Eine Geschichte des Krieges

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Eine Geschichte des Krieges
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Bruno Cabanes (Hg.)

Unter Mitarbeit von Thomas Dodman |

Hervé Mazurel | Gene Tempest

Eine Geschichte des Krieges

Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Aus dem Französischen

von Daniel Fastner, Felix Kurz

und Michael Halfbrodt



Die Übersetzung wurde durch das Centre national de livre gefördert.

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2020 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-983-6

© der deutschen Ausgabe 2020 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-346-9

© der Originalausgabe 2018 by Éditions du Seuil

Titel der Originalausgabe: »Une histoire de la guerre.

Du XIXe siècle à nos jours«

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras unter Verwendung zweier Fotos aus dem Imperial War Museum, FEQ 967 (durchschossener Stahlbrustpanzer der Deutschen Wehrmacht aus dem Ersten Weltkrieg) und EQU 388 (ärmellose Schutzweste aus olivgrünem Nylon)

Inhalt

Ouvertüre

Bruno Cabanes

Eine Geschichte des Krieges

1 Der moderne Krieg

David A. Bell

Einleitung

Jean-Vincent Holeindre

Den Krieg denken

Sir Hew Strachan

Der Zweck der Schlachten: Strategen und Strategien

Alan Forrest

Die Zeit der Bürgersoldat*innen

Christopher Kinsey

Die Söldner*innen, outgesourcte Soldat*innen

Samuel Moyn

Krieg und Recht

John R. McNeill

Umweltzerstörung

Michael Neiberg

Technologie ist nichts ohne Strategie

Katharine Hall

Das Drohnen-Zeitalter

Richard Overy

Der Aufstieg des Kriegsstaates

Jennifer Siegel

Der Preis des Krieges

Karen Hagemann

Die Heimatfront

Carl Bouchard

Nie wieder Krieg!

Caroline Elkins

Die Mythen des britischen Imperialismus

Adam Baczko

Guerilla und Aufstandsbekämpfung

Victor Louzon

China: Die Revolution als Krieg

John Lynn

Zeitalter des Terrorismus

Marius Loris

Die AK-47 erobert die Welt

2 Soldatische Welten

John Horne

Einleitung

Odile Roynette

Die »Fabrikation« von Soldat*innen

Jörg Echternkamp

Der Fahne dienen

Eric Jennings

Kombattant*innen aus den Kolonien

Hervé Mazurel

Die Freiwilligen

Mary Louise Roberts

Ist der Krieg reine Männersache?

Masha Cerovic

Die Welt der Partisaninnen und Partisanen

Manon Pignot

Kindersoldaten

Johann Chapoutot

Bedarf an Held*innen

Nicolas Offenstadt

Rebellen und Verweigerer

Fabien Théofilakis

Millionen Gefangene

Emmanuel Saint-Fuscien

Standhalten

Clémentine Vidal-Naquet

»Schreibe mir oft«

3 Kriegserfahrungen

Stéphane Audoin-Rouzeau

Einleitung

Erfahrungen von Soldat*innen

Hervé Mazurel

Eine Belastungsprobe für den Körper

Bruno Cabanes

Was tun mit den Toten?

Anne Rasmussen

Wunden und Verwundete

Nicolas Beaupré

Zeugnis ablegen

Thomas Dodman

»Sonderbare Gefühle aller Art«

Raphaëlle Branche

Der verwilderte Krieg in den Kolonien

Erfahrungen von Zivilist*innen

Richard Overy

Der Bombenkrieg, vom Boden aus betrachtet

Ken Daimaru

Schweigen über Hiroshima

Alya Aglan / Johann Chapoutot

Besatzungsregime

Laurence Bertrand Dorléac

Goya: Anatomie des Massakers

Robert Gerwarth

1914–1945: Die Gesellschaften machen mobil

Sheldon Garon

Japan: der Krieg der anderen?

Heather Jones

Hunger als Waffe

Christian Ingrao

Extreme der Gewalt

José Luis Ledesma

Den eigenen Nachbarn töten

Anne Rolland-Boulestreau

Bürgerkrieg in der Vendée

Raphaëlle Branche

Vergewaltigung: eine Kriegswaffe?

 

Daniel Cohen

Flüchtlinge und Vertriebene

4 Kriegsfolgen

Henry Rousso

Einleitung

Leonard V. Smith

Wien, Paris, Jalta: Frieden schließen

Bruno Cabanes

Kriegsheimkehrer*innen

Danièle Voldman

Aus Ruinen

Jochen Hellbeck

»Die Flamme Stalingrads ist erloschen«

Brian Jordan

Wer hat den Amerikanischen Bürgerkrieg wirklich gewonnen?

Annette Becker

Die Zeit der Trauer

Meredith H. Lair

Die Gespenster von My Lai

Thomas Dodman

Nerven und Neurosen

Annette Wieviorka

Der überlebende Zeuge

Élisabeth Claverie

Urteilen, die Wahrheit sagen, versöhnen

Hélène Dumas

Nach dem Völkermord: die Gacaca

Anhang

Chronologischer Abriss

Ortsregister

Personenregister

Dank

Ouvertüre

Aus dem Französischen von Daniel Fastner

Bruno Cabanes
Eine Geschichte des Krieges

»Wir befinden uns im Krieg.« Wie oft haben wir diese prätentiöse Erklärung von offizieller Seite schon vernommen? Seit dem 11. September 2001 gilt jedes Attentat bereits als »Kriegshandlung«. Der »Krieg gegen den Terrorismus« scheint endlos; zusätzlich drohen Cyberkriege, Kriege mit chemischen oder bakteriologischen Kampfstoffen und sogar die neuerliche Proliferation von Atomwaffen. Doch wenn wir uns »im Krieg« befinden, um welchen Krieg handelt es sich eigentlich? Heute haben die meisten Bürgerinnen und Bürger westlicher Staaten zu ihren Lebzeiten weder kriegerische Auseinandersetzungen in ihren Ländern noch eine Generalmobilmachung erlebt. In Frankreich muss man für die letzte formelle Kriegserklärung bis zum 3. September 1939 zurückgehen. Und doch war die französische Armee nach dem Zweiten Weltkrieg in Indochina im Kampfeinsatz, und eine ganze Generation war aufgerufen, in Algerien zu kämpfen. Von offizieller Seite wurde der »Algerienkrieg« – euphemistisch als »Ereignisse in Algerien« bezeichnet – lange Zeit geleugnet. Seit den 1960er Jahren hat sich Frankreich an über 30 Militäreinsätzen in seinen ehemaligen afrikanischen Kolonien beteiligt. Mehr als 11 000 französische Soldatinnen und Soldaten sind gegenwärtig von Afrika bis zum Nahen Osten im Einsatz. Für Jugendliche in den USA sieht es heute genauso aus. Sie haben ihr ganzes Leben lang in einem Land gelebt, das sich »im Krieg« befand – allerdings nicht in dem Sinne, wie ihre Urgroßeltern das Wort verstanden: Seit dem 4. Juni 1942 hat der Kongress keinen Krieg mehr erklärt (damals gegen Rumänien, Bulgarien und Ungarn). Das bedeutet aber nicht, dass die Vereinigten Staaten keine bewaffneten Einsätze, gelegentlich unter dem Mandat der Vereinten Nationen oder in Form von Spezialoperationen, fast überall auf der Welt durchgeführt hätten.

Das Ende der Wehrpflicht, der Abzug uniformierter Soldat*innen aus dem öffentlichen Raum in den meisten Ländern des Westens (daher das Erstaunen in Frankreich, als mit Sturmgewehren Bewaffnete zum Schutz der Bevölkerung vor Terroranschlägen in den Straßen zu sehen waren), ein auch für die meisten Soldat*innen schwindendes Risiko, im Kampf zu sterben: »Wohin sind all die Soldaten verschwunden?«, fragte der amerikanische Historiker James Sheehan bereits vor 10 Jahren in einem Buchtitel.1 Wenn sich die Gewalt des Krieges auch insgesamt aus der westlichen Welt zurückgezogen hat – mit Ausnahme der Terroranschläge, die regelrechte »Kriegswunden« hinterlassen –, so ist sie zugleich omnipräsent auf unseren Bildschirmen und ruft widersprüchliche Reaktionen wie Fassungslosigkeit und Banalisierung hervor. In den 1990er Jahren brachten die ethnischen Säuberungskampagnen im ehemaligen Jugoslawien wieder Bilder von Massenmorden zurück, die man vom europäischen Kontinent verbannt glaubte. Am 18. November 1991 wurde das kroatische Vukovar nach siebenundachtzigtägiger Belagerung durch Bombardement beinahe vollständig dem Erdboden gleichgemacht – als erste europäische Stadt seit 1945. Beim Völkermord an den Tutsi in Ruanda, der zwischen April und Juli 1994 stattfand, wurden wir zu Zeitgenossen der planmäßigen Ermordung von 800 000 bis 1 Million Frauen, Männern und Kindern auf Grundlage ethnischer Kriterien. Aktuell kommen aus dem Bürgerkrieg in Syrien, der laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seit März 2011 über 350 000 Menschenleben gekostet hat, regelmäßig Nachrichten über eine Zivilbevölkerung, die unter Bomben begraben wird und die Giftgasangriffen, der Repression des Regimes Baschar al-Assads oder der Gewalt der Rebellen und Dschihadisten zum Opfer fällt. Schätzungen zufolge gibt es 6 Millionen Vertriebene innerhalb Syriens und 5,6 Millionen Syrer*innen, die in die Nachbarländer, insbesondere in die Türkei, in den Libanon oder nach Jordanien geflohen sind: Es handelt sich um die größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg.

Wie wir Krieg führen, wie wir ihn erfahren und wie wir ihn darstellen, sind die zentralen Themen des vorliegenden Werkes. Es geht um das Erbe zweier entscheidender Jahrhunderte: des 19. und des 20. Jahrhunderts. Von den Konflikten der Französischen Revolution und des Kaiserreichs bis in die Gegenwart hat sich der Krieg nicht nur in seinen Dimensionen, sondern auch seiner Natur nach verändert. Was wir »modernen Krieg« nennen – und was eher aus einer chaotischen Entwicklung als aus einer präzisen Abfolge von Entwicklungsschritten im Zeitalter der Nationalstaaten und Kolonialreiche hervorgegangen ist –, zeichnet sich durch eine immer umfassendere Einbeziehung der Bürger*innen in die Landesverteidigung, durch weitreichende Veränderungen der Bewaffnung und durch eine Auflösung des raumzeitlichen Rahmens der Kriegserfahrung aus – und zwar in einem Maße, dass die Begriffe »Schlacht« und »Schlachtfeld« im Laufe des 20. Jahrhunderts ihre traditionelle Bedeutung eingebüßt haben. Darüber hinaus charakterisieren ihn ein höheres Maß an Gewalt für Kämpfende und für die Zivilbevölkerung (ein Bruch, der von den Zeitgenoss*innen als solcher wahrgenommen wurde), ein Verschwimmen der ohnehin schon porösen Grenzen zwischen Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen, eine beispiellose Mobilisierung der Gesellschaft, Umweltzerstörung, wie es sie in der Vergangenheit nicht gegeben hat, aber auch die Erarbeitung völlig neuer Rechtsrahmen und Rechtsverfahren. Besonders im Zeitraum zwischen 1860 und 1960 kam es zu einer technologischen Revolution, die entsetzliche Folgen hatte. Niemals war der Krieg in seiner fürchterlichsten vorstellbaren Form (Angriffe auf Städte aus der Luft, unmittelbare Vernichtung der gesamten Bevölkerung, Waffen, die ohne sichtbare Verletzungen töten) mit einer so erschreckenden Effizienz geführt worden. Mehreren Generationen schrieb er den Massentod ins Bewusstsein. Seit 1914 haben die Kriege 120 bis 150 Millionen Todesopfer gefordert, 40 Millionen davon Soldatinnen und Soldaten – das entspricht 8 bis 10 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 1900.

Dieses Buch zeichnet die Geschichte eines Wandels nach, der das Leben der Menschheit in weniger als zweieinhalb Jahrhunderten komplett umgewälzt hat. Nichtsdestotrotz ist es eine, nicht die Geschichte des Krieges: Hinsichtlich Narrativ und Begrifflichkeiten wären andere Entscheidungen möglich gewesen, hätte der Akzent statt auf eine thematische auf eine chronologische Darstellung gelegt oder wiederum die Strategie, die internationalen Beziehungen oder die Diplomatie in den Vordergrund gerückt werden können. Ohne diese Aspekte zu vernachlässigen, widmet sich dieses Werk mit gleicher Aufmerksamkeit Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen, der Front und dem Hinterland. Denn tatsächlich ist der Krieg unserer Epoche durch die Beteiligung der Nichtkombattant*innen am Kriegsunterfangen und durch die zunehmende Zahl von Zivilist*innen unter den Opfern charakterisiert.

Ausgangspunkt ist unsere Überzeugung, dass der Krieg eine gesamtgesellschaftliche Tatsache ist und außerdem ein kultureller Akt. Natürlich ist er das Geschäft der Staatslenker*innen und Militärs, doch er nimmt auch umfassender die Gesellschaften und die Individuen in die Pflicht. Er erschüttert die politischen und sozialen Institutionen, mobilisiert in manchmal beispiellosem Ausmaß ökonomische und ökologische Ressourcen, verbraucht selbstverständlich militärische Mittel und gibt – ebenso notwendig – mächtigen Affekten, Selbst- und Feindbildern sowie bestimmten Vorstellungen von Leben und Tod Gestalt. Den Krieg studieren heißt, ein grundlegendes Element im Leben der Gesellschaften und die häufig einschneidendste Erfahrung im Leben von Menschen zu studieren. Der Krieg ordnet die Machthierarchien zwischen den Ländern neu – wie der Aufschwung der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkrieges zeigt – und bekräftigt die hoheitlichen Funktionen der Staaten; er verändert die Geschlechterverhältnisse und beschleunigt sozialen Wandel (um nur ein Beispiel zu nennen: die Einrichtung des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg). Der Krieg zerstört Landschaften, hinterlässt seine Spuren auf Körpern und Seelen, bürdet den Älteren die Trauer über die Jüngeren auf, bringt neue Gedenkrituale hervor und produziert Traumata, die über mehrere Generationen fortwirken können.

Wir wollten diese Geschichte des Krieges vom 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit auf globaler Ebene darstellen, zumindest soweit das beim gegenwärtigen Wissensstand möglich ist. Seit den 1970er Jahren, insbesondere seit dem Erscheinen des Hauptwerkes des britischen Historikers John Keegan, Das Antlitz des Krieges, haben sich die Fragestellungen und die Art, die Geschichte des Krieges zu verstehen und zu schreiben, grundlegend geändert. Die traditionelle Geschichte der Strategen, Staatsmänner und Diplomaten ist durch eine Sozial- und Kulturgeschichte der einfachen Soldat*innen, dann auch der Zivilist*innen (besonders der Frauen) und schließlich durch eine Geschichte dessen erweitert worden, was Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen verbindet und was man »Kriegskulturen« nennt, oder anders gesagt die Repräsentationssysteme, die den Konflikten ihre eigentliche Bedeutung geben. Die Schlacht selbst, dieser Fetisch der Militärgeschichte, wird mit dem frischen Blick der historischen Anthropologie erkundet. Im Zentrum steht der Kampf, also das Aufeinanderprallen der Körper, das Lärmen der Waffen, die Versehrungen und die Toten, aber auch das ganze feine Spektrum der mit dem Krieg verbundenen physischen Empfindungen und Emotionen. Im Gefolge der Körper- und Medizingeschichte, der Geschlechtergeschichte, der Kunstgeschichte und Umweltgeschichte erfindet sich die Kriegsgeschichtsschreibung immer wieder neu, wobei die Wege, die sie beschreitet, stark von den nationalen historiografischen Traditionen abhängen. Mit ihren 57 Autor*innen aus Europa und Nordamerika, Historiker*innen, Anthropolog*innen, Kunsthistoriker*innen, Soziolog*innen und Politikwissenschaftler*innen aus verschiedenen Traditionen und Generationen, bietet diese Sammlung ein reiches Panorama. Selten dürfte ein einzelnes Werk eine solche Vielfalt an Perspektiven versammelt haben.

 

Es bleibt allerdings ein Hindernis, mit dem sich jede Geschichte des Phänomens Krieg konfrontiert sieht. Im Unterschied beispielsweise zur Wirtschafts- oder Umweltgeschichte konnte sich die Militärgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts kaum aus der Nationalgeschichtsschreibung und dem westlichen Rahmen lösen. Der Grund hängt mit der sozialen Funktion zusammen, die sie zu dieser Zeit hatte, nämlich das Gedenken an Schlachten wachzuhalten, aus denen sich der Ruhm eines Landes speiste. Zu lange hat sich die Erforschung der Konflikte auf den Westen und seine Kolonialgebiete im Rest der Welt beschränkt – am häufigsten übrigens mit der Idee, die Überlegenheit eines »westlichen Modells des Krieges«2 zu demonstrieren, dessen Anfänge der Altertumsforscher Victor Davis Hanson umstandslos in der griechischen Antike ansetzt, um es schließlich in die Konflikte der Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert münden zu lassen. In der jüngeren Vergangenheit beschränkt sich die Sozial- und Kulturgeschichte des Krieges im Allgemeinen auf die westlichen Länder und ignoriert die Wechselwirkungen auf globaler Ebene, selbst wenn sie sich über die Erforschung der Kolonialkonflikte gelegentlich anderen Horizonten nähert und Begegnungen und Transfers Rechnung trägt. Die Abfassung einer Globalgeschichte oder besser einer verschränkten oder transnationalen Geschichte des Krieges wird noch Zeit brauchen. Wir haben uns dennoch bemüht, mit der strikt westlichen Lesart zu brechen, und zahlreichen anderen geografischen Räumen und kulturellen Feldern Platz eingeräumt.

Einige Grundprinzipien – Durchlässigkeit zwischen Militärgeschichte und anderen Ansätzen, zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert – bildeten den Hintergrund für die Themenzusammenstellung. Das Inhaltsverzeichnis ist in vier Teile gegliedert: 1) Der moderne Krieg, 2) Soldatische Welten, 3) Kriegserfahrungen, 4) Der Kriegsausgang. Jeder dieser Teile beginnt mit einem einführenden Text, der die Chronologie und die Relevanz der Frage erörtert und je von einem Historiker stammt, der einen wichtigen Beitrag zu dem Forschungsfeld geleistet hat. Die Aufsätze selbst hatten nur eine Vorgabe: Schwerpunktthemen aus der Perspektive der longue durée darzustellen, wobei versucht werden sollte, die unterschiedlichen Facetten auf Grundlage verschiedener Konflikte und verschiedener Räume zu beschreiben. Bei ihrer Mitwirkung an diesem Projekt haben sich die Autor*innen dazu bereit erklärt, gelegentlich weit von der Zeit oder dem Gebiet, auf das sie sich spezialisiert haben, abzuschweifen. Dafür sei ihnen gedankt.

Und da wir uns für eine thematische Gliederung entschieden haben, wollen wir hier als Auftakt versuchen, die Entwicklung des modernen Krieges in seinem geopolitischen Kontext zu skizzieren und in groben Zügen den Bogen der Gewalt nachzuzeichnen, der sich von den großen Schlachten der Revolution und des Kaiserreichs über die hier abgedeckte Periode von zweieinhalb Jahrhunderten bis in unsere Zeit zieht.

Am 22. Mai 1790 verabschiedete die Verfassunggebende Nationalversammlung Frankreichs die »Friedenserklärung an die Welt«, wie es in der berühmten Formulierung heißt. In den darauffolgenden fünfundzwanzig Jahren versank, von kurzen Ausnahmen abgesehen, ganz Europa in einem endlosen Krieg. Der »erste totale Krieg«3, wie ihn der Historiker David Bell nennt, war von zweierlei geprägt: von einer Intensivierung der Gewalt – davon zeugen der Bürgerkrieg in Vendée von 1793 bis 1796 und der Spanische Unabhängigkeitskrieg von 1808 bis 1814 – und von einer Mobilisierung der gesamten Gesellschaft. Damit trat eine dem aristokratischen Modell entgegengesetzte Kriegskultur zutage, die sich vielmehr den Kampf gegen die Tyrannen (»Ein Kreuzzug für die allgemeine Freiheit«, wie es der girondistische Abgeordnete Brissot ausdrückte) und den Krieg der Nationen auf die Fahnen schrieb. Diese Kriegskultur war es, die Condorcet in seiner Ansprache an die Völker Europas vom 29. Dezember 1791 verteidigte. Das Schlagwort vom »letzten Krieg«, der die Nation durch das Blut neu beleben und der Gewalt ein Ende setzen würde, indem er die Feinde der Freiheit vernichtete, diente ihm als letzte Rechtfertigung. Carl von Clausewitz schrieb 1812 dazu:

»Ehemals […] schlug [man] sich mit Mäßigung und Rücksichtlichkeit nach hergebrachten Konvenienzen. […] Von diesem Krieg ist jetzt nicht mehr die Rede, und der müßte wohl blind sein, der den Unterschied unserer Kriege, d. h. der Kriege, wie sie unser Zeitalter und unsere Verhältnisse fordern […], nicht erkennen könnte. Der Krieg der jetzigen Zeit ist ein Krieg aller gegen alle. Nicht der König bekriegt den König, nicht eine Armee die andere, sondern ein Volk das andere, und im Volk sind König und Heer enthalten.«4

Der Waffenruhm, der Heldenkult: Die männlich-militärischen Werte, die sich gleichzeitig auf beiden Seiten des Atlantiks entwickelten, fanden in den berühmten Figuren Washingtons und Bonapartes ihre Verkörperung. Ohne Krieg keine amerikanische Unabhängigkeit und kein napoleonisches Heldenepos. Zwischen 1805 und 1815 wurden fast 2 Millionen französische Wehrpflichtige einberufen – eine Zahl, die zur damaligen Zeit als außerordentlich angesehen wurde. Dennoch umfasste 1813 die umfangreichste Truppenaushebung lediglich 3 Prozent der Bevölkerung (ein Siebtel der Mobilmachung vom Sommer 1914). Zu den französischen Soldaten kamen Tausende ausländische Soldaten hinzu: Ägypter und Griechen des orientalischen Jägerbataillons, die unter dem Konsulat rekrutierten Schweizer und irischen Bataillone, in den besetzten Ländern ausgehobene portugiesische und spanische Kämpfer und die Kontingente der Fürstentümer des Rheinbunds, der italienischen Königreiche, des Königreichs Holland und Polens, die als Verbündete kämpften. Nach seiner Niederlage in der Seeschlacht von Trafalgar am 21. Oktober 1805 musste Napoleon seine Eroberungspläne für Großbritannien begraben und setzte sich stattdessen zum Ziel, »das Meer durch die Macht des Landes [zu] besiegen«5, wie es im Berliner Dekret vom 21. November 1806 heißt. Mit diesem trat die Kontinentalsperre in Kraft, die eine geografische Ausweitung des Konflikts herbeiführte, um die europäischen Küsten zu kontrollieren und den englischen Schmuggel zu unterbinden. 1811 umfasste das napoleonische Reich halb Europa.

Die Schlachten nahmen gigantische Ausmaße an: 300 000 Soldaten bei Wagram (5. und 6. Juli 1809), 500 000 bei Leipzig (16. bis 19. Oktober 1813). 1812 fiel Napoleon mit den 650 000 Mann der »Armee der Nationen« in Russland ein. Um einen Eindruck dieser Truppenverlagerungen zu bekommen, muss man sich nur nach Litauen begeben, wo zwischen 2001 und 2010 Hunderte von Soldaten, die auf dem Russlandfeldzug den Tod gefunden hatten, aus einem Massengrab exhumiert wurden. Manche von ihnen kamen aus Frankreich, andere aus Italien, Deutschland oder Polen. Sie waren auf dem Antakalnis-Friedhof von Vilnius in Gegenwart französischer und litauischer Repräsentanten beigesetzt worden. Welcher Blutzoll in den Kriegen des Kaiserreichs entrichtet werden musste, lässt sich nach wie vor schwer bestimmen. Davon hängt aber bis zu einem gewissen Grad ab, wie weitgehend der Bruch war, den diese Kriege bedeuteten. Ungefähr 700 000 Franzosen und zwischen 2,5 und 3,5 Millionen Menschen europaweit verloren zwischen 1805 und 1815 ihr Leben in der Schlacht, durch Verwundung oder infolge von Epidemien.

Auf dem Wiener Kongress (September 1814 bis Juni 1815) zog die Heilige Allianz, die gerade Napoleon besiegt hatte, die Grenzen in Europa neu. Das veränderte Gleichgewicht auf dem Kontinent stärkte das monarchische Prinzip gegenüber dem Nationalitätenprinzip. Dennoch waren es die nationalen Befreiungsbewegungen, die über mehrere Jahrzehnte als die andere große Triebkraft für den Krieg in dieser Epoche wirksam wurden. Am Anfang standen Nationalbewusstsein und das politische Prinzip des Nationalismus. Dieses Wort kam Ende des 18. Jahrhunderts auf und bezeichnete ursprünglich noch die Forderung nach dem Recht, eine Nation zu bilden, bis es ab den 1870er Jahren die chauvinistische und xenophobe Bedeutung annahm, in der wir es heute kennen. Die Einigungskriege in Italien (1848–1849, 1859, 1866) und Deutschland (1866, 1870–1871) waren von der früheren Definition des Nationalismus inspiriert; ebenso die der »Orientalischen Frage« zugeschriebenen Konflikte, die das ganze 19. Jahrhundert prägten, angefangen bei dem von Miloš Obrenović angeführten serbischen Aufstand von 1815 über den von der philhellenischen Bewegung unterstützten griechischen Unabhängigkeitskrieg (1821–1830) bis zur Balkankrise der 1870er Jahre. Trotz der Abfolge von Einigungs- und Unabhängigkeitskriegen dürfen wir nicht die Haupttendenz aus den Augen verlieren: Nach der besonders mörderischen Zeit der Revolution und des napoleonischen Kaiserreichs war die Periode von 1815 bis 1914 in Europa durch einen Rückgang der durch Krieg verursachten Tode geprägt. Ausnahmen bildeten lediglich der Krimkrieg (1853–1856), die Schlacht von Solferino (24. Juni 1859), durch deren katastrophale medizinische Versorgung sich Henry Dunant 1863 zur Gründung des Roten Kreuzes veranlasst sah, sowie der Deutsch-Französische Krieg (1870–1871). Es genügt ein Blick auf andere Kontinente, wozu dieses Buch auch einlädt, um zu sehen, dass Europa eine Zeit relativer Ruhe erlebte: 1851 brach in China der Taiping-Aufstand aus, für dessen Niederschlagung die Qing-Dynastie fast 15 Jahre benötigte. Dieser Bürgerkrieg forderte zwischen 20 und 30 Millionen Tote, also zwei- bis dreimal so viele wie der Erste Weltkrieg! Auch wenn der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) nicht dieses tatsächlich außergewöhnliche Ausmaß an Verlusten erreichte, brachte er mit seinen nach jüngsten Schätzungen 750 000 getöteten Soldaten doch die Erfahrung des Massentods in die Vereinigten Staaten.

1815 hatten die europäischen Großmächte nicht so sehr Frieden geschaffen als vielmehr den Krieg nach Übersee verlagert. Im Gegensatz zu Lenins Deutung in Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917) scheinen die Kolonialkriege weniger durch ökonomische Interessen als durch politische Ambitionen und Rivalitäten unter den europäischen Nationen motiviert gewesen zu sein. Als »wahrhaft globale Thalassokratie«6, wie es der Historiker Daniel Headrick genannt hat, eroberte Großbritannien ein gigantisches Weltreich, dessen Gravitationszentrum sich, wie das des europäischen Kolonialismus insgesamt, nach dem Verlust seiner dreizehn nordamerikanischen Kolonien (1783), der Abschaffung des Sklavenhandels (1807) und der Sklaverei (1833) allmählich von Amerika nach Asien und Afrika verschob. Im Ersten Opiumkrieg 1839–1842 setzte es die Öffnung Chinas für den Welthandel durch. Die Europäer teilten sich den afrikanischen Kontinent in weniger als dreißig Jahren (1885–1914) auf. Es herrschte das Prinzip der präventiven Kolonialisierung vor, noch verschärft durch die imperialen Rivalitäten und den Nationalismus: Es galt, ein Territorium zu kolonialisieren, bevor ein anderes Land dies tat. Den alten Kolonialmächten wie Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Portugal oder Großbritannien traten nach 1870 Deutschland, Italien und Belgien zur Seite, sodass es bald zu einer Verknappung an noch kolonialisierbaren Gebieten kam. Russland hatte sein ungeheures Kolonialreich bis zu den Grenzen Sibiriens, nach Zentralasien und in den Kaukasus ausgedehnt. Die Vereinigten Staaten gingen ab den 1860er Jahren an die Eroberung des Westens und der Great Plains: Die Navajo streckten 1864 die Waffen und die Apachen 1886 nach der Kapitulation Geronimos. Angeführt von Sitting Bull, errangen die Sioux und die Cheyenne in Montana den großen Sieg von Little Bighorn (25. – 26. Juni 1876), bevor sie sich ab 1881 in die Reservate von North Dakota gesperrt fanden. Die Vereinigten Staaten wandten sich im Namen der »Manifest Destiny«-Doktrin dem Pazifik zu: Die Geburtsstunde des amerikanischen Imperialismus ist der Militäreinsatz von 1898 auf den Philippinen, mehr als 11 000 Kilometer von der kalifornischen Küste entfernt, mit dem Ziel der Inbesitznahme eines Territoriums, das mehr als drei Jahrhunderte unter spanischer Herrschaft gestanden hatte. »Der Pazifik ist unser Ozean«, erklärte im Jahr 1900 der republikanische Senator von Indiana, Albert J. Beveridge.

Die fernen Kriege faszinierten durch die Landschaften, die sie dem Auge boten, durch die ostentative Potenz, die sie zum Ausdruck brachten, und durch die Gelegenheit, damit der schmerzlichen Frustration eines Europas zu entkommen, dem es am Heldenepos fehlte. »Kriegssehnsucht« war es, was die Philhellenen dazu brachte, freiwillig am griechischen Unabhängigkeitskrieg der 1820er Jahre teilzunehmen. »Uns fehlten die Freuden des Kriegers; kein Kreuzzug blieb uns noch zu unternehmen; die Zeit der napoleonischen Erfahrungen war vorüber«, bekannte der 1804 geborene Gustave d’Eichenthal, Gründer der ethnologischen Gesellschaft und wichtige Figur in der saint-simonistischen Bewegung. »Wir hatten keine Feiern, keine Tempel, keine Turniere, keine Gesänge, keine Feste mehr. Das Leben war glanzlos und monoton, und Gott hatte vielen Menschen eine Energie ins Herz gegeben, die diese Einengung nicht ertrug.« 1895 war es immer noch eine Art Kriegsinitiation, die der junge Winston Churchill im Alter von einundzwanzig Jahren im kubanischen Unabhängigkeitskrieg suchte, in dem er beinahe sein Leben ließ. Die Abenteuerlust, der auf der Überzeugung einer Rassenhierarchie gründende Glaube an die »zivilisatorische Mission« des Westens, die Anziehungskraft des Geldes bewegten ebenso sehr zur Teilnahme an den Kolonialkonflikten. Allerdings erfuhren diese Motive eine gewisse Geringschätzung seitens der meisten eingesessenen Militärstrategen. In seinen Principes de la guerre aus dem Jahr 1903 geht Foch kurz auf die fernen Expeditionen »gegen die schwarze Bevölkerung Afrikas und die gelben Rassen Asiens«7 ein. Als Experimentierfeld für extreme Gewalt – von der durch Bugeaud und Cavaignac in Algerien 1844–1845 praktizierten Ausräucherung bis zur brutalen Niederschlagung des Sepoy-Aufstands durch die Briten 1857–1858 oder zum Völkermord an den Hereros und Namas in Deutsch-Südwestafrika 1904 und 1908 – rief der Kolonialkrieg schließlich zunehmend Ablehnung in der Öffentlichkeit hervor. Neben einer Bezeugung der Gräuel, die unter Leopold II. im Kongo begangen wurden, bringt Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness, die 1899 im Blackwood’s Edinburgh Magazine in Fortsetzung und dann 1902 gesammelt erschien, auf eindringlichste Weise dieses Umkippen der öffentlichen Meinung zum Ausdruck.8