Ostprinzessinnen tragen keine Krone

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Ostprinzessinnen tragen keine Krone
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Biografische Erzählung

OSTPRINZESSINNEN TRAGEN KEINE KRONE

Das überraschende Leben der Katja H.

von Cornelia Heynen-Igler

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2021

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Was ist wahr?

Zur grammatikalischen Geschlechterfrage

1. Im Labyrinth der Geschichte(n)

1.1. Aufzeichnung: Kinderjahre, Mädchenjahre (1969 – 1988)

2. Wendezeiten

2.1 Aufzeichnung: Die Braut am Wendepunkt (1988 –1991)

3. Das pralle Leben

3.1 Aufzeichnung: Scheidewege in die Freiheit (1991 – 1999)

4. Zwischen Hochs und Tiefs

4.1 Aufzeichnung: Wechselspiele (1999 – 2001)

5. Vom Abschiednehmen

5.1 Aufzeichnung: Liebe ohne Aussicht (2001 – 2005)

6. Auf den Weltmeeren

6.1 Aufzeichnung: Turbulenzen auf hoher See (2005 – 2007)

7. Amerika zum Ersten

7.1 Aufzeichnung: High Society in New York (2007 – 2008)

8. Amerika, zum Zweiten

8.1. Aufzeichnung: Achterbahn (2008 – 2014)

9. Alles ist gut

Nachtrag (2019)

WAS IST WAHR?

Die vorliegende biografische Erzählung beruht auf zahlreichen Geschichten und Episoden, die mir die real existierende Katja H. aus ihrem wechselhaften Leben erzählt hat.

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes habe ich die Identität einiger – wenn auch längst nicht aller – in der Erzählung vorkommender Personen verschleiert. Zu diesem Zweck habe ich Informationen geändert, die für den Verlauf und für den Kern der Geschichte nicht weiter relevant sind: Name, Beruf, Alter, Nationalität, Lebensumstände etc.

Das Wesen sämtlicher hier beschriebenen Personen sowie die Art ihrer Beziehung zur Protagonistin und mitunter auch untereinander aber entsprechen dem, wie es mir von Katja zugetragen worden ist. Freilich erhebt Katjas Sicht der Dinge keinen Anspruch auf allgemeingültige Wahrheit. Einige an dieser Geschichte Beteiligte beziehungsweise hierin Erwähnte mögen manches anders wahrgenommen und empfunden haben als die Protagonistin.

Die einzige Person, die vollkommen frei erfunden ist, ist die Ich-Erzählerin. Sie ist also nicht mit der Autorin identisch – weder in Bezug auf ihre Lebensumstände noch hinsichtlich ihres Denkens und Handelns.

Auf Wunsch von Katja, die dieses Buch zwar nicht verfasst, aber den Stoff dazu geliefert hat, sei die vorliegende Erzählung ihren Eltern gewidmet.

Für Gustav und Lotte-Lore H., von Katja.

Zur grammatikalischen Geschlechterfrage

Auch wenn ich durchaus Sympathien für eine sämtliche Geschlechter einschließende grammatikalische Form anstelle des generischen Maskulinums hege, habe ich mich doch in Ermangelung einer in meinen Ohren und Augen annehmbaren Alternative für Letzteres entschieden.

Dies gilt natürlich nur für jene Stellen im Text, bei denen das Geschlecht des Personals irrelevant ist, wie zum Beispiel bei der Bezeichnung für die Angehörigen eines Volkes. Aber da haben die Deutschen im Gegensatz zu uns Schweizerinnen und Schweizern ja noch mal Glück gehabt.

Müßig zu erwähnen, dass ich das generische Maskulinum nicht gewählt habe, weil mir das Männliche lieber wäre als alles andere, aber das sollte nach der Lektüre der vorliegenden biografischen Erzählung auch so zum Ausdruck kommen.

1. IM LABYRINTH DER GESCHICHTE(N)

Nie lassen wir uns so vorbehaltlos auf andere Menschen und ihre Geschichten ein, wie dann, wenn unser eigenes Leben aufgelaufen ist.

In jenem Sommer, als ich Katjas Leben betrat, wie eine linkische Statistin die große Bühne, befand ich mich selbst in einem Zustand zwischen Ratlosigkeit und Resignation. Was sollte ich mit meiner Zeit jetzt noch anfangen? Ich war vor Kurzem neunundvierzig geworden, mit Jahrgang 1969 war ich gleich alt wie Katja. Nur, dass ich im Gegensatz zu ihr mein Leben vertan hatte, jedenfalls kam mir das schon nach unserer ersten Begegnung so vor. Ich hatte mich eben von meinem langjährigen Gefährten getrennt, fast genauso uninspiriert, wie ich mit ihm zusammengelebt hatte, und wir blieben Freunde, ohne dass wir das jemals gewesen wären. Er zog in ein Loft nach Zürich-Wollishofen, und ich blieb in der kleinen Wohnung in Kloten, die ich von meinen Eltern geerbt hatte.

Da saß ich also an einem ungewöhnlich warmen Freitagnachmittag Ende Mai 2018 in meinen vier Wänden und durchforschte das Internet nach neuen Jobs, Kleidern, Männern, als auf einmal das Telefon klingelte. Der ungewohnte Klang ließ mich zusammenzucken; wer ruft denn heute noch auf dem Festnetz an? »Ja!«, rief ich unwillig in den Hörer, um dem Anrufer gleich zu verstehen zu geben, dass ich heute weder in Stimmung für Verkaufsgespräche noch für Meinungsumfragen war. »Bist du’s, Brigitte?«, sagte eine rauchige Stimme, die durchaus als männlich hätte durchgehen können, wenn ich Svenja nicht gleich an der Art erkannt hätte, wie sie meinen Vornamen aussprach.

Sie sagte »Brigitt« in der Art, wie wir es auf Schweizerdeutsch aussprechen, ohne »e« am Schluss und mit untermauertem »t«, was bei ihr als Deutsche immer etwas aufgesetzt klang. Aber mein Name war auch das einzige Wort, das sich Svenja auf Schweizerdeutsch auszusprechen bemühte. Ansonsten sprach sie ein überaus gepflegtes Deutsch; man merkte ihr den ostdeutschen Akzent schon lange nicht mehr an, wohl, weil sie sich ihn bewusst abgewöhnt hatte. Ursprünglich stammte sie aus dem Osten Deutschlands, aus Dresden genau. Ich hatte sie anfangs der 1990er-Jahre in einem Hotel im Berner Oberland kennengelernt, wo wir beide für eine Wintersaison angestellt waren, sie als Barfrau, ich als Hotelassistentin.

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als Svenja durch die Eingangstür in die holzgetäfelte Halle des behäbigen Viersternehotels inmitten der Berner Alpen trat: Es war, als hätte sich Homers schöne Helena in die schnöde Realität verirrt. Ich hatte mir die schöne Helena in den nicht enden wollenden Schulstunden meiner Jugend stets mit dunkelblondem Haar und bernsteinfarbenen Augen ausgemalt, so wie diese hier, die durchaus als altgriechisches Ideal von weiblicher Anmut hätte durchgehen können. Sie stellte sich als Svenja M. vor; sie sei so deutsch wie ihr Name, sagte sie, »leberwurstdeutsch«, wie sie lächelnd hinzufügte, und es sei nun an der Zeit, etwas weniger deutsch zu werden. Die Ebenmäßigkeit ihrer Züge verlieh ihr etwas Stolzes, ja geradezu Edles. Das Auffälligste an ihr aber war ihre Haltung; sie bewegte sich, als trüge sie eine Krone auf dem Kopf, was sie noch größer erscheinen ließ, als sie ohnehin schon war. Der Hoteldirektor geriet bei ihrem Anblick ganz aus dem Häuschen, weniger in der Aussicht auf ein amouröses Abenteuer, als vielmehr in Erwartung traumhafter Bar-Umsätze. Letztere sollten sich jedoch nie einstellen, denn obschon die Gäste – vorwiegend die männlichen – erst in Scharen kamen, um sich von der Mund-zu-Mund übertragenen Kunde von der Schönheit der neuen Barfrau höchstselbst zu überzeugen, hielt sich der Gästezulauf danach in Grenzen. Svenja nahm Bestellungen mit demselben gleichmütigen, fast abwesenden Ausdruck entgegen wie Schmeicheleien, Anträge oder Neckereien. Sie hatte, ohne im Mindesten abweisend oder überheblich zu wirken, etwas Erhabenes an sich, was Männer und Frauen gleichermaßen einzuschüchtern schien. Nur mit mir zog sie nach Feierabend manchmal noch um die Häuser; dann tanzten und tranken wir bis in die frühen Morgenstunden, ohne uns je mit anderen Leuten abzugeben oder irgendwelche Typen mit nach Hause zu schleppen. Wir waren uns selbst genug. Am Ende der Saison war der Hoteldirektor froh, uns beide endlich loszuwerden; sie, weil sie alles andere als seine Umsatzzahlen im Kopf hatte, und mich, weil er mir wohl insgeheim die Schuld dafür gab.

 

»Stell dir vor, ich bin in Zürich!«, teilte mir Svenja an jenem viel zu warmen Nachmittag im Mai 2018 am Telefon mit ihrer angenehm rauchigen Stimme mit, was nichts anderes heißen konnte, als dass sie im »Dolder« oder im »Baur au Lac« abgestiegen war. Meist hatte ihr Mann – ein um viele Jahre älterer Italoamerikaner, der in der Nahrungsmittelindustrie zu einem immensen Vermögen gekommen war – für die Familie gleich ein paar Suiten nebeneinander reserviert. Svenja, die ein paar Jahre älter war als ich, war inzwischen schon zweifache Großmutter, und nichts war ihr neben ihrem tiefen Glauben an Gott wichtiger als die Familie. Vorbei die Zeiten, als wir in glitzernden Miniröcken und pinkfarbenen Pumps durch die Berner Nachtläden zogen, dachte ich und starrte auf meine Fußnägel, die gelblich und ungepflegt aussahen. Ob ich mich auch so verändert hatte wie Svenja? Wohl kaum, mein Leben war ja auch weit weniger spektakulär verlaufen als ihres …

»Und«, fragte Svenja, »hast du nächstens Zeit für einen Drink in der ›Schweizerhof‹-Bar? Du weißt schon, das Fünfsternhotel am Zürcher Hauptbahnhof … Katja kommt auch!«

»Ach«, stieß ich überrascht hervor, »deine Freundin, die ominöse Tochter des DDR-Vizeadmirals?«

»Genau die«, erwiderte Svenja, »es wird Zeit, dass ihr euch endlich kennenlernt!«

»Allerdings«, entgegnete ich, »du hast mir ja nur immer in Bruchstücken von ihr erzählt, meist, wenn ihr zusammen auf Reisen wart. Aber ehrlich, ich kann mir unter der Frau immer noch nichts vorstellen, das klingt alles irgendwie so widersprüchlich …«

Svenja lachte. »Das kann ich mir denken«, erwiderte sie, »mach dir einfach am besten selbst ein Bild von ihr. Am Samstagvormittag um elf Uhr in der ›Schweizerhof‹-Bar?«

»Gern«, murmelte ich.

Ich freute mich tatsächlich, Svenja nach all der Zeit wiederzusehen. Wir hörten zwar sporadisch voneinander per Telefon, SMS oder Facebook, aber in Fleisch und Blut hatte ich sie jahrelang nicht mehr gesehen. Auch wenn wir seit jener Wintersaison im Berner Oberland den Kontakt nie ganz abgebrochen hatten, verband uns doch keine so tiefe Freundschaft, wie sie Katja und Svenja miteinander zu unterhalten schienen. Aber auch darüber – über die Art der Beziehung zwischen den beiden Frauen – würde ich mir am Samstag mein eigenes Bild machen können.

Ich erkannte sie sofort, obschon ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Katja platzte, mit mehreren Einkaufstaschen beladen, in die gediegene Atmosphäre der »Schweizerhof«-Bar, als sei sie in höchster Eile. Später würde ich erfahren, dass diese gewisse Atemlosigkeit – der latente Eindruck, dass sie »knapp dran« sei – Teil ihres leicht erregbaren Temperaments war. Immerzu war sie gerade mit etwas beschäftigt, was ihre ganze Aufmerksamkeit und Hingabe erforderlich machte, sodass sie stets etwas erhitzt zu unseren Terminen erschien, auch wenn sie keineswegs angespannt wirkte und ausgesprochen pünktlich war. Sie vermochte sich auf der Stelle und völlig unbefangen auf ihr Gegenüber einzulassen, so wie jetzt, da sie unaufhörlich redend und lachend auf meinen Tisch zusteuerte. Sie hatte Augen wie eine Katze: grünblau oder blaugrau, vielleicht sogar fast türkisfarben, jedenfalls unaufhörlich changierend und von ungewöhnlicher Leuchtkraft. Dazu einen blassen, porzellanenen Teint und halblanges, dunkelblondes Haar.

»Ah, endlich lerne ich dich kennen, Brigitte!«, rief sie, indem sie ihre Einkaufstaschen schwungvoll in einen Ledersessel warf und mich umarmte, als wären wir alte Bekannte. Sie fühlte sich warm und weich an, vertraut irgendwie, so ganz anders als Svenja, die ich im Umgang mit Menschen außerhalb ihrer Familie immer noch als ausgesprochen zurückhaltend empfand. Seltsam, schoss es mir durch den Kopf, obwohl ich Svenja schon so lange kannte, war ich nie wirklich mit ihr warm geworden, und wir hatten uns beide auch nie darum bemüht.

»Svenja hat mal wieder Verspätung«, seufzte Katja mit Blick auf die Uhr, »sie und ihr Mann haben immer allerhand zu tun, wenn sie hier in Zürich sind. Die kennen ja die halbe Welt!«

Die drei Herren am Nebentisch, deutsche Geschäftsleute wohl, unterbrachen ihr Gespräch und musterten Katja leicht irritiert. Auch daran würde ich mich in den nächsten Wochen und Monaten noch gewöhnen müssen, dass Katja, wo auch immer auf der Welt sie sich befand, nie darüber nachzudenken schien, wie ihr Auftreten auf andere Leute wirkte. Sie sprach laut und unverblümt, sagte geradeheraus, wenn ihr etwas nicht passte, und ließ sich von niemandem etwas gefallen. Dabei war sie im persönlichen Umgang überaus liebenswürdig und aufmerksam. Ich hatte noch nie eine Frau getroffen, die gleichzeitig so selbstbewusst und verletzlich war wie sie. Freilich würde mir das erst viel später klar werden, dann, wenn ich um mein eigenes Selbstverständnis in dieser Geschichte würde ringen müssen.

Bei unserem ersten Treffen im »Schweizerhof« fiel mir vor allem eins auf: dass Katja wohl das hatte, was man Sex-Appeal nennt. Die Geschäftsherren nebenan warfen ihr während unseres Gesprächs immer wieder interessierte Blicke zu, und die Art, wie sie darauf reagierte – nämlich gar nicht –, ließ erahnen, dass sie es gewohnt war, die Aufmerksamkeit von Männern auf sich zu ziehen. Wie sehr, sollte ich im Verlauf jenes Sommers erfahren, in dem ich mich so tief in Katjas Leben hineinwühlte, dass ich mich darin fast selbst verlor.

Aber noch war es nicht so weit, noch saßen wir in der gepflegten »Schweizerhof«-Bar und warteten auf Svenja, als würde der erste Akt unserer Begegnung erst mit ihrem Erscheinen beginnen. Währenddessen sagte ich zu Katja im Plauderton – der mir noch nie leichtgefallen war –, Svenja habe mir erzählt, dass ihr Vater ein hochrangiger DDR-Offizier gewesen sei. Was es damit denn genau auf sich habe? Und wie sie, Katja, als »privilegierte Tochter von« die DDR erlebt habe? Wie hätte ich zu jenem Zeitpunkt auch ahnen können, dass wir uns vor den Geschichten anderer Leute in Acht nehmen müssen, wenn wir uns nicht selbst darin verfangen wollen!

Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden Katja und ich an jenem Tag beieinander saßen. Jedenfalls nahmen wir zwischen unseren Gesprächen drei Mahlzeiten ein, ohne uns vom Tisch zu erheben: Sushi am Mittag, Erdbeertörtchen zum Tee und Pasta am Abend. Svenja hatte sich inzwischen telefonisch abgemeldet, was Katja und ich nur noch am Rande zur Kenntnis nahmen, so sehr waren wir in unser Gespräch vertieft. Ja, auch Katja hatte sich von meinem Interesse an ihrer Kindheit und Jugend anstecken lassen und gab bereitwillig Auskunft. Man sah ihr an, wie sie förmlich in ihren Erinnerungen kramte. Ich sagte ihr, dass ich kürzlich einen Dokumentarfilm über Erich Honeckers Enkel Roberto Yañez gesehen hatte.

Ob sie den kenne? Katja lachte laut auf. »Klar kenne ich Roberto!«, rief sie freimütig. »In den 1980er-Jahren habe ich mal mit ihm und Carsten Krenz – dem Sohn von Egon Krenz, du weißt schon, dem zweiten Mann hinter Honecker – im Personalraum eines Hotels in Dierhagen an der Ostsee ›Dirty Dancing‹ gesehen. Das war verbotener Stoff aus dem Westen, Carsten hatte den Film für uns beschafft.« Sie meinte, dass sich die Eliten in der DDR in denselben überschaubaren Kreisen bewegt hätten, wie überall auf der Welt. Nur, dass es in einer egalitären Gesellschaft eigentlich keine Eliten geben dürfte – theoretisch zumindest. Zwar schien Katja H. als Tochter eines Vizeadmirals der Volksmarine weniger abgeschottet aufgewachsen zu sein als Roberto Yañez, der Enkel des Staatsratsvorsitzenden. Aber natürlich hatte auch Katja zahlreiche Privilegien genossen, die allerdings mitunter ihren Tribut gefordert hatten.

So erzählte sie mir, dass sie sich im Alter von sechzehn Jahren während ihrer Gastronomielehre in Leipzig Hals über Kopf in einen jungen Profiboxer verliebt habe. »War das ein hübscher Junge mit schwarzem Haar und schneeweißen Zähnen!« Bedauerlicherweise jedoch hatte der junge Mann eine französische Mutter und somit einen westlichen Hintergrund. Da Katja während ihrer Lehre fern von Rostock in einem Internat wohnte und keine Herrenbesuche empfangen durfte, sah sich die Sechzehnjährige gezwungen, den Jungen heimlich in seiner Wohnung zu treffen. Eines Nachts wurde Katja auf ihrem Heimweg von einem Mann – »offensichtlich einem von der Stasi«, wie sie sagte – vor dem Internat abgefangen. »Sie wissen aber schon, dass Ihr Freund Beziehungen ins westliche Ausland hat?«, stellte der Mann Katja inquisitorisch zur Rede. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: »Beenden Sie diese Beziehung. Sofort!« Katja wandte sich von dem Mann ab, rannte in ihr Zimmer und weinte sich dort die Augen aus.

»Vati hat nie ein Wort darüber verloren. Dabei hat er bestimmt davon gewusst«, sagte Katja jetzt mehr zu sich selbst als zu mir, während sie in der behaglichen »Schweizerhof«-Bar nachdenklich in ihrem Tee rührte. »Mein Vater hat immer zu mir gesagt: Nie einer aus dem Westen, sonst machst du mir alles kaputt, was ich mir hier aufgebaut habe!« Vergessen habe sie den Jungen allerdings nie, fügte Kaja hinzu, und erst viel später habe sie ihn zufällig mal wiedergetroffen. »Niemals aber hätte ich mich widersetzt«, sagte Katja und sah mir direkt in die Augen, »weder dem Befehl des Stasi-Mannes noch dem Wunsch meines Vaters. Ich hatte schon verstanden, warum ich nichts mit einem aus dem Westen anfangen durfte!«

Später an jenem Abend, als ich nach unserem ersten Treffen im Hotel »Schweizerhof« im Zürcher Hauptbahnhof auf den Zug nach Kloten wartete, begann ich das, was mir Katja eben in der Bar erzählt hatte, in Stichworten auf den weißen Rand einer Gratiszeitung aufzuschreiben. Warum tat ich das? Obwohl ich dem Leben anderer Leute schon immer mehr abgewinnen konnte als meinem eigenen, wäre ich nie auf die Idee gekommen, Gehörtes oder Erlebtes zu Papier zu bringen. Als Reisebüroangestellte schrieb ich höchstens ab und an kurze Texte über Feriendestinationen und Hotelanlagen oder verfasste Kundenmailings, was mich nicht einmal sonderlich zu begeistern vermochte. Was war es also, was mich an Katjas Geschichte derart fesselte, dass ich mir die wichtigsten Ereignisse und Eckdaten jetzt notierte? Wohl der Umstand, dass sie als Tochter eines hochrangigen Armeeangehörigen das politische System der DDR anders erlebt haben dürfte, als all die Frauen und Männer, die sich gegen Überwachung und Unterdrückung aufgelehnt hatten. Und die ihren Widerstand oder ihre Fluchtversuche mit Verfolgung, Folter, Haft oder gar ihrem eigenen Leben bezahlen mussten. Da ich in der Zeit der Wende in der Schweizer Hotellerie tätig gewesen war, wo zahlreiche junge Deutsche aus dem Osten – darunter auch Svenja – nach dem Fall der Mauer ihr Glück versucht hatten, wusste ich freilich, dass sich viele von ihnen dem System so gut wie möglich angepasst hatten. Aus dem einfachen Grund, weil sie, mit den Worten von Svenja gesprochen, »ja keine Scherereien mit der Stasi kriegen wollten«. »Wir sind da einfach hineingeboren worden«, hatte Svenja einst achselzuckend auf meine Frage entgegnet, wie sie es nur ausgehalten habe, so lange in Unfreiheit zu leben. Und mit traurigem Lächeln hatte Svenja hinzugefügt: »Meine Großmutter sagte immer, dass, wer die Nazis überlebt hat, auch die Stasi überleben würde. Zwei Tage nach dem Mauerfall war sie tot.«

Am Tag nach unserer ersten Begegnung rief mich Katja überraschend an.

»Hör mal, Brigitte«, rief sie ins Telefon, »ich bin gerade im Auto unterwegs und habe gedacht, dass dich die Familienchronik meines Vaters vielleicht interessieren könnte!«

»Familienchronik?«, wiederholte ich. »Dein Vater hat alles aufgeschrieben?«

 

»Aber ja«, erwiderte Kaja, »sogar in zwei Teilen. Den ersten Teil, der bei seiner Geburt 1931 beginnt, habe ich allerdings nicht bei mir. Komm doch mal auf einen Kaffee bei mir vorbei, dann kannst du gern in der zweiten, neueren Chronik blättern. Die setzt unmittelbar nach dem Mauerfall 1989 ein!«

Ich schwieg. Natürlich hatte ich Lust, Katja wiederzusehen. Ihre Lebensfreude hatte etwas Ansteckendes, und sie war eine begnadete Erzählerin. Andererseits gingen mich ihre Familiengeschichten nichts an, und wie fast alle Menschen hasste ich es, mir Fotoalben oder Tagebücher anderer Leute anzusehen – insofern es sich dabei nicht um jene von namhaften Schriftstellern oder Trouvaillen von besonderer Brisanz handelte.

»Jedenfalls hast du mich gestern inspiriert, selbst mal wieder in alten Unterlagen zu stöbern«, unterbrach Katja die Stille. »Unter anderem habe ich die Zeittafel studiert, die mein Vater ergänzend zur Familienchronik verfasst hat, so quasi als Zusammenfassung derselben. Sie umfasst einen Zeitraum von siebzig Jahren. Ist das nicht verrückt?«

»Allerdings«, entgegnete ich lapidar.

»Na ja«, fuhr Katja fort, »und da habe ich entdeckt, dass ich gestern beim Erzählen einige Orte und Daten durcheinandergebracht habe.«

»Ist doch egal«, entgegnete ich, »für mich war’s einfach interessant, etwas über deine Herkunft und dein Leben in der DDR zu erfahren. Aber schick mir die Zeittafel trotzdem, ich schmökere gern in anderer Leute Vergangenheit!« Ich sagte ihr nicht, dass ich mich noch gestern Nacht beim Nachhausekommen an den Computer gesetzt hatte, um das, was sie mir in der Bar erzählt hatte, fast wortgetreu aufzuzeichnen. Etwas in mir drängte mich, es unverzüglich zu tun; nicht aus Angst, im Lauf der Zeit Bedeutendes zu vergessen, sondern um mir beim Schreiben noch einmal die Stationen ihres Lebens zu vergegenwärtigen – so, wie wenn man einen spannenden Film gleich zweimal hintereinander sehen will, um besser auf die Details zu achten, denen man beim ersten Mal nicht genug Beachtung schenken konnte.

Daher nahm ich Katjas Vorschlag, mir die Zeittafel zu schicken, auch dankend an, um die eigentümliche Grundmelodie dieses mir so fremden Leben strukturieren zu können, um eine Art von Übersicht zu gewinnen. Katja mailte mir die Zeittafel, die ihr Vater in zeitaufwändiger Detailarbeit angefertigt haben musste, gleich nach unserem Telefongespräch zu. Das Bedürfnis, ja der innere Drang des Gustav H., seine eigene Existenz und diejenige seiner Nächsten akribisch in Worten und Daten nachzuzeichnen, übertraf alles, was ich in privaten Archiven je gesehen hatte – zu meinem Glück. Ich ergänzte die Aufzeichnung, die ich gestern von Katjas Schilderungen gemacht hatte, mit den fehlenden Angaben und druckte anschließend das Dokument aus, um es aufs Nachttischchen zu legen wie eine Verheißung – oder wie ein »Bettmümpfeli«, wie wir auf Schweizerdeutsch sagen. Vor dem Schlafengehen würde ich das ganze in aller Ruhe noch einmal nachlesen, es erhob mich höher über meine eigene Wirklichkeit als jeder Traum.