder Individualisierung existierten nicht. Soziologie, Psychologie, Pädagogik und andere wissenschaftliche Disziplinen trugen und tragen zu einem durch konstruktivistisches Denken, durch Gender und neuerdings auch Diversity Studies geprägten gesellschaftlichen Wandel bei. Es brechen traditionelle Muster auf, was etwa in Bezug auf Geschlechterrollen und Familienbilder am augenscheinlichsten ist. Das bringt ungezählte neue Möglichkeiten für alle, handkehrum aber auch viele Unsicherheiten mit sich, gerade auch in Erziehungsfragen. Eltern von heute sind selber in der postantiautoritären Zeit nach den 60er-Jahren aufgewachsen. Sie haben alle nur denkbaren und undenkbaren Erziehungsstile erfahren und experimentieren unter Umständen wild weiter. Es mangelt mitunter an Richtung und Klarheit, die Kinder dringend brauchen würden. Insbesondere in der Autonomie- oder Ich-Entwicklungsphase im Alter von zwei bis fünf Jahren (früher als Trotzphase bezeichnet) ist es wichtig, dass ein erwachsenes Gegenüber da ist, das sich mit seiner ganzen Persönlichkeit authentisch und klar zeigt. Wenn dieses fehlt, kann sich der Blick der Kinder auf sich selbst verzerren. Sie werden egozentrisch, entwickeln vielleicht ein Allmachtsgefühl und haben später möglicherweise Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse zurückzustellen – was eine gleichwürdige Beziehung zwischen Kindern respektive Jugendlichen und den Eltern trotz aller Bemühungen verunmöglicht. Dieses Phänomen ist immer häufiger in Familien mit sogenannten «Helikoptereltern» zu erkennen, wenn meist Mütter – weil die Väter oft abwesend sind – ihr eigenes Leben vergessen und stattdessen das Leben ihrer Kinder zu ihrem eigenen Projekt machen. Dasselbe gilt für die Beziehungskultur an Schulen. Bei den ganzen Anstrengungen um Individualisierung darf die Fähigkeit, sich zugunsten gemeinsamer Interessen auch unterzuordnen, nicht vergessen gehen. Nur wenn Kinder und Jugendliche wie Lehrpersonen zu sozialem und selbstverantwortlichem Handeln fähig sind, ist eine dialogische oder eben gleichwürdige Beziehungskultur möglich – und damit ein Lernprozess, der den Bedürfnissen jedes einzelnen Kindes gerecht wird.

Zu den Vorbildern, an denen sich Kinder orientieren können, gehören Lehrpersonen, die gerne unterrichten. Denn nur wenn Begeisterung überhaupt da ist, kann der Funke auf die Kinder überspringen. Wenn es einer Lehrperson gelingt, auf allen Stufen Kinder und Jugendliche fürs Singen zu begeistern, jedoch kaum ein Kind fürs Zeichnen, ist das keine Aussage über die Lernmoral der Kinder und keine über Sinn oder Unsinn der beiden Fächer, sondern lediglich eine über die Lehrperson selbst. Wenn Schülerinnen und Schüler in einem Fach schlechte Noten, nach einem Lehrerwechsel aber plötzlich gute schreiben, so zeigt dies, wie wichtig die Überzeugung einer Lehrperson, ihre Begeisterung für die Sache sowie über ihre Unterrichtsqualität für den Lernerfolg sind (wobei dieser ja nicht unbedingt an Noten gemessen wird). Angehende Lehrpersonen, die später an einer demokratischen Schule arbeiten möchten, durchlaufen in Israel, der Hochburg dieser Bewegung, am «Institute for Democratic Education» in Tel Aviv, ein erstes Ausbildungsjahr, während dem ihre eigene Persönlichkeit im Zentrum steht. Es geht darum, herauszufinden, was sie wirklich gut können und gerne machen. Im zweiten Ausbildungsjahr steht dann die Frage im Zentrum, wie sie dies in Bezug zu den Kindern bringen können.

Kinder lernen in sozialen Kontexten. Ab Geburt bringen sie einen Überschuss an Hirnzellen mit in ihr Leben. Dies hat die Natur so eingerichtet, damit jedes Neugeborene an jedem Ort dieser Welt in jeder möglichen Lebensgemeinschaft aufwachsen kann. Im Verlauf seines Aufwachsens verknüpfen sich jene Hirnzellen, die aktiviert und gebraucht werden, wenn der Mensch in seinem Umfeld und mit dem eigenen Körper bestimmte Erfahrungen macht. Anlagen, die nicht gebraucht werden, bilden sich zurück. So bekommt jedes Kind sein optimales Gehirn, das es in seiner äußeren und inneren Erfahrungswelt benötigt.[2] Wer im Amazonas aufwächst, kann über hundert verschiedene Grüntöne erkennen. Inuits lernen, viele verschiedene Beschaffenheiten von Schnee zu bestimmen. In unseren Breitengraden sind dies unnütze Informationen und Fähigkeiten, also verfügen wir nicht darüber. In diesem Zusammenhang ist es für die Schule bedeutsam zu wissen, dass der Mensch den Großteil aller Fertigkeiten und Fähigkeiten – man spricht von zwei Dritteln – außerhalb der Schule erwirbt. Dies haben die Erziehungswissenschaftler Andreas Helmke und Franz Emanuel Weinert 1997 in einer viel beachteten Studie festgehalten. [3] Die Schule hat keinen Einfluss auf den Kompetenzerwerb in den ersten vier, fünf Lebensjahren, nach der Einschulung nur einen ziemlich beschränkten. Das Hirn eines Fünfjährigen entspricht in seiner Struktur den Anforderungen seines unmittelbaren Umfelds, zu dem die Schule in den ersten Lebensjahren nicht zählt. Also ist es auch nicht darauf zugeschnitten. Deshalb muss es vordringliche Entwicklungsarbeit an Schulen sein, das Umfeld der Schülerinnen und Schüler in die Bildungsbemühungen miteinzubeziehen. Wichtigste Ansprechgruppe sind diesbezüglich Eltern der Kinder aus bildungsfernen und kulturell anders ausgerichteten Familien.