Zehn unbekümmerte Anarchistinnen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Zehn unbekümmerte Anarchistinnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Über dieses Buch

1872 weilt Bakunin in der Uhrenstadt Saint-Imier im Schweizer Jura, wo die Anti­autori­täre Internationale gegründet wird. Zehn Frauen werden von den Freiheitsideen angesteckt und beschliessen, nach Südamerika auszuwandern, um dort ein herrschaftsfreies Leben auszuprobieren. Als Kriegskasse beschafft sich jede eine Longines 20A.

Zwar beginnt es schlecht, von den ­beiden vorangegangen Frauen, dem Liebespaar Colette und Juliette, trifft bald die Nachricht ihres gewaltsamen Todes ein. Trotzdem machen sich die andern acht auf den Weg. Mit einem Schiff, auf dem auch Verbannte der Pariser Kommune eingesperrt sind und auf dem Émilie bei einer Geburt stirbt, gelangen die übriggeblie­benen sieben nach Punta Arenas in Patagonien, wo sie gemeinsam eine Bäckerei und eine Uhrmacherwerkstatt aufbauen. Sie trotzen machistischen Kolonialbeamten und verfolgen in Freiheit ihr Liebesleben, jede nach ihrem Geschmack.

Auf der Basis historischer Dokumente und mit Hilfe seiner Imagination erzählt Daniel de Roulet das Schicksal von zehn Frauen, die in einer Zeit, die ihnen nichts zu bieten gewillt war, die Freiheit suchten.


Foto Yvonne Böhler

Daniel de Roulet, geboren 1944 in Genf, war Architekt und arbeitete als Informa­ti­ker. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahl­reicher Romane und Essays, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ­ausgezeichnet ­wurde. Er lebt in Genf. Im Limmat ­Verlag sind zehn Titel von ­Daniel de Roulet ­lieferbar, zuletzt ist der Roman «Kami­kaze Mozart» erschienen.

Maria Hoffmann-Dartevelle, geboren 1957 in Bad Godesberg, studierte Roma­nis­tik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Als ­freiberufliche Übersetzerin ­tätig. Übersetzte neben Sach- und Kinder­literatur ­Romane und Essays aus dem ­Spanischen und Französischen, darunter Amélie Plume, César Aira, Elena Ponia­towska.

Daniel de Roulet

Zehn unbekümmerte Anarchistinnen

Roman

Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle

Limmat Verlag

Zürich

Für P. N.

EINIGE ERKLÄRUNGEN
damit die Leserinnen und Leser verstehen, wer diese Zeilen geschrieben hat und ­warum, mit ­Hinweis auf das grüne Heft, das ein paar Gedächtnislücken füllen wird.

Wir waren zehn, jetzt sind wir nur noch eine, Valentine Grimm, geboren am 30. November 1845. Wir sind die jüngste der Schwestern Grimm. Mit vierundsechzig sind wir im richtigen Alter, um Bilanz zu ziehen.

Bisher haben wir vor allem Denkschriften zu be­son­deren Anlässen, erfundene Geschichten, um Kinder zum Träumen oder misstrauische Feinde auf andere Gedanken zu bringen, und ein paar hübsch formulierte Briefe an Freundinnen verfasst. Diesmal sind wir die Berichterstatterin unserer Gefährtinnen.

Uns liegt weder an Spott noch an Glorifizierung. Einfach unsere Porträts, unsere Liebesgeschichten, un­sere Überzeugungen, keine Urteile, keine Übertreibungen. Eher eine Art politisches Testament, also eine ernste Sache. Wie Sie sehen werden, hatten wir alle ein ausgefülltes Leben. Wenn wir uns schriftlich äußerten, unterzeichneten wir stets mit Pseudonym oder mit «einige unbekümmerte Frauen».

Wir hatten uns gegenseitige Hilfe in jeder Lebenslage versprochen, auch bei Aktionen, die unsere Feinde gewalttätig nannten, obwohl sie sich nur gegen Ungerechtigkeiten richteten. So haben wir, die nach Urugu­ay geflüchtete Valentine, heute beschlossen, Ihnen möglichst wahrheitsgetreu zu erzählen, was es kostet, die Welt neu zu erfinden.

Nur dass die anderen jetzt nicht mehr da sind, nicht einmal Mathilde. Wir, Valentine, die letzte der zehn Emi­grantinnen, müssen uns allein an die Arbeit machen, müssen berichten, ohne dabei allzu sehr in anarchistische Propaganda zu verfallen. Zum Glück haben wir das grüne Heft aufbewahrt, in das wir Originalsätze notiert, Zeitungsausschnitte geklebt oder Auszüge aus Briefen von Mathildes Freund, dem schönen Benjamin, übertragen haben. Wir werden dieses Material verwenden und es jeweils in Anführungszeichen setzen. Es soll als Beweis für die Wahrhaftigkeit unserer Abenteuer dienen. Ansonsten stützen wir uns auf unser Gedächtnis und ändern ein paar Namen, damit alles sich liest wie ein Roman.

Montevideo, 2. Juni 1910

ERSTES KAPITEL
in dem VALENTINE in der Rolle der ­Berichterstatterin von den Ereignissen im Jahre 1851 in einem Uhrmacherdorf erzählt, als ein israelitischer Arzt von der Regierung ­verjagt, aber von den Dorfbewohnern verteidigt wurde.

Früh weckte uns das Geräusch der Schaufeln, die vor den Türen den Schnee fortschippten und die Wege bis zur Straße freiräumten, wo der Spitzpflug vorbeikommen würde. Die ganze Nacht hatte es auf das Tal und seine Dörfer geschneit. Die Väter und großen Brüder arbeiteten hart, während wir Mädchen hinter den Fenstern unserer Häuser zuschauten, wie die Dampfwolken aus ihren Mündern aufstiegen. Eine dicke Schneeschicht hatte die Formen der Landschaft weich gezeichnet, auch die Buchsbaumhecken des Gemüsegartens, die Trocken­steinmauern, die Tannenzweige, die einen hübschen Schwung bekommen hatten. Wir zogen unsere Sonntagskleider an, um unsere Eltern zum Gottesdienst zu begleiten. Sobald die Straße frei wäre, würde Vater Grimm mit Valentine und ihrer großen Schwester Blandine zu Fuß losgehen. Valentine war damals sechs, Blandine acht Jahre alt.

Zwei Pferde zogen den Spitzpflug, der aus zwei v-förmig zusammengesetzten, metallbeschwerten Bret­tern bestand. Sobald es bergauf ging, ächzten die Tiere, und die Dampfwolken, die aus ihren Nüstern wehten, schienen ihre endgültige Erschöpfung anzukündigen. Zuerst waren sie die Hauptstraße entlanggetrabt, hatten dann Stufe für Stufe ansteigend die Wege an den Flanken des Sonnenbergs freigeräumt und waren weiter oben an den Höfen von Colettes und Juliettes Eltern vorbeigekommen.

Es war acht Uhr, als die Straße, die über die Suze und am Haus der Grimms vorbeiführt, endlich vom Schnee befreit war. Wir wussten, dass der Spitzpflug nun nacheinander die Zuwege zu den abgelegenen Häusern am Schattenberg freiräumen würde. Jedes Dorf hatte seine Wintergerätschaften, die je nach dem Gefälle seiner Hänge von einem oder zwei Pferden gezogen wurden. In den Dörfern des weiten, ebenen Untertals genügte ein Zugtier. In Courtelary wurde nur ein Ochse vor den Pflug ge­spannt.

Um halb zehn riefen im Tal die Kirchenglocken, al­len voran die der Kirche von Saint-Imier, eine Viertelstunde lang zum Gottesdienst. An ihrem gedämpften Klang konnte man allein vom Hören abschätzen, wie hoch der Schnee lag. Die letzten Flocken schwebten zu Boden. Die Wolken zogen nach Frankreich hinüber, wir erwarteten einen blauen Himmel und beißende Kälte nach dem Gottesdienst. In dieser Jahreszeit erreicht die Sonne den Schattenberg nicht. Ihre hellen Strahlen tref-fen nur den Sonnenberg und überziehen dort die Schneedecke mit einem bläulichen Schimmer.

Im Tal tun sich selbst die Alten schwer mit der Wettervorhersage, denn der Himmel ist nie in seiner ganzen Weite zu sehen, zwei tannenbestandene Bergketten grenzen ihn ein. Die Wolken bilden sich im Verborgenen. Plötzlich sind sie da. Wenn sie hinter dem Bergkamm ver­schwinden, weiß man nicht, wohin sie ziehen. Blandine, die ihre kleine Schwester Valentine gerne ärgerte, hatte ihr während des Schlussgesangs ein Rätsel aufgegeben: Wo­hin verschwindet das Weiß des Schnees, wenn er schmilzt? Schwestern gehen nicht zimperlich miteinander um. Va­­len­­tine schmollte, weil sie die Antwort nicht wusste.

Es war Sonntag, der 12. Januar 1851, in Saint-Imier in der Schweiz, im Berner Jura, dem französischsprachigen Teil des Kantons, kurz vor elf, am Ende des Gottesdienstes.

Der Pulverschnee taugte nicht besonders für Schneebälle. Über dem Tal war der schmale Streifen Himmel mittlerweile blau. In Erwartung des Umzugs hatten sich die Menschen auf dem Marktplatz und entlang der Hauptstraße versammelt. Auch wir waren da, die Mädchen, die eines Tages ans andere Ende der Welt auswandern würden. Colette und Juliette, beide bald dreizehn Jahre alt, schlängelten sich zwischen den Erwachsenen hindurch. Auf den Schultern ihres Vaters sitzend, er­blickte Valentine zuvorderst die Musiker und den Fahnenträger, der den Schaft der bestickten Fahne im Gurt trug. Im Rhythmus der Trommeln kamen sie näher. Als der Pfiff des Tambourmajors erscholl, ergriffen sie ihre Instrumente, zählten drei Schritte und stimmten das erste der vier Stücke ihres Repertoires an.

Hinter dem durch den Spitzpflug mehr oder weniger hoch aufgetürmten Schneewall begrüßten die Be­woh­ner von Saint-Imier ihr Musikkorps mit Applaus. Knaben und Männer mit bloßen Händen, Mütter und junge Mädchen, ohne ihre Wollhandschuhe auszuziehen. Ein Vater bückte sich, um seine Tochter zu Boden zu lassen, seine Schultern waren vom Schneeschippen müde. Wir haben deshalb nicht genau mitbekommen, wie der un­beliebte Lehrer den Streit auslöste, als die Musik an der Schule vorbeizog. Heute ist der letzte Sonntag vom Basswitz, nieder mit den Roten!, hörte ihn Valentine brüllen. Ein Verwandter verwies ihn in die Schranken: Geh nach Hause, du Mistkerl! Als der Lehrer sich weiter aufspielte, traf ihn ein Schneeball mitten ins Gesicht, kein dicker Brocken, aber seine Brille überstand den Angriff nicht. Der Lehrer sah nichts mehr und musste sich wü­tend verziehen.

Abends in den Häusern wurde im Kreis der Familien über den Vorfall gesprochen. Im ersten Augenblick hatten wir das alles nicht richtig verstanden. Jedermann schätzte doch den Doktor Basswitz, der deutscher Staatsbürger, Israelit und politischer Flüchtling war. Er hielt schöne Vorträge über Jean-Jacques Rousseau, behandelte die ar­men Leute, ohne Geld dafür zu nehmen, war sogar Ge­­mein­derat gewesen. Aber die da oben in Bern hatten be­schlossen, ihn zu vertreiben. Eine Petition hatte die Runde gemacht, in der die Leute sich für diesen Arzt einsetzten, der nach seinem Studium in Bern das Krankenhaus von Saint-Imier gegründet und mit dem Aufbau einer Sekun­darschule für Knaben begonnen hatte.

 

In vielen Häusern herrschte die ganze Nacht hindurch ein Kommen und Gehen. Das Thermometer zeigte minus zehn Grad an, die Fensterscheiben waren mit einer dicken Schicht Eisblumen überzogen. Junge Leute kamen vorbei, um zu erzählen, dass sie alle Konservativen besucht hätten, um sie ordentlich zu verprügeln. Angeblich war ein Polizist bewusstlos im Schnee aufgefunden worden, neben ihm ein Blutfleck. Die Sa­che war ernst, man musste rasch irgendeine Ge­­schichte erfinden, sagen, er habe wie immer zu viel getrunken. Wir verstan­den nicht, was los war. Aber wir sahen, wie die Erwachsenen sich aufregten, als die Berner am nächsten Morgen in der Zeitung behaupteten, es habe einen Aufstand gegen die Obrigkeit gegeben.

Statt uns in die Schule zu schicken, nahmen unsere Eltern uns mit auf die Straße, um lauthals Lieder gegen die Konservativen zu singen. Auf dem Marktplatz war ein Freiheitsbaum aufgestellt worden, eine große Tanne, nicht sehr stabil befestigt. Wir haben sie alle auf den jungen Gagnebin fallen sehen. Die Leute rannten in alle Richtungen, das Schlimmste aber war die Frau, die schrie: Das ist mein Mann, tut doch was! Doch der rührte sich nicht mehr, denn, auch wenn sich das blöd an­hört, er war tot.

Am nächsten Morgen haben die, die behaupteten, die Obrigkeit zu sein, eine Art Krieg begonnen. Wieder mussten wir unsere Eltern begleiten, die Widerstand ge­gen die militärische Belagerung des Tals leisten wollten. Aus der Hauptstadt rückten über tausend Soldaten an, hundertsechzig Pferde zogen Kanonen, die uns niedermetzeln sollten. Die Sturmglocke läutete. Fanfaren und Trommler vorneweg zog der Gemeinderat mit we­­hen­den Fahnen den Soldaten entgegen. Auf der Höhe der Place Neuve stieß er auf die im Karree aufgestellten Truppen. Wir blieben mit unseren Müttern auf Beobachtungsposten in einer Seitenstraße. Die Polizisten versuchten, all jene festzunehmen, die der Statthalter Un­­ruhestifter nannte: Gigon, Bourquin, Ketterer. Jemand rief: An die Waffen!, als müsse jetzt das Gewehr hervorgeholt werden, das unsere Eltern unter ihrer Matratze versteckt hatten. Jedenfalls die von Valentine.

Der Oberst, ein Mistkerl, befahl die Truppe in Stellung und brüllte: Waffen – laden! Unsere Mütter schlugen vor, nach Hause zu gehen, unter dem Vorwand, die Kinder würden sich erkälten. Der Bürgermeister verhandelte. Er wollte nicht, dass wirklich Krieg ausbrach. Blandine hatte Angst, Valentine nicht, sie schmollte im­mer noch, weil sie das Rätsel ihrer Schwester nicht lösen konnte. Sie ließ Schnee in ihrem Mund zergehen, aber er wurde zu Wasser, nicht zu Milch. Wohin verschwand bloß das Weiß? Der Oberst schaffte es nicht, dass man ihm gehorchte. Am Ende befahl er der Truppe den Rückzug und vereinbarte, dass die vermeintlich Schuldigen sich freiwillig ins Gefängnis des Statthalteramts begeben sollten. Erleichtert ließen die Soldaten die auf uns gerichteten Gewehre sinken.

Von dem Tag an besetzte das Militär einen Monat lang die Dörfer des oberen Tals: Renan, Sonvilier, Saint-Imier. Wir folgten der Truppe, bewarfen sie mit Schneebällen. Da unsere Eltern uns den Unterschied zwischen Soldaten, Leutnants und Oberst erklärt hatten, be­­schimpften wir Letzteren direkt. Du gemeiner Deutschschweizer Kommandant!, riefen wir. Männer der Truppe gingen Arm in Arm mit Dorfbewohnern spazieren. Die Herbergen waren ständig voll. Zum Zeichen, dass sie sich mit uns verbündeten, trugen die Soldaten einen Tannenzweig im Knopfloch. Der Aufstand wurde zum Fest, die Eltern arbeiteten nicht mehr. Die Uhrmacherwerkstätten waren ausgestorben, trotz der Ermahnungen des Statthalters Lombach, die Colette, da sie schon lesen konnte, laut deklamierte und dabei die Obrigkeit nachäffte: «Arbeiter! Die militärische Okkupation darf nicht länger ein Grund für Untätigkeit sein, kehrt so­fort in eure verlassenen Werkstätten zurück und nehmt eure gewohnte Arbeit wieder auf!»

Manche Anschläge verkündeten noch andere Dinge: «Unruhestifter wird man wie Feinde behandeln.» Es war verboten, die rote Hymne zu singen, ein guter Grund, ihren Text zu lernen, der den Staat verspottete:

«Was kümmern uns, Lombach, deine Fesseln

Deine Kerker und deines Henkers Schwert

Das Tal ist ein Hort der Mutigen

Lasst das Schwert in der Scheide ruhen

Täterä Ramtatatam

Hoch die Roten, nieder mit den Weißen»

Die Männer, die wie unsere Väter wählen durften, wurden zu einer erneuten Abstimmung gerufen. Sie wählten wieder den alten Gemeinderat. Die da oben in Bern anerkannten das Wahlergebnis nicht, sondern setzten einen provisorischen Rat ein und an dessen Spitze einen armen Teufel, der ihre Befehle ausführen musste. Gefällt der Obrigkeit ein Wahlergebnis nicht, erklärt sie es für ungültig. Die Besatzungstruppe wurde abgezogen. Hermann Basswitz musste sich fünfzehn Kilometer weiter niederlassen, im Val-de-Ruz, wo Israeliten gedul­det waren und sich Häuser kaufen durften. Er heiratete eine junge Frau, die ebenfalls Basswitz hieß. Hildegard Basswitz. Der Vorname ihrer Tochter enthielt ein Stück des väterlichen Namens – Ma – und ein Stück des mütterlichen – Hilde: Mathilde.

Zur Feier des Truppenabzugs und der länger werdenden Wintertage stellten die Erwachsenen wieder ei­nen Freiheitsbaum auf. Der Gemeindepolizist entfernte ihn.

Dann schmolz der letzte Schnee, ohne dass Valentine herausgefunden hätte, was mit dem Weiß passiert. Wieder nahmen unsere Eltern uns mit, einige noch immer auf ihren Schultern. Sie wollten die Widerständler bei ihrer Entlassung aus dem Gefängnis feiern. Die kamen auf einem blumengeschmückten und von sechs weißen Pferden gezogenen Wagen angefahren. Kanonen donner­ten zum Salut. Wir trampelten vor Freude und schrien wie die Verrückten: Es lebe die Freiheit! Und Valentine, die dachte, das gehöre dazu, schrie auch noch: An die Waffen! Aber das passte jetzt nicht mehr. Alles zu seiner Zeit, sagte ihr Vater. Schade, denn obwohl wir Kinder waren, sollte uns die Freude des Volks am Aufstand, da­r­an, wie die Obrigkeit zurückgedrängt wurde, unver­gessen bleiben, selbst dann noch, als wir irgendwann das Tal verlassen mussten, um unser Glück anderswo zu suchen.

Manche von uns wohnten auf den hellen Höfen des Sonnenbergs, andere, wie die Schwestern Grimm, kamen von der dunklen Seite des oberen Tals. Die meisten lebten in den Dörfern entlang der Straße nach Courtelary, wohin man musste, wenn man es mit der Obrigkeit, sprich, mit ihrem Gefängnis aufnehmen wollte. In jedem dieser Juradörfer im Talkessel wurden Sägen, Mühlen, Hämmer vom Wasser der Suze angetrieben. Wir wohnten in großen Häusern mit sanft geneigtem Walmdach, auf der einen Seite die Familie, auf der anderen zwei Kühe, auf der Rückseite war die Tennbrücke.

Trotz seines ländlichen Aussehens wandte sich un­ser über achthundert Meter hoch gelegenes Dorf der Uhrmacherei zu. Im Winter waren die Familien auf den einsamen Höfen der Sonnen- und Schattenseite mehrere Wochen lang eingeschneit. Die Tiere spendeten Wärme, es gab genügend Holz, um Suppe zu kochen und den Raum mit der Werkbank zu heizen, wo die Rohwerke der Uhren den fachkundigen Händen unserer Mütter oder den zarten Fingern unserer großen Schwestern anvertraut waren. Im Herbst hatten sie einige Hundert winzige Teilchen bekommen, die sie unter dem Okular mit der Pinzette fassten. Im Frühjahr, wenn die Arbeit beendet war, würden sie sie zu den Uhrmachern bringen. Die würden die Rädchen, Ritzel, Gehäuse und Zifferblätter zusammensetzen, die über hundertzwanzig Teile, die nötig waren zur Herstellung jener Uhren, die sie in ganz Europa verkauften.

Zur Zeit der Ereignisse von 1851 war Mathilde noch nicht geboren. Als 1867 ihr Vater starb, war sie elf Jahre alt. Da ihre Mutter die Trauer um ihren Mann nicht überlebte, kam die zur Vollwaise gewordene Mathilde nach Saint-Imier zu einer Krankenschwester, einer ehemaligen Arzthelferin ihres Vaters. Mathilde, das Nesthäkchen der Familie, war auch die jüngste der zehn künftigen Emigrantinnen. Einige von ihnen kannten sich schon aus der Mädchenschule. Manche hatten alle Schuljahre absolviert, andere nur einen Teil und waren mit vierzehn in die Lehre gegangen. Die, die an entlegenen Orten wohnten, mussten in die Nähe des Dorfes ziehen, kamen dort bei Verwandten unter oder in Pension.

In der Uhrmacherei wechseln Höhen und Tiefen einander ab, oft muss man die Zähne zusammenbeißen und auf den nächsten Aufschwung warten. Eine Revolution in Deutschland, ein zweiter Kaiser in Frankreich, eine Sezession in den Vereinigten Staaten, ein Streit in Konstantinopel, und unsere Väter standen ohne Arbeit da. Sogar ein alter Krieg zwischen Katholiken und Protestanten bei uns in der Schweiz hatte einmal alle Uhrmacher arbeitslos gemacht. Nach den Ereignissen von 1851 belebte sich die Konjunktur wieder. Die Väter konnten ihre Berufe mit den klangvollen Namen wieder ausüben: Guillocheur, Gehäusefedermacher, Graveur oder Zifferblattmaler. Und unsere Mütter konnten auf dem Herbstmarkt der nächstgelegenen Stadt La Chaux-de-Fonds einkaufen gehen. Es gab genug Milch, die Kinder gingen nicht mehr mit leerem Magen ins Bett. Vater Grimm sagte zu seinen Töchtern, es werde nie mehr eine Mehltauepidemie oder eine Hungersnot geben.

Pfarrer Agassiz hatte seinem ältesten Sohn einen Erbvorbezug gewährt. So konnte dieser sich mit dreiundzwanzig Jahren am Platz neben der Kirche ein Uhrmachercomptoir einrichten. Auguste kümmerte sich um die Endmontage der Uhren und verkaufte sie bis nach Portugal und Russland. Im Dorf müssen die Pfarrerskinder immer mit gutem Beispiel vorangehen, be­sonders das älteste. Augustes gutes Beispiel bestand da­r­in, reich zu werden. Bei der Geburt unserer Großeltern zählte Saint-Imier vierhundert Einwohner. Inzwischen waren wir sechstausend und würden bald achttausend sein.

Unsere Väter arbeiteten sechs Tage die Woche und kamen abends spät nach Hause, außer samstags, da kamen sie um sechs. Die Familien waren kinderreich, in vielen gab es bis zu zehn Geschwister. Der Pfarrer stellte fest, dass der liebe Gott im Durchschnitt eines von fünf Kindern im ersten Lebensjahr zu sich holte. Die Bestattung war eine kurze Sache. Das nächste Kind bekam den Namen dessen, das nicht überlebt hatte. Von nun an war alles auf Fortschritt ausgerichtet. Eines Tages würde es keine Armen und keine Kriege mehr geben. Das glaubten jedenfalls unsere Eltern. Valentine, Ihre Berichter­statterin, konnte sich nicht vorstellen, dass ein Säugling wie ihr kleiner Bruder wieder auferstehen sollte.

In unseren Mädchenklassen lernten wir Nähen, Hauswirtschaft, die Prinzipien der Milchsäuregärung, aber weder die Geografie fremder Länder noch das Schießen oder die Tischlerei. Das wurde nur in den Knabenklassen unterrichtet. Als Mädchen gewöhnten wir uns an, zusammenzuhalten, auch später als Frauen, ohne allzu viel Konkurrenz.

Selbst wenn jede von uns ihren eigenen Dingen nachging, verloren wir uns nicht aus den Augen. Einige waren gerade vom Pfarrer konfirmiert worden, andere hatten schon einen festen Freund, zum Beispiel Blandine Grimm. Die einen malten sich die Lippen an und puderten sich die Wangen, die anderen fanden, man dürfe nicht provozieren.

Was Blandine betraf und da es bei den Grimms nur Mädchen gab, meinte der Vater, die Älteste müsse für ihre Schwestern ein Vorbild sein, sonst würden die Jüngeren, so sagte er, zu schamlosen Ludern. Blandine mach­te nur Unsinn, wozu Valentine aber nichts konnte. Blandine war Zusammensetzerin, Valentine machte gerade eine Lehre als Verstifterin-Zentriererin. Die Große hantierte mit Robustem, die Kleine brauchte Fingerspitzengefühl, um auf der Achse des Pendels, wo die Spirale mit einem Sperrstift befestigt wird, einen gespaltenen Zy­linder zu justieren. Nicht so einfach, gleich nach einer Schwester wie Blandine zu kommen. Freundinnen sucht man sich aus, Schwestern nicht.

Auf dem Schiff nach Amerika würden wir später einen englischen Satz lernen, der in dem Lied Ten Little Injuns vorkommt. Am Anfang sind sie vollzählig, dann stirbt oder verschwindet in jedem Refrain eines. Ganz zum Schluss heißt es:

and then there were none

da war’n sie alle futsch

Auch wir waren anfangs zehn. Mathilde, die jüngste der zehn kleinen Negerinnen, sagte, eines Tages würden wir eine Reise um die Welt machen und irgendwann als alte Frauen wieder nach Hause kommen. Dann würden wir eine Versammlung einberufen, uns auf den Tisch stellen, unsere Lebensgeschichten erzählen und dabei so wenig wie möglich lügen. Nachdem wir richtig Stimmung im Saal gemacht hätten, bekämen wir von allen Seiten Applaus. Und würden vom Tisch springen. Und uns alle ein Bein brechen, sagte sie noch. Wir mussten ganz schön lachen bei der Vorstellung, wie wir als alte Frauen auf einem Tisch stehen und von unseren Reisen erzählen würden wie Jean-Jacques Rousseau in Die neue Héloïse, wo Saint-Preux eine abenteuerliche Reise zur Juan-Fernandez-Insel unternimmt. Mit dieser Insel haben wir damals, wie Sie sehen werden, genau ins Schwarze getroffen.