Die Farbe der Leere

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Die Farbe der Leere
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Die Farbe der Leere präsentiert sich als zeitgemäßer Whodunit: Die Plotführung ist hohe Schule. Die Story setzt am Tatort an, stellt die ermittelnden Personen vor und beleuchtet gekonnt das Milieu. Sie beginnt mit dem Offensichtlichen und enthüllt Schritt für Schritt – sehr spannend – das Darunterliegende. Diese klassische Aufklärungsgeschichte ist geschickt choreographiert und stark erzählt, lakonisch trocken und gerade deshalb eindringlich.



Aber das alles ist höchstens der halbe Grund, warum ich das Buch unbedingt verlegen (und mitübersetzen) wollte. Denn was mich hier am tiefsten beeindruckt, ist die Kompromisslosigkeit des Hinschauens, das erbarmungslose Zutagefördern von Realität. Ich nenne das Wahrhaftigkeit und halte es für die edelste Aufgabe des Genres Krimi.



Die St. Petersburg Times schrieb: »Trocken und pointiert kratzt dieser Roman am Lack der kranken Gesellschaft.« Und genau das macht ihn für mich zu einer – von Thrillerspannung angetriebenen – kraftvollen Parabel über die Herkunft des Verbrechens.



Else Laudan



Cynthia Webb hat einen Master in Literarischem Schreiben, ist Staatsanwältin und war viele Jahre lang (wie Katherine McDonald) für die New Yorker Behörde ACS tätig. Anschließend lehrte sie als Dozentin an der bilingualen Deutschen Schule New York. Momentan studiert sie Educational Leadership (Bildungsmanagement & -innovation) am Teachers College der Columbia University. Sie hat drei mittlerweile erwachsene Kinder und lebt zurzeit an der Upper West Side in Manhattan. Die Farbe der Leere ist ihr zweiter Roman. Ihr erster Krimi Florida Blues wurde gleich nach Erscheinen für den Lambda Literary Award nominiert.



Ariadne-Gründerin Frigga Haug schrieb nach der Lektüre von Die Farbe der Leere: »Dieser Krimi glänzt mit einem unterkühlten sozialen Realismus und zeigt das Verbrechen der Gesellschaft an jenen, die sie zu Mördern werden lässt.« Sie regte an, dem Buch das Luxemburg-Zitat voranzustellen, und Cynthia Webb fand die Idee genau richtig.





Cynthia Webb



Die Farbe der Leere



Deutsch von B. Szelinski und Else Laudan



Ariadne Krimi 1187

 Argument Verlag





Ariadne Kriminalromane



Herausgegeben von Else Laudan





www.ariadnekrimis.de





Deutsche Erstausgabe



Alle Rechte vorbehalten



© Argument Verlag 2011



Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg



Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020





www.argument.de





Umschlaggestaltung: Martin Grundmann, Hamburg



Fotomotiv: © Westa Zikas –

Fotolia.com



Lektorat & Satz: Iris Konopik



ISBN 9783867549387



Erste Auflage 2011



1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013





for my mother, my best cheerleader,

 and for my father, who told the best stories





Kurze Erläuterung zur ACS



Die ACS (Administration for Children’s Services) ist in New York City eine Kinder- und Jugendschutzbehörde. Bei Anzeige oder Verdacht auf Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung sondiert ein ACS-Fall­betreuer vor Ort die Lage, bespricht sich mit einem ACS-Anwalt, der legt den Fall dem Familienrichter vor. Das Familiengericht beruft einen Rechtsvertreter für das Kind und einen Pflichtverteidiger für Eltern, die sich keinen Anwalt leisten können. Bei Sorgerechtsentzug soll ACS eine Pflegschaft oder Heimunterbringung organisieren und dem Familiengericht halbjährlich Rechenschaft ablegen. ACS hat 12 Abteilungen, zuständig für Jugendschutz, Inobhutnahmen, Pflegeunterbringungen (Vermittlung an und Kontrolle von staatlichen und privaten Trägern), Bildungsförderung in einkommensschwachen Familien, Jugend- und Familienrecht und mehr. Die New Yorker Familiengerichte haben jährlich mit über 100 000 Fällen von Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung zu tun. Rund 180 ACS-Anwälte sind in New York City tätig.



Wer mehr wissen will, folge diesem Link:





http://www.nyc.gov/html/acs/html/about/about.shtml







»Aber alle führenden Geister der … Literatur empfinden … den Mord als eine Anklage gegen die bestehenden Verhältnisse, als ein Verbrechen an dem Mörder als Menschen, für das wir alle – jeder Einzelne – verantwortlich sind.«



Rosa Luxemburg



(aus: Gesammelte Werke Band 4, Seite 309, Einleitung zu Wladimir ­G. Korolenko: Die Geschichte meines Zeitgenossen)




Inhaltsverzeichnis





Cover







Klappentext







Titel







Impressum







Widmung







Kurze Erläuterung zur ACS







Vorwort







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Weitere Bücher







Stephen Russo legte auf, kletterte aus dem Bett und knurrte Rosemarie zuliebe gedämpft vor sich hin. Im Dunkeln tastete er nach seinen Sachen, da klickte hinter ihm die Lampe an. Als er in seine Hosen stieg, setzte sie sich auf, den Rücken ans Kopfbrett gelehnt, und sah ihm zu. Schlaf weiter, sagte er. Mach nicht extra Kaffee. Er würde sich unterwegs einen besorgen. All die Jahre, all die Anrufe. Und bis heute hasste sie es, wenn er so aufbrach. Sie würde sich Sorgen machen, bis er am Abend nach Hause kam, und dann am nächsten Morgen wieder. Aber sie würde sich nicht beklagen. Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ, als sie ihn heiratete.



»Leg dich wieder hin. Gönn dir noch ’ne Stunde Schlaf, bevor die Monster aufwachen.«



Ihm zu Gefallen schlüpfte sie wieder unter die Steppdecke, zog sie über die Schultern und machte die Augen zu. Lauschte auf seine Schritte, als er den Raum durchquerte und so leise wie möglich die Tür hinter sich schloss. Sie erhielt die Illusion aufrecht, dass sie wieder einschlief. Dabei wussten sie beide, dass sie auf den Beinen und in der Küche zugange sein würde, noch ehe sein Wagen die Auffahrt verließ.



Der Anruf war von Malone gekommen, die Nachricht so knapp, wie es ihre Art war: Noch ein toter Junge. Aufgeschlitzt wie der letzten Monat. Schon als ihn das Telefonklingeln weckte, hatte er den Adrenalinkick gespürt. Gott, wie er den Thrill liebte, wenn er so einen Anruf bekam. Er war süchtig danach. Er wusste, er war genauso drauf wie ein Junkie, der sich mit dem geklauten Geld seiner Freundin in einem versifften Loch Crack kauft.



Seine Hochstimmung verflüchtigte sich schnell, als er am Tatort eintraf, einen Pappbecher Kaffee in der Hand, mit gut sitzender Ermittlerattitüde, und einen Blick auf die übel zugerichtete Leiche des Jungen warf. Das also ist der Anblick, den ich kaum erwarten konnte.

 



»Da haben wir’s wohl mit einem richtigen Jack the Ripper zu tun, was?«, sagte er statt Begrüßung zu seiner Partnerin Patricia Malone: blaue Augen, Pferdeschwanz, Kaugummi im Mund wie immer.



Sie schüttelte den Kopf und ließ zur Antwort eine Blase platzen. Das hier nahm auch sie mit. Er wusste Bescheid. Im Licht der Scheinwerfer, die die Kriminaltechniker aufgestellt hatten, sah er die fahle Blässe ihrer hellen Haut unter den Sommersprossen. Aber vor allem wusste er es, weil er Malone kannte.



Er war an den Anblick in Stücke geschossener oder an Messerstichen verbluteter Teenager gewöhnt, schließlich war das hier die Bronx. Aber die Szene vor ihm war etwas anderes. Er hätte gern gesagt, dass er so etwas noch nie gesehen hatte, nur dass er genau so etwas vor weniger als einem Monat gesehen hatte.



Die Rechtsmedizinerin Janet Fogey schlenderte rüber an die Kante des Daches, um sich eine Zigarette anzuzünden. Russo und Malone gesellten sich zu ihr.



Sie warteten, während Janet einen tiefen Zug nahm, ihn dann langsam ausatmete wie einen tiefen Seufzer. »Ihr kennt ja den Trott. Vor Abschluss der Autopsie ist nichts gesichert.«



»Klar«, sagte Russo.



»Stranguliert, vergewaltigt.«



Russo wartete auf mehr. Fogey betrachtete die Zigarette, als könnte sie sich nicht erklären, wie sie in ihre Hand gekommen war.



»Klar«, sagte Russo schließlich. »Aber was ist mit …« Er gestikulierte mit der Hand zwischen Bauch und Brust.



Sie warf die Zigarette auf das Dach und zertrat sie weitgehend ungeraucht unter ihrem Absatz. »Wie der vorige, soweit ich das sagen kann. Eher Schnitte als Stiche. Sieht aus, als wär das Messer hineingestoßen und dann durch das Fleisch gerissen worden. Immer und immer wieder. Vielleicht ein paar Dutzend Mal, würde ich sagen. Mindestens.«



»Ist er so jung, wie er aussieht?«, fragte Malone.



Fogey zuckte die Achseln. »Um die fünfzehn, nicht gerade groß für sein Alter.«



Niemand sagte: »Genau wie der andere«, aber sie dachten es.



»Irgendwo da draußen läuft ein echt kranker Typ rum«, sagte ­Malone.



Fogey zuckte wieder die Achseln und fischte sich eine neue Zigarette aus ihrer Jackentasche. »Ich hab schon schlimme Sachen gesehen«, sagte sie. »Aber das hier gehört zum Härtesten.« Sie zückte ihr Feuerzeug und zündete die Zigarette an.



Russo trat beiseite und stellte sich an die hüfthohe Brüstungsmauer am Dachrand. Der Geruch von Zigarettenrauch erinnerte ihn immer an seinen Vater, der seit drei Jahren tot war. Er hatte gehört, manche Männer erlebten so eine Art Befreiung, wenn ihre Väter starben. Als könnten sie mit ihrem Leben nun endlich anfangen, was sie wollten. Aber Paps war ein knallharter Scheißkerl gewesen, und Russo war sicher, der alte Mann würde ihn unverzüglich heimsuchen, wenn er irgendetwas anderes machte als das, was er jetzt tat. Nicht, dass Russo das je ernstlich in Erwägung gezogen hätte.



Im ersten Tageslicht waren die hässlichen Konturen des Viertels noch verschwommen, die Straßen ruhig. Die beste Zeit des Tages, dachte er. Und dann: Der Kerl, der dasgetan hat, ist irgendwo da draußen. Und Russo hatte ihn nach dem ersten Mal nicht erwischt. Sicher, es gab noch andere, denen das mit anzulasten war, wenn er so wollte. Aber er, Russo, nahm es immer persönlich.



Jemand hatte ein Messer genommen und den Jungen da hinter ihm abgeschlachtet, buchstäblich geschlachtet, und dieser Jemand war unterwegs auf diesen Straßen, in denen es jetzt gerade hell wurde. Russo musste ihn kriegen. Die Sonne stand inzwischen hoch genug, dass er den Müll auf den Gehwegen erkennen konnte. Und wieder fühlte er das Summen in seinen Adern.



Russo drehte sich um und sah nach, was Malone trieb. Sie sprach immer noch mit Fogey, die gerade die nächste Zigarette ausmachte. Er rief: »Fogey, wenn das Ihre Methode ist, aufzuhören, wird Sie das ein Vermögen kosten. Weiterrauchen ist billiger.«



Drei Wochen später fanden sie den dritten Jungen. Auf einem leeren Abrissgrundstück hinter einem Schutthaufen. Inzwischen nannten sie den Täter Jack. Ihm einen Namen zu verpassen machte es erträglicher, gab ihrem Hass eine Art Ziel. Seit dem Tag, als sie die zweite Leiche gefunden hatten, verbot Russo seinen Kindern, auf der Straße herumzuhängen. Er wollte auch nicht, dass sie nach Einbruch der Dunkelheit noch Freunde besuchen gingen.



An diesem Abend kam Russo spät nach Hause. Der Kick war längst verflogen, die Frustration hatte eingesetzt. Er hatte den Scheißkerl nicht gekriegt, und der Scheißkerl hatte es wieder getan. Dieses Schwein spielt mit mir, dachte Russo.



Rosemarie war in Sorge, weil sie Andy erlaubt hatte, zum nächsten Häuserblock zu gehen und mit einem anderen Kind an seinem Wissenschaftsprojekt zu arbeiten. Schließlich war Russo zu selten da, um ihm bei seinen Schulaufgaben eine Hilfe zu sein, daher fand sie, das müsste sie ihm zubilligen.



Das ging schon in Ordnung. Denn sie hatten jetzt drei Morde und ein klares Muster. Die körperlichen Merkmale der Opfer zeigten deutlich einen bestimmten Typ – Schwarze oder dunkle Latinojungs zwischen dreizehn und sechzehn Jahren. Alle klein und schmächtig, für ihr Alter eher unterentwickelt.



Andy war erst elf und rundlich, und Johnny Junior war ein großer Junge, breitschultrig und muskulös vom regelmäßigen Krafttraining. Vor allem aber kamen die Opfer nicht aus Familien, wie er und Rosemarie für ihre Kinder eine geschaffen hatten. Es waren Kids, die auf der Straße lebten oder in überfüllten engen Wohnungen. Zu viele Leute und immer zu wenig Geld. Der letzte Junge hatte in einer Art Jugendasyl gehaust, so schlecht stand es um ihn. Jack machte Jagd auf Kids aus einem anderen Leben. Von ihrer Realität so weit entfernt, als lebten sie in einem anderen Land.



Als Russo ihr das erklärt hatte, sprach Rosemarie ein leises Dankgebet und schämte sich dabei. Schämte sich, weil sie so dankbar war, dass nur anderer Leute Kinder in Gefahr waren, dass nur andere Mütter krank vor Sorge sein mussten.



Russo setzte sich mit einem Bier an den Tisch und dachte an die Gegend, wo sie den dritten Jungen gefunden hatten. Als er während der mittlerweile vertrauten Routinechecks mit ­Malone in der Gasse herumstand, hatte sie gefragt: »Glaubst du, das ist jetzt der Letzte?«



»Was redest du da?«, blaffte er ungläubig. »Fragst du mich im Ernst, ob ich glaube, der Kerl hat genug und hört einfach auf?«



Sie starrte ihn an, empört, weil er überhaupt in Betracht zog, dass sie es so gemeint haben könnte. »Ich meinte hier. Der Letzte hier bei uns. Ich will nicht, dass er weggeht und woanders weitermacht. Ich will, dass er hierbleibt, wo wir ihn kennen, wo wir ihn schnappen können.«



»Ich auch«, sagte ihr Partner grimmig. »Ich will, dass wir es sind, die das Schwein drankriegen.«



»Hey«, sagte sie, »wir kriegen ihn schon noch.« Aber sie sagte nicht, dass sie ihn kriegen würden, bevor er die nächste Tat beging.





1



Wenn man nur lange genug für die Stadt arbeitet, dachte ­Katherine, kriegt man doch gewisse Extras: Noch vor der Mittagspause darf man die Klageschrift für einen besonders brutalen Missbrauchsfall aufsetzen, am Nachmittag steht dann der Irrsinn der Gerichtsanhörung bevor, und jetzt hat man eine inkompetente Idiotin vor der Nase und kann erst was essen gehen, wenn man sie losgeworden ist.



Das Büro der ACS-Fallaufnahme war in einem schäbigen Bau gegenüber vom Gericht untergebracht. Die Mittagspause in einem miesen Imbiss würde Katherines Tag enorm aufwerten, aber sie kam hier nicht weg, ehe sie mit diesem neuen Prozese­antrag fertig war. Erst hatte sie gehofft, Mrs. ­Ellie Jones – die kleine, selbstzufriedene Fallbetreuerin, die vor ihr saß – ­irgendwie missverstanden zu haben, aber diese Hoffnung hatte sich längst zerschlagen.



»Also Sie sind einer Meldung von Kindesmissbrauch nachgegangen und fanden das Kind in Handschellen ans Bett gekettet, mit aufgeschürften und blau angelaufenen Handgelenken, richtig? Und das Kind sagt, dass es bereits seit Tagen in dieser Lage ausharrt, korrekt?« Sie versuchte, es nicht allzu sehr nach flammender Anklage klingen zu lassen, doch das war vergebene Liebesmüh. Mrs. Jones merkte überhaupt nichts.



»Das hab ich Ihnen doch schon erzählt, Mrs. McDonald.«



»Dann erklären Sie es mir noch mal. Warum haben Sie das Kind nicht kraft Ihrer Befugnis in Gefährdungsfällen sofort in Obhut genommen?«



»Ich hab die Handschellen mitgebracht«, erwiderte Mrs. Jones zum dritten Mal seit Beginn des Gesprächs. Wieder zog sie die Handschellen aus der offenen Tasche auf ihrem Schoß und ließ sie hin und her baumeln.



»Sie haben also die Handschellen mitgebracht und das Kind dort gelassen«, sagte Katherine ausdruckslos – eine letzte Chance für Mrs. Jones, einen Hauch von Einsicht zu zeigen.



Mrs. Jones fand wohl, dass dies keine Antwort erforderte. Sie steckte die Handschellen wieder ein.



Angesichts dieser erschütternden Niederlage änderte ­Katherine ihre Vorgehensweise. In ihrem strengsten Ton fragte sie scharf: »Haben Sie irgendeine Ahnung, was die Eltern in diesem Augenblick mit dem Kind anstellen?« Sokratische Gesprächsführung: Entbinde die Wahrheit Schritt für Schritt. Wenigstens manchmal war das Jurastudium zu etwas nütze.



»Nein.« Mrs. Jones’ Ton deutete an, dass ihr die Richtung, die das Gespräch nahm, nicht behagte. Für einen Augenblick glaubte Katherine, sie sei endlich durchgedrungen. Dann fügte Mrs. Jones hinzu: »Sie können ihm jedenfalls keine Hand­schellen mehr anlegen.«



»Diesen Eltern fehlt doch eindeutig jeder Sinn für angemessene Erziehungsmethoden, können Sie mir so weit zustimmen?«



Mrs. Jones riskierte ein knappes, nervöses Nicken.



»Man kann also sagen«, fuhr Katherine fort, »dass das Kind hochgradig gefährdet ist. Bei unmittelbarer Gefährdung ist das Kind in Obhut zu nehmen und zur Anrufung des Familien­gerichts herzubringen.« In Mrs. Jones’ Blick schien ein schwacher Funke des Begreifens zu dämmern. »Aber dem Kind wird schon nichts passieren, denn Sie haben ja die Handschellen mitgebracht«, schloss Katherine ätzend, und Mrs. Jones nickte erleichtert, sichtlich zufrieden, dass die ACS-Anwältin es endlich kapiert hatte.



Katherine gab den Versuch auf, die Abgründe von Mrs. Jones’ Bewusstsein zu durchdringen, und entließ sie. Dann schrieb sie Mrs. Jones’ Vorgesetzter eine Mail mit der Anweisung, sofort jemand anderen zu der Wohnung des bis vor kurzem gefesselten Kindes zu schicken. Am Nachmittag konnte die Anhörung stattfinden, und Katherine würde beim Richter eine Verfügung beantragen, die den Eltern umgehend das Sorgerecht entzog. Noch etwas, worauf sie sich freuen konnte: Vor dem Richter war sie dann der einzig greifbare Blitzableiter für seinen berechtigten Grimm darüber, dass sich das Kind trotz der dramatischen Umstände nach wie vor in der Obhut seiner fesselwütigen Eltern befand.



Ihre Stimmung hob sich jedoch, sobald sie das triste Gebäude verließ. Sie ging an den blauweißen Gefangenen­transportern mit dem Kaninchendraht vor den Scheiben entlang, überquerte die 161. Straße und erreichte den breiteren Gehweg vor dem kastenartig aufragenden grauen Bau, den sich Familiengericht und Strafgericht teilten. Die Mittagssonne schien ihr warm auf den Kopf. Es war am Morgen kühl gewesen und würde abends kalt werden, aber im Moment war es angenehm mild. Der lange Indianersommer zog sich diesmal bis in den November.



Sie wandte sich nach rechts, überquerte die Sheridan Avenue und entdeckte Annie und Diane in einer Sitznische, sobald sie die Glastür von Fat City aufzog. Sie schlängelte sich zu ihnen durch, ließ sich neben Annie auf die rissige rote Lederbank fallen und sagte: »Tut mir leid. Ich kam nicht eher weg.«



Niemand machte sich die Mühe, nachzuhaken. Kein Mensch, der bei Verstand war, würde freiwillig im Fallaufnahmebüro sitzen bleiben, wenn er zum Lunch gehen konnte. Diane wandte sich Katherine zu. »Ich erzähl Annie gerade, dass ich heute früh einen Fall hatte, wo die Beklagte Mutter von sieben Kindern ist.«



Es gab eine kurze Stille, in der Annie und Katherine mit Blicken ausfochten, wer heute an der Reihe war, Dianes Bälle zu retournieren.



Es war Annie, die aufgab und die erwartete Phrase sprach. »Und das Besondere daran ist …?«



»Die Mutter ist dreiundzwanzig.«



Alma, die Kellnerin, ließ einen Teller mit einem Burger vor Annie auf den Tisch gleiten, dann setzte sie genauso einen vor Katherine ab und Rührei mit Bratkartoffeln vor Diane. Die hatte es schon lange aufgegeben, Alma davon abzubringen, ihr diese bleichen Kartoffelwürfel mit fast rohen Zwiebelstückchen und Pfeffer vorzusetzen, die sie hier Bratkartoffeln nannten. (»Die einzig akzeptablen Beilagen zu Eiern sind Polenta oder Brötchen. Vielleicht noch sehr krosse Röstkartoffeln. Aber nicht so was.«)

 



Katherine nahm ihren fetttriefenden Burger in Angriff und merkte, wie hungrig sie war. »Habt ihr für mich mitbestellt?«



Die beiden Frauen schüttelten die Köpfe.



»Hat Alma sich gedacht, wenn ihr zwei hier seid, komm ich auch?«



»Scheint so«, sagte Annie.



Diane ergriff wieder das Wort. »Ich hab noch einen: Warum ist die einzige Droge, die die Beklagten nicht nehmen mögen, die Antibabypille?« Die Vierzigjährige, die mit ihrem kaffeedunklen Teint und der hochgewachsenen schlanken Figur eher nach dreißig aussah, war Katherines und Annies Vorgesetzte. In einer Etagenwohnung in Washington Heights zog sie ihre zwei Nichten groß. Von deren leiblicher Mutter, Dianes Schwester, war nur bekannt, dass sie in Detroit auf der Straße lebte. Einen Vater oder Väter gab es nicht.



Diane und Katherine hatten dem zarten Geschöpf namens Annie zunächst Vorbehalte entgegengebracht. Doch sie fügte sich nahtlos in die kollegiale Freundschaft der beiden älteren Frauen. Von ihrem Privatleben wussten sie nur, dass sie nach einer Kommilitonenehe geschieden war. Da sie nicht darüber sprach, gingen sowohl Katherine als auch Diane davon aus, dass es schlimm gewesen war.



Auf Dianes Spruch hin bemerkte Annie nachdenklich: »Vor gar nicht langer Zeit setzten die meisten meiner Freundinnen alles daran, bloß nicht schwanger zu werden. Und jetzt kommt es mir vor, als ob fast alle, die ich kenne, verzweifelt versuchen, einen Braten in die Röhre zu kriegen.«



Katherine nickte. Die Epidemie der Fortpflanzungsbesessenheit grassierte auch unter Frauen ihres Alters. Sie selbst hatte nie über ihre Ehe gesprochen, als sie noch mit Barry zusammengelebt hatte, und sah keinen Grund, jetzt damit anzufangen.



Annie fuhr fort: »Sie essen nur noch Körnerfutter und biodynamisches Gemüse …«



»Das ist schon der erste Fehler«, warf Diane ein.



»… und machen Fruchtbarkeitstherapien und empfangen trotzdem nicht, wohingegen …« Sie brach ab, und Katherine und Diane warfen sich einen kurzen Blick zu.



»Wohingegen die Beklagten bei einer Diät aus Chips, Pepsi und Crack jedes Jahr ein Baby werfen«, beendete Diane den Satz für Annie. Die wurde rot, ein fleckiges Rosa, das vom Unterkiefer aufwärts wanderte und die Wangen überzog. Wenn es darum ging, Witze über das Elend zu reißen, das sie tagtäglich zu sehen bekamen, war Annie immer noch zartbesaitet, was Katherine und Diane nachhaltig amüsierte.



Katherine wischte mit der billigen dünnen ­Papierserviette vergeblich an ihren schmierigen Händen herum. »Was ich gern mal wüsste: Warum ist die Abbrecherquote bei der Suchtakupunktur bloß so hoch? Da spritzen sie sich jahrelang in wer weiß wie schmuddligen Löchern wer weiß was in die Venen, und jetzt, ganz plötzlich, haben sie auf einmal Angst vor Nadeln?«



Dann gab Katherine die Geschichte von Mrs. Jones und den Handschellen zum Besten, und erwartungsgemäß fand Diane sie zum Brüllen komisch. Als das Gelächter der Frauen nachließ, fügte sie noch hinzu: »Das nächste Mal trifft sie auf ein Kind voller Zigarettenverbrennungen und beschlagnahmt die Kippen«, und Diane und Katherine prusteten wieder los.



Katherine hatte Annie am Ende ihrer ersten Woche gesagt: »Wenn du eine Zeitlang mit verwahrlosten und missbrauchten Kindern zu tun hast, machst du entweder schlimme Witze darüber oder du drehst durch.« Bisher hatte Annie weder das eine noch das andere getan.



Die Mittagszeit neigte sich dem Ende zu, die Menge sickerte allmählich nach draußen. Katherine musste zurück ins Büro, doch sie blieb noch sitzen und trank den lausigen Kaffee, bitter im Mund wie geschmolzener Stahl. Sie gingen nicht mehr so oft zum Essen raus wie früher – dies war ein rares Vergnügen. Seit sie bei jeder Rückkehr ins Gebäude durch die Metall­detektoren mussten, schien der Weg zum Mittagessen oft nicht den Aufwand wert.



Eine Gruppe von Männern in Anzügen passierte ihre Sitzecke auf dem Weg nach draußen. Diane streckte den Arm aus und legte einem von ihnen ihre lange schmale Hand auf den Arm (sie sollte wirklich Klavier spielen mit diesen Fingern, dachte Katherine). »Dan! Dan Mendrinos. Wie geht’s dir, Junge?«



Der große dünne Mann mit dem traurigen Gesicht und den tiefen Furchen um den Mund blickte mit leichtem Lächeln auf Diane herunter. Ein