Seelenfeuer

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Seelenfeuer
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Cornelia Haller

Seelenfeuer

Bodensee-Roman


Zum Buch

Eine junge Frau, die für ihre Heilkunst büßen muss: ein großer historischer Roman. Die neunzehnjährige Luzia Gassner führt als Hebamme ein beschauliches Leben am Bodensee. Doch als ihre Mutter im Jahr 1483 stirbt, muss sie deren Nachfolge als Wehmutter von Ravensburg antreten. Dabei verlässt sie sich bei ihrer Arbeit nicht auf Gebete, sondern auf die Kräuterheilkunde und ihren medizinischen Sachverstand, den sie durch die Freundschaft zu dem jungen Medicus Johannes von der Wehr mehrt. Mit Bilsenkraut und beherztem Eingreifen rettet sie vielen Frauen und Neugeborenen das Leben. Damit fordert sie aber auch den Hass des mächtigen Kaplans heraus. Als ein Hagelunwetter und die Pest die Stadt verwüsten, ergreift der Kaplan die Gelegenheit, Luzia als Hexe anzuklagen. Einzig ihr Onkel und Johannes von der Wehr glauben an ihre Unschuld. Doch werden sie Mittel und Wege finden, Luzia vor dem Scheiterhaufen zu retten?

Cornelia Haller wurde 1966 in Immenstaad am Bodensee geboren. Sie stammt aus einer Familie, in der das Geschichtenerzählen Tradition hat. Vom Schreiben geträumt hat sie lange, verfasste zunächst Kurzgeschichten und schließlich ihren ersten Roman. Sie kocht gerne für die Familie und gute Freunde oder geht zum Skifahren in die nahen Alpen. Zu Recherchezwecken reist sie gerne und viel. Die Autorin ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt am Bodensee – eine Quelle der Inspiration für ihre historischen Romane.

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Alle Rechte vorbehalten

»Seelenfeuer« erschien erstmals 2012 beim Hoffmann und Campe Verlag

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung von: Digital image courtesy of the Getty’s Open Content Program: Joris Hoefnagel (Flemish / Hungarian, 1542–1600), Hyssop, Insect, and Cuckoo Flower, 1561–1562, Ms. 20 (86.MV.527), fol. 124, The J. Paul Getty Museum, Los Angeles, Ms. 20, fol. 124;

Basil Thyme, Insect, and Herb Robert, 1561–1562; Ms. 20 (86.MV.527), fol. 126, The J. Paul Getty Museum, Los Angeles, Ms. 20, fol. 126;

Lily-of-the-Valley, Pupa, and Land Snail, 1561–1562; Ms. 20 (86.MV.527), fol. 123, The J. Paul Getty Museum, Los Angeles, Ms. 20, fol. 123

ISBN 978-3-8392-6842-1

Widmung

Für Andreas

1

Mit aller Kraft stemmte sich Luzia gegen den eisigen Atem des bitterkalten Christmondwinds. Ein Fortkommen war beinahe unmöglich, weil der Sturm die zarte Haut ihrer Wangen mit winzigen Eiskristallen malträtierte und an ihren Röcken zerrte. Mit steifen Fingern zog sie das wollene Tuch enger um die Brust. Die junge Wehmutter ärgerte über sich selbst, weil sie in der Eile des Morgens keine Laterne mitgenommen hatte. So war es kein Wunder, dass sie bereits zum zweiten Mal über eine schneebedeckte Wurzel stolperte. Doch die Zeit drängte, und an Umkehr war nicht zu denken.

Noch schlief die kleine Siedlung am Ufer des Bodensees tief und fest, nur der Wind und sie lieferten sich einen erbitterten Kampf, dessen Sieger noch lange nicht feststand. Während der Sturm erste Strähnen aus dem schweren Zopf löste, mit dem Luzia ihr fuchsrotes Haar in der Eile des Morgens gebändigt hatte, kam sie wieder ins Rutschen und fiel in den eisigen Schnee.

Keuchend erhob sie sich, um ihren beschwerlichen Weg fortzusetzen. Die dicke Schneedecke überzog die ausgetretenen Wege und glitzerte auf den weit hinabgeneigten Dächern. In der Dunkelheit wirkten die niedrigen Häuser wie bucklige, alte Weiber, deren Lebenslasten allzu schwer geworden waren.

Dort, wo sich die schmale Gasse gabelte, blickte Luzia hoffnungsvoll zum östlichen Horizont, obwohl sie wusste, es würde noch Stunden dauern, ehe das Licht des neuen Tages den schwarzen Fluten des winterlichen Sees entsteigen würde. Auf den Brachflächen zwischen den Häusern streckten Weiden ihre Äste wie gewaltige schwarze Finger in den düsteren Himmel. Ohne Laub wirkten sie knorrig und uralt. Der gefrorene Hauch des Frostes glitzerte im fahlen Mondschein, der manchmal zwischen den dunklen, fast schwarzen Schneewolken hervorschaute.

»Der volle Mond bringt die ungeborenen Seelen. So ist es schon seit Anbeginn der Zeit.« Die Worte der Tante formten sich in Luzias Kopf. In Gedanken gab sie Elisabeth recht. Die meisten Kinder machten sich in Vollmondnächten auf den Weg ins Leben.

Wenn sich also das Kind der Korbmacherin entschlossen hatte, an diesem unwirtlichen Christmondtag zur Welt zu kommen, so war es nur recht, wenn sie der werdenden Mutter in ihrer schwersten Stunde beistand. In der abgegriffenen Hebammentasche, die sie an ihren Körper presste, um sie vor der Nässe zu schützen, fanden sich deshalb neben einem Gefäß mit Schmalz die wichtigsten Heilpflanzen. Sie waren den Hebammen heilig. In jedem einzelnen Kraut verschenkte die Erdenmutter ihre Seele zum Wohl der Menschen.

Bald hatte Luzia den Schutz der Häuser verlassen und kämpfte sich durch kniehohen Schnee den leicht ansteigenden Weg hinauf.

Als sie, halbblind von den Schneeflocken, die ihr in den Augen brannten, ein weiteres Mal zu Boden stürzte, wäre sie am liebsten liegen geblieben. Um überhaupt etwas sehen zu können, schob sie sich das schneenasse Haar unter die Haube. Nur mühsam und unter Ächzen erhob sie sich wieder.

Wenn wenigsten Nepomuk bei ihr wäre. Aber der faule Pelz lag zusammengerollt auf der warmen Winterdecke am Fußende ihres Bettes. Bei schönem Wetter begleitete der rabenschwarze Kater die Wehmutter überall hin, und während sie in den Häusern ihrer Arbeit nachging, erleichterte der flinke Räuber Seefelden um ein paar fette Mäuse.

Hinter einer scharfen Biegung schien der Weg plötzlich zu enden. Während Luzia verwirrt stehenblieb, fragte sie sich, ob sie sich im dichten Schneetreiben verlaufen hätte. Noch immer misshandelten die scharfen Eiskristalle ihr Gesicht und ihre blaugefrorenen Hände. Wie alle Rothaarigen besaß auch Luzia eine sehr helle, zarte Haut. Ihre erinnerte an frische Milch. Weiß, rein und fast ohne eine Sommersprosse.

Verunsichert sah sie sich um, ehe sie ihren Weg langsam fortsetzte. Die eiskalte Luft brannte in ihren Lungen und machte das Atmen fast unmöglich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ein erschöpftes Schluchzen bahnte sich den Weg durch ihre Kehle.

Da! War das nicht das langgezogene Heulen eines Wolfes? Die Angst fuhr Luzia wie eine eisige Klinge durch die Eingeweide, und trotz der Kälte spürte sie, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Also war sie doch vom Weg abgekommen! Schließlich wäre sie in diesem Winter nicht die Erste. Ein paar Männer aus dem Dorf hatten erst gestern den Braunwart Sepp aus dem Schnee gezogen. Auch er war den falschen Weg gegangen und im tiefen Schnee erfroren. Die Wölfe hatten den Leichnam bereits so übel zugerichtet, dass selbst Pater Wendelin beim Anblick des Toten erschrocken war. Abermals hallte das Heulen mehrerer Wölfe vom nahen Wald her. Während ihr das Blut in den Ohren rauschte, hinderte sie lähmende Angst am Weitergehen.

»Geh weiter! Du bist auf dem rechten Weg!«, drang das kaum wahrnehmbare Flüstern an ihr Ohr. Die Schneeflocken glitzerten auf einmal wie verzauberte Kristallsterne. Perchta, die uralte Erdenmutter, die Hüterin der Elemente und des Wetters, war ihr also gnädig.

»Große Mutter, Quelle der ungeborenen Seelen, danke, dass du mir den sicheren Weg weist«, flüsterte Luzia dankbar.

Mit frischer Hoffnung stapfte sie weiter. Jetzt würde sie den Weg schaffen, und da vorne, war das nicht bereits die Schmiede, die ihr warmes Licht durch den dichten Vorhang aus Schneeflocken zu ihr sandte? Wenn sie erst bei der Schmiede angekommen war, war der Weg nicht mehr weit.

Ihre Gedanken eilten voraus und waren bereits bei der Frau des Korbmachers. Hoffentlich würde Anselma die Geburt gut überstehen. Und das Kind?

Irgendwo verfing sich der Wind in einem offenen Scheunentor und begann ein trauriges Lied anzustimmen.

Nach wenigen Schritten erreichte sie das Haus des Schmieds Sie hatte sich nicht getäuscht. Dort wurde schon gearbeitet. Luzia reckte ihren Hals, um durch die schmale, kleine Fensterluke zu spähen. In der Esse brannte bereits ein warmes, fröhliches Feuer.

Also hatte Matthias vor nicht allzu langer Zeit denselben Weg zurückgelegt wie sie. Diese Gewissheit wärmte ihr das Herz. Sie lehnte sich im Windschatten an das Fenster, um für einen Augenblick neue Kraft zu schöpfen.

Matthias war Geselle in der alten Schmiede. Daheim in der Fischergasse wohnten Luzia und er Haus an Haus. Sein Vater fuhr genau wie Luzias Onkel Jakob als Fischer auf den Bodensee hinaus, um Tag für Tag die Ernte des Wassers einzubringen. Vor sechs Jahren hatten sie sich kennengelernt, kurz, nachdem sie zur Frau geworden war und ihre Mutter sie aus Ravensburg weggeschickt hatte. Dreizehn war sie damals gewesen.

 

Matthias war für Luzia wie der große Bruder, den sie nie gehabt hatte. Sie mochte ihn sehr. Sein Humor vermochte selbst in der dunkelsten Stunde ein Licht zu entzünden. Luzia liebte ihn für seine Wärme und für die Gabe, ihr in den unmöglichsten Situationen ein Lächeln zu entlocken. Für all seine Unbeschwertheit und Fröhlichkeit. Er war breitschultrig und groß gewachsen und wirkte wie ein gutmütiger Bär.

Oft glitzerten seine braunen Augen vor Übermut, dann sah Luzia einen kleinen Jungen vor sich und manchmal lachte er so albern, dass sie nur den Kopf schütteln konnte. Luzia fand schon immer, dass Matthias irgendwie von innen heraus strahlte. Wie es die Esse tat oder die Sonne.

Sie hatte ihn vom ersten Tag an gemocht, denn er hatte zu den Wenigen gehört, die sie vor sechs Sommersonnwenden nicht wegen ihres Haares angestarrt hatten, als gäbe es nichts anderes zu sehen. Damals war ihr Haar noch von einem geradezu leuchtenden Rübenrot gewesen. Mit der Zeit war ein warmes, strahlendes Fuchsrot daraus geworden.

Mittlerweile waren beide dem Jugendalter entwachsen. Während Luzia gerade ihren neunzehnten Winter erlebte, zählte Matthias schon etwas über zwanzig Sommer. Dennoch glaubte sie manchmal, dass er wohl nie erwachsen werden würde. Sie seufzte, dann machte sie sich wieder auf den Weg. Noch ein paar Minuten, und sie würde das Haus der Korbmacher erreichen.

»Luzia! Luuziia!«

Zunächst hörte sie Matthias’ Rufe gar nicht. Erst als er mit wenigen Schritten seiner langen Beine hinter ihr stand und abermals rief, drehte sie sich um.

»Gott zum Gruße, Luzia!«, sagte Matthias mit einem fröhlichen Lachen. Dabei strich er sich die braunen Locken aus den Augen. Ein paar Schneeflocken hatten sich bereits in seinen Wimpern verfangen. »Dachte ich es mir doch, zu dieser frühen Stunde kämpft sich entweder der Pfarrer oder die Hebamme durch den Schnee, und weißt du was?«, fragte er lachend.

Luzia schüttelte den Kopf.

»Ich freue mich, dass du es bist und nicht Pater Wendelin.«

»So, und warum, wenn ich fragen darf?«, neckte Luzia ihn. »Fürchtest du dich am Ende davor, dass der Gute dir schon vor der Morgensuppe die Leviten liest? Oder was hast du sonst gegen Pater Wendelin einzuwenden?«

Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich …, nein, vor dem Pater fürchte ich mich bestimmt nicht! Schließlich bist du weitaus strenger mit mir«, beeilte er sich zu sagen. »Aber über Pater Wendelins Besuch hätte ich mich eben nicht halb so gefreut wie über deinen.« Voller Übermut breitete er seine Arme aus und lachte wie ein kleiner Junge.

Luzia verdrehte ihre Augen. »Statt den ganzen Tag an der Esse zu stehen, um mit Feuer und Wasser zu spielen, wäre dein Platz wohl eher bei den Gauklern«, lachte sie. »Aber jetzt muss ich weiter.« Sie raffte ihr Wolltuch vor der Brust zusammen.

Matthias’ raue Schmiedhände griffen nach ihren blaugefrorenen Fingern. »Du bist ja völlig durchgefroren! Wo um Gottes willen wird in dieser Herrgottsfrühe und bei diesem Wetter nach dir verlangt?«, rief er besorgt.

»Der Korbmacher war bei mir, seine Frau liegt in den Wehen. Er klang sehr verzagt, und mein Gefühl sagt mir, dass ich mich beeilen sollte, sonst kommt das Kind ohne mich zur Welt. Und dann steh uns der Herrgott bei!«

Matthias nickte. »Wenn du dir schon nicht an meiner Esse die Finger wärmen willst, hole ich dir wenigstens meinen Mantel. Dieses windige Tuch«, dabei griff er an Luzias Schultertuch, »schützt wohl kaum gegen diesen Wintersturm, außerdem ist es völlig durchnässt.«

Luzia wollte abwehren, doch er zog sie hinter sich her in die Schmiedewerkstatt. Sie blieb in der Tür stehen und klopfte sich den Schnee aus den Kleidern, bis Matthias mit einem Mantel aus dickem Wolltuch über dem Arm aus der kleinen Kammer neben der Schmiede kam. Fürsorglich legte er ihn um ihre Schultern.

»Danke, so ist es wirklich besser.« Luzia schenkte ihm ein letztes Lächeln: »Auch wenn ich mich gern auf ein Wortgefecht mit dir einlassen würde, um dich am Ende wie immer zu besiegen, muss ich mich jetzt wirklich beeilen. Ich wünsche dir einen schönen Tag. Auf bald …!«

Matthias nickte und brachte sie zur Tür.

»Ich wünsche dir ebenfalls einen guten Tag, und dass die Korbmacherin ein gesundes Kind bekommt!«, rief er ihr nach.

Luzia nickte dankbar, aber das konnte der junge Schmied schon nicht mehr sehen. Das dichte Schneetreiben hatte sie bereits verschluckt.

Das kleine, frei stehende Häuschen in der Eckgasse wirkte bereits ein wenig windschief und baufällig. Wie die anderen Häuser in Seefelden war auch die Unterkunft der Korbmacher aus unregelmäßigen Steinen und wettergegerbtem Fachwerkgebälk errichtet. Rechts schmiegte sich ein wackliger Holzverschlag an die krumme Außenmauer. Die Eckgasse bildete Seefeldens Grenze, bevor die ersten Felder kamen und der Wald begann.

Weil die Fensterluken mit einer Schweinsblase und grob gezimmerten Läden verschlossen waren, drang lediglich ein schmaler Lichtstreifen durch die fingerbreiten Ritzen, dennoch war das Leuchten anheimelnd.

Noch bevor die junge Wehmutter den Türklopfer betätigte, schwang die Tür bereits auf. Irmtraud stand vor ihr. Sie war um die Dreißig und wohnte im Nachbarhaus. Sie half bei der Geburt, weil sie selbst drei Kinder hatte, doch Luzia ahnte bereits, dass die kindlich wirkende Frau mit ihrer Aufgabe überfordert war.

»Dem Himmel sei Dank, dass du endlich da bist!« Die Erleichterung über Luzias Eintreffen stand Irmtraud ins Gesicht geschrieben. Völlig aufgelöst und mit hochroten Wangen stand sie vor Luzia und jammerte: »Ich glaube nicht, dass Selma das überleben wird! Wir sollten besser gleich Pater Wendelin holen lassen!«

Dabei machte Irmtraud immer noch keine Anstalten, Luzia ins Haus zu lassen, sondern klagte unentwegt weiter: »Der Himmel steh uns bei! Glaub mir, die Umstände sind nicht günstig! Ein solcher Sturm zum vollen Mond und das auch noch so kurz vor den Rauhnächten – die Zeichen stehen nicht gut! Gallus, der alte Sterndeuter zu Überlingen, will gar schon einen Schweifstern gesehen haben!«

Großer Gott, Luzia mochte dieses aufgeregte Geplapper überhaupt nicht. Sie seufzte, während sie Irmtraud entschlossen zur Seite schob, um endlich in die Stube zu gelangen. Sie wusste, dass der Sturm kurz vor den Rauhnächten die Leute das Fürchten lehrte. Ein wenig unheimlich waren die Nächte zwischen der Thomasnacht am 21. Dezember und dem Epiphaniastag am 6. Januar ja auch. Seit jeher galten die Tage zwischen den Jahren als verwunschene Zeit. Nie war der Schleier zwischen den Welten dünner. Die Geister der Toten trieben in diesen Nächten ihr Unwesen. Im tobenden Sturm, aber auch in den dicken Nebelschwaden, die in den Herbst- und Wintermonaten den Bodensee oft tagelang unsichtbar werden ließen, fürchtete man die Grenze zu überschreiten. Die Grenze zur Anderswelt, die Schwelle zum Jenseits.

Stuben und Ställe wurden um diese Zeit mit einer Mischung aus Wacholderholz und getrockneten Holunderblüten geräuchert. Das heilige Holz der Perchta, die den Leuten vom See neben dem christlichen Glauben heilig war, reinigte die Wohnstätten von Mensch und Tier. Ebenso die Wege und Pfade der Umgebung. Die umherirrenden Seelen derer, die ungetauft gestorben waren, konnten im heiligen Rauch Perchtas endlich ihre Ruhe finden.

Nach altem Glauben besaßen Kinder, die in dieser Zeit zur Welt kamen, oft das Zweite Gesicht. Ihnen wurde nachgesagt, sie könnten Geister und Dämonen sehen.

Auch wenn Sturm und Schnee unheimlich waren, glaubte Luzia nicht, dass sie den Hergang der Geburt beeinflussen würden. Sie trug jede Niederkunft auf einem Pergament ein. Pater Wendelin gab ihr jedes Jahr einige Bögen davon und ermutigte sie, jeden Tag ein paar Zeilen zu schreiben.

Durch ihre Aufzeichnungen wusste die Hebamme, dass die allermeisten Kinder um den vollen Mond zur Welt kamen und dass im Winter weit mehr Kinder starben als im Sommer. Aber zur Zeit der Rauhnächte war es noch nie zu einer Häufung der Todesfälle gekommen.

In den Jahren ihrer Hebammentätigkeit hatte Luzia schon Schlimmes erlebt. Auch dieser Entbindung begegnete sie mit größtem Respekt, doch Jammern hatte noch nie geholfen. Ehe Irmtraud also ihrer Angst noch mehr Futter geben konnte, berührte Luzia sanft den Arm der aufgebrachten Frau. Schon als Kind konnte sie allein durch eine Berührung die Gefühle und Gedanken ihrer Mitmenschen miterleben. Wellen der Trauer oder des Schmerzes brandeten bisweilen an die Ufer ihrer Seele. Manchmal fluteten sie Luzias Herz und zogen es in die Tiefe. Hass und übelwollende Gedanken brachten sie oft an die Grenzen des Ertragbaren. Dann glaubte sie selbst in Flammen zu stehen, so weh taten ihr die fremden Empfindungen. Im Kindesalter hatte Luzia auch gemerkt, dass ihre Hände Schmerz lindern und Trost spenden konnten. Gefürchtet hatte sie sich erst, als während ihres Heranwachsens auch andere Sinne die Hellsichtigkeit ihrer Hände erlangten. Ein Leben lang würde sie sich daran erinnern, als sie Azrael das erste Mal gesehen hatte. Seither begegnete sie dem dunklen Engel immer, wenn er die Seele eines Sterbenden heimbrachte. Die Mutter, der sich Luzia aus Angst anvertraut hatte, war dem »Teufelszeug« und der Andersartigkeit ihrer Tochter nicht gewachsen gewesen. Sie hatte den »Fluch ihrer Hände« immer ihrem Starrsinn zugeschrieben und war ihm mit der Rute begegnet. Erst Elisabeth hatte sie gelehrt, dass der »Fluch« ein einzigartiges Geschenk sei. Ein Segen aus der Hand Gottes.

»Nun mal ganz langsam!«, sagte Luzia und verstärkte leicht den Druck auf Irmtrauds Arm, um sie zu beruhigen. »Ich glaube, es ist das Beste, wenn du mich jetzt gleich zur Korbmacherin bringst. Erst wenn ich Anselma selbst gesehen habe, kann ich mir ein Bild vom Stand der Geburt machen.«

Irmtraud nickte abwesend, sie spürte ein ungewohntes Kribbeln auf ihrem Oberarm. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr viel ruhiger, und ihr Gefühl sagte ihr, dass sie Luzia vertrauen konnte. Während sich ihre Angst löste, verloren Unwetter und Rauhnächte etwas von ihrem Schrecken.

»Ja, natürlich, aus diesem Grund bist du ja hier! Mit deiner Unterstützung wird es schon gutgehen«, sagte Irmtraud und forderte Luzia auf, ihr in die Kammer gegenüber der Eingangstür zu folgen.

Beim Eintreten in die kleine Kammer der Korbmacherin wallte Luzia eine Schwade abgestandener Luft entgegen. Sie roch den scharfen Dunst von Schweiß und von Blut. Mehrere Kohlebecken wärmten den niedrigen Raum. Wände und Decke der kleinen Stube waren schwarz vom vielen Lampenruß. Die einzige Lichtquelle war ein Feuer im offenen Kamin.

»Gott zum Gruße, alle miteinander.« Luzias Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Unter ihren Füßen spürte sie die Binsen, die den unebenen Boden bedeckten. Gegenüber der Tür standen dreibeinige Schemel, die man dort für die Nachbarsfrauen und die Altmutter aufgestellt hatte. Eine Geburt war kein einsames Ereignis.

Luzias Blick flog zur Bettstatt aus hellem Fichtenholz, das rechts an der Wand stand. Dort lag Anselma, deren Darm sich in diesem Augenblick geräuschvoll entleerte. Die andere der beiden Nachbarsfrauen, Sieglinde, die Frau des Flickschneiders, zog das schmutzige Laken unter dem Körper der Gebärenden weg. Sie verzog das Gesicht vor Ekel und Angst und verließ rasch die Kammer. Irmtraud nahm auf einem der Schemel Platz und machte sich daran, das Ave Maria zu beten. Die alte Wachterin, die Schwiegermutter der Gebärenden, ließ ein mürrisches Murmeln hören:

»Wird auch Zeit, dass du endlich da bist! Hat lang genug gedauert!«

Luzia nickte ihr nur kurz zu und trat an das Bett heran.

Anselma Wachter lag völlig erschöpft auf dem mit Schilf und getrocknetem Seegras gefüllten Sack, der ihr als Matratze diente. Von der großen Anstrengung war ihr Gesicht verquollen und rot. Die helfenden Frauen hatten bereits vorsorglich Anselmas langes Haar gelöst, wie es Brauch war. Sie hofften, so die gefürchteten Knoten in der Nabelschnur abzuwenden. Feucht und schwer klebten die goldblonden Strähnen der jungen Korbmacherin an ihren Schläfen.

»Die Selma stöhnt und jammert, als ob sie die einzige Frau auf dieser Erde wäre, die jemals ein Kind bekommen hat!«, meldete sich die Wachterin hinter Luzias Rücken zu Wort.

»Vergesst nicht, für sie ist es das erste Mal«, antwortete sie.

»Die soll sich nicht so anstellen«, murrte die alte Frau weiter. »Glaub mir, ich selbst habe fünf Kinder geboren. Auch Selma wird es überleben.«

 

»Dann wisst Ihr ja sicher auch, dass jede Geburt ein bisschen anders verläuft.« Luzia wurde zunehmend ungeduldig. Wie sollte sie der Korbmacherin helfen, wenn ihr ständig jemand dreinredete?

Sie beugte sich über die junge Frau. »Anselma, du wirst sehen, alles wird gut!«, versprach Luzia so selbstsicher, wie es ihr möglich war. Die junge Wachterin nickte schwach. Luzia hoffte im Stillen, dass wirklich alles gut werden und das Gefühl, das sich ihr aufdrängte, seit sie die Kammer betreten hatte, wieder weichen würde. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht schneller gekommen war und durch das Gespräch mit Matthias vielleicht lebenswichtige Zeit verloren hatte.

»Nun, was sagst du?« Mit diesen Worten packte die Altmutter Luzias Arm. Ohne es verhindern zu können, schoss eine gewaltige Welle Ungeduld und Furcht durch Luzias Leib.

»So habt doch Geduld und lasst mich meine Arbeit tun!«, gab Luzia zurück. Sie hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren.

Die Wachterin wagte nicht, ihr zu widersprechen. Mit lauten Schritten stampfte sie zur Tür hinaus.

Mit jeder neuen Wehe, die über ihren Körper hinwegrollte, schrie die junge Korbmacherin laut auf und krallte die Finger in den Strohsack. »Das hier ist die Hölle«, stöhnte Anselma zwischen zwei Wehen.

Hinter sich hörte Luzia, wie Irmtraud und Sieglinde laut beteten, ansonsten rührten sie sich nicht von der Stelle. Luzia wusste, jetzt musste schnell etwas geschehen, sonst würden die Klageweiber die werdende Mutter mit sich in die Tiefe ziehen.

»Zuerst brauche ich mehr Licht. So kann ich beim besten Willen nichts sehen!«

Irmtraud sprang auf und eilte hinaus.

»Und du bringst mir heißes Wasser und ein Leinen«, scheuchte Luzia die magere Frau des Flickschneiders auf.

Auf Sieglindes Gesicht machte sich Erleichterung breit. Sie war froh, eine Aufgabe zu haben und das Zimmer verlassen zu können.

»Luzia, ich bitte dich, so hilf mir doch! Ich glaube nicht, dass ich den Sonnenaufgang noch erleben werde«, flehte die werdende Mutter mit leiser Stimme, dabei wirkte sie so müde und kraftlos, dass Luzia sich ernsthafte Sorgen machte. Anselmas Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Unheilvoll kündigte sich bereits die nächste Wehe an. Irmtraud kam mit zwei Talglichtern ans Bett, und Luzia konnte besser sehen, wohin ihre Hände griffen.

»Ich halte diesen Schmerz nicht mehr länger aus! Bitte mach, dass es aufhört«, bettelte Anselma hilflos, bevor sie in dem vergeblichen Versuch, den Schmerz zu ersticken, die Luft anhielt.

Luzia nickte ihr zu, ihre Hände, die immer noch kalt und steif waren, fanden ihren Weg zu Selmas Bauch. Behutsam legte die Wehmutter ihre Handflächen auf die heiße, zum Bersten gespannte Haut. Sie spürte den kühlen Schauer, der die Gebärende durchlief. Mit einem Ausatmen lehnte Anselma sich zurück in das Kissen, ihre Anspannung ließ leicht nach. Luzias Hände lagen immer noch auf Selmas Bauch, und nun setzte ein wohliges Kribbeln unter ihren Händen ein. Während Anselmas Schmerz durch ihren eigenen Leib strömte, schloss die junge Wehmutter die Augen. Bald löste sich die Gebärende aus dem eisernen Griff der Angst.

Luzia sah Anselmas fragenden Blick. Was war da gerade mit ihr geschehen?, fragte dieser Blick. Und woher kam das helle Glitzern in den Augen der Hebamme? Luzia spürte, dass Anselmas Schmerz erträglicher wurde, und schöpfte neuen Mut.

Jetzt durfte Luzia keine weitere Zeit mehr verlieren. Ihre kundigen Finger tasteten behutsam und fest zugleich. Stück für Stück wanderten sie über Anselmas Bauch. Wo die Wehmutter die kleinen Füße des Kindes spüren sollte, befand sich der lange, fast ausgestreckte Rücken. Während sich der, Kopf auf der rechten Bauchseite der werdenden Mutter abzeichnete, befanden sich die Füße links. Das Kind lag falsch! Aus dieser Lage konnte es niemals geboren werden. Solange das Kleine quer im Mutterleib lag, waren die Wehen wirkungslos. Einzig eine Drehung konnte bewirken, dass sie ihren Zweck erfüllten und dem Kind ans Licht der Welt halfen. So brachten sie Anselma nur sinnlose Qualen. Wenn jetzt nichts geschah, würden die Wehen bald schwächer werden und dann würden sie wirklich Pater Wendelin brauchen. Luzia spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat.

»Große Mutter, steh uns bei! Ich bitte dich, hilf mir und führe meine Hände«, betete Luzia stumm.

Sie erschrak, als sie die tanzenden Schatten an der Wand entdeckte. Schwarz und unheimlich krochen sie immer näher. Luzia meinte, sie kichern zu hören.

Entschlossen rief sie nach der alten Wachterin und reichte ihr ein kleines, prall gefülltes Flachsbeutelchen. »Das ist Beifußkraut. Bereitet daraus einen sehr starken Aufguss, rasch! Wenn Ihr etwas weißen Wein im Haus habt, wäre das noch besser als Wasser.«

Das schwere, erdige Aroma des Beifußes breitete sich schnell in der niedrigen Kammer aus. Flink warf die Hebamme ein paar Samen des Bilsenkrauts in den dampfenden Becher und gab ihn Anselma zu trinken. Bilsenkraut nahm den Schmerz und entführte den Geist in selige Welten. Zuviel davon brachte allerdings den Tod! Als sie sicher sein konnte, dass die leicht berauschende Wirkung Selma beruhigt hatte und ihr weher Leib betäubt war, fettete Luzia ihre Hände mit Schweineschmalz. Vorsichtig, ganz behutsam glitten ihre Hände in Anselmas Leib. Die Wehen hatten dafür gesorgt, dass sich die Geburtswege unter Luzias Händen weich und weit anfühlten. Dank des Bilsenkrauts verspürte Anselma nur ein leichtes Ziehen im Leib. Obwohl sie ahnte, was die Hebamme tat, dass ihre Hände sich an einem Ort befanden, den nicht einmal sie selbst berührte, lag Anselma völlig still.

Luzia wollte versuchen das Kind im Mutterleib zu drehen. Sie fühlte den kleinen, festen Kopf, einen kleinen Arm und ein angezogenes Beinchen. Schweiß floss ihr in einem dünnen Rinnsal von der Stirn, den Hals entlang und sammelte sich zwischen ihren Brüsten. Ein paar Strähnen ihres roten Haares klebten feucht an ihren Schläfen. Der kupferartige Geruch von Blut stieg ihr in die Nase. Luzia griff nach dem Köpfchen, um es nach unten zu drehen. Gleichzeitig versuchte sie den winzigen Körper dazu zu bringen nach oben zu gleiten. Doch immer wenn sie glaubte, jetzt könnte es ihr gelingen, drehte sich das Kind zur Seite. Ähnlich einem kleinen Fisch entglitt ihr das Ungeborene wieder und wieder. Wenn sich das kleine, aalglatte Körperchen einen Zentimeter bewegen ließ, rutschte es im nächsten Augenblick wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. Luzia wusste, dass allmählich die Zeit knapp wurde. Anselma wurde zunehmend unruhig, denn die Wirkung des Bilsenkrautes ließ schon wieder nach. Allzu oft durften ihre Versuche jetzt nicht mehr misslingen. Aus den Augenwinkeln sah Luzia, wie die finsteren Schatten über die Wände leckten und sie verhöhnten. »Bist eine dumme Gans«, geiferten sie im Chor.

Als sie erneut den kleinen Kopf nach unten drehen wollte, spürte sie, dass die Nabelschnur um den Hals des Kindes lag. Das Kind würde sterben, wenn es nicht bereits tot war. Welch eine Ironie, wenn die pulsierende Lebensader gleichzeitig den Tod brachte. Ihr schwand der Mut.

»Großer Gott, hilf uns! Du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen.« In einem letzten Versuch gelang es ihr, einen Finger zwischen den winzigen Hals des Ungeborenen und die todbringende Schlinge zu bringen.

Luzias Mund fühlte sich an, als habe sie Sand gegessen. Als sie auf ihre Unterlippe biss, schmeckte sie warmes Blut auf ihrer Zunge. Es verursachte ihr fast Übelkeit. Doch nun spürte sie auch das Pulsieren der Nabelschnur. Das Kind lebte!

Jetzt zählte jeder Augenblick. Jeder hoffnungsvolle Atemzug. Jeder wertvolle Herzschlag. Hinter ihr leierten die alte Wachterin, Irmtraut und Sieglinde ihre Gebete herunter: »Ave Maria, gratia plena … Sancta Maria, Mater Dei …« Luzia spürte ihre Blicke auf sich ruhen. Auch ihnen war nicht entgangen, dass die Zeit verran.

»Gib nicht auf, du bist auf dem rechten Weg!«

Luzia hob ruckartig den Kopf und sah auf die Feuerstelle. Das Flüstern war aus den Flammen gekommen. Ein kaum sichtbares Lächeln umspielte ihren Mund.