Reise Know-How ReiseSplitter Jesus liebt Radfahrer – Navid auch

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Reise Know-How ReiseSplitter Jesus liebt Radfahrer – Navid auch
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Jesus liebt Radfahrer
– Navid auch

Wie uns Gottgesandte, Waffennarren und Warmduscher aus der Klemme halfen

Claudia Hildenbrandt

Daniel Mathias



FÜR DAS DRITTE IM BUNDE. UND DAS VIERTE.

Inhalt

Vorwort

Jesus liebt Radfahrer

Die Schneekönigin

Unter Warmduschern

Salzigsüß

Die Hoach Family

„La Incansable“

Hangry

Desaster

Perspektivwechsel

Sprit

Altenpflege

Ferne

Per Anhalter

Lagunenroute

Falscher Alarm

12 Gurken und ein Schokoeis

Natur heilt

Usbekische Hochzeiten

Krisengeplagt

Dean

Karimas Welt

Anhang

Zur Routenplanung, Vorbereitung und Finanzierung der Reise

Ausrüstung – das brauchten wir unbedingt

Gewicht sparen – das blieb zu Hause

Das ging kaputt

Sicherheit

Wie hält man auf die Dauer durch?

Literatur und Links zur Reiseplanung

App-geführt

(Un)geplante Mutproben – Abenteuer, auf die wir hätten verzichten können

Endlich Zeit zum Lesen! Auswahl unserer Zeltlektüre

Bewusster reisen – was wir heute anders machen würden




SKARDUTAL, PAKISTAN

Eine steile Straße windet sich entlang des Indus

VORWORT

Feierabend! – Sie, ja Sie, kommen von der Arbeit nach Hause. Hinein in die Jogginghose, schnell den Tisch decken. Endlich Ruhe. Nichtstun. Endlich frei.

Plötzlich surrt die Haustürklingel. Wer ist denn das jetzt noch? Sie öffnen – und zwei verschwitzte Radfahrer stehen vor Ihnen. Die beiden sprechen alles, nur kein Deutsch und zeigen auf Ihr Grundstück, mit Hundeblick. Ihnen dämmert, was die Fremden wollen: ein Zelt auf Ihrem Rasen aufstellen, eine Nacht in Ihrem Garten kampieren. Was machen Sie? Vertrauen Sie den Unbekannten?

Und noch eine Situation: Sie rumpeln im Jeep über die Hochebene Boliviens. Um Sie herum nur Sand, bunte und dennoch tote Berge. Sie fragen sich, ob der Fahrer sein Handwerk wirklich beherrscht, ob der Wagen hält? Ob Sie hier oben schneller erfrieren oder verdursten? Plötzlich sehen Sie eine Frau und einen Mann vollbeladene Räder durch den Sand schieben. Inmitten der Hochwüste. Mitten im Nichts. Wie reagieren Sie?

Daniel und ich könnten diese Radverrückten sein. Zwei Jahre lang setzen wir uns fünf Kontinenten aus: Europa, Asien, Nord- und Südamerika, und zum Schluss in Marokko ein Stück von Afrika. Packen 32.000 Kilometer im Sattel. Nichts schirmt uns von den Bewohnern ab, keine Fahrzeugkarosse und kein üppiges Reisebudget, das Hotels erlaubt und damit Privatsphäre erkauft. 769 Tage sind wir angewiesen auf die Hilfe der Einheimischen, auf ihr Wohlwollen, ihren goodwill. In „Schurkenstaaten“, in touristischen Gebieten, in der Ödnis, im Stadtgewimmel. Doch auch die andere Seite muss sich offenbaren. Locals wie Touristen müssen entscheiden, in Sekundenschnelle: Ob sie uns helfen oder fortjagen. Ob sie vertrauen oder misstrauen. Ob sie sich einlassen oder nicht.

Da sind Jeanne und Dave aus Kalifornien, an deren Haustür wir nach Feierabend klopfen. Die uns herzlich hineinwinken, Caipirinhas mixen, Snacks drapieren. Als seien wir geladene Gäste, als seien wir lang ersehnt. Die ihr Bad vorheizen und hotelweiße Handtücher bereitlegen, um uns mit dem Luxus einer heißen Dusche zu beseelen.

Da ist Dahae, ein Schweizer Tourist, der im Jeep die Hochebene Boliviens erkundet. Uns leiden sieht und den Fahrer zum Anhalten auffordert. Aussteigt, uns ausfragt, die Hand schüttelt, uns drückt. Und einen 100-Dollar-Schein schenkt – für ein feines Essen zurück in der Zivilisation.

Da ist ein Bauarbeiter in Chile, der mich spontan den Berg hochschiebt. Ein Eislieferant in Iran, der Vanille und Schoko spendiert. Ja, da sind auch Giftzwerge, die selbst mit Leitungswasser geizen. Die nichts loslassen wollen, können.

In diesem Buch zählen wir weder Schweißtropfen noch Schlangenbisse, weder Stürze noch Magen-Darm-Infektionen. Natürlich schildern wir Strapazen – doch nur um von Engeln und Herzlosen zu erzählen. Um zu berichten, wie uns Unbekannte in haarsträubenden Situationen aus der Klemme helfen, uns zum Weitermachen antreiben. „Pay it forward!“, „Gib’s weiter!“, bitten uns viele US-Amerikaner: Wir helfen euch, damit ihr wiederum anderen zur Seite steht. In diesem Sinne soll das Buch inspirieren.

Außerdem skizzieren wir Frauen und Männer, die uns mit ihrem Mut und ihrer Haltung Kompass und Wegweiser sind. Constanza, die die verkauften Kinder Chiles findet. Dean, der als Rentner niemals seine Neugier verliert. David, der Südpol-Ingenieur. Claris, die einen Erdrutsch überlebte und „Ferne“, ein stiller Protestler in China.

„Staunt euch die Augen aus dem Kopf, lebt, als würdet ihr in zehn Sekunden tot umfallen. Bereist die Welt. Sie ist fantastischer als jeder Traum, der in einer Fabrik hergestellt wird.“ Autor Ray Bradbury feuert zum Leben, zum Reisen und Lernen an. Mögen die Geschichten in diesem Buch zünden. Mögen sie erstaunen, verstören, wissbegierig und weltwach machen.


MARKTFRAU IN BUCHARA USBEKISTAN

JESUS LIEBT RADFAHRER – NAVID AUCH


„Warum hast du uns geholfen?“, wollen wir wissen. „Allah hat mir einen Wink gegeben und gesagt: Da vorne, die Radfahrer brauchen Hilfe. Frag’ mal, was los ist.“

Im Landeanflug beginnt das Verkleiden. Der Iran duldet keine bloße Haut und keine sichtbaren Haare. Dunkle Blusen, lange Tücher. Die Schöne neben mir verwandelt sich in einen Geist. Sie kennt das Spiel, ich nicht. Linkisch setze ich mein Tuch auf, fühle mich klein und entfremdet von mir selbst und der Lächerlichkeit preisgegeben, wie schon als Kind im Karnevalskostüm. Ich schäme mich, vor Daniel, vor mir selbst und starre auf den Boden. Auch Daniel sagt kein Wort, ist nervös. Still verlassen wir den Flieger. Iran, das erste Land unserer Reise.

„Iran, nicht Irak.“

Jetzt also hier, wo es „keinen Krieg und keine Anschläge gibt“, wo „alles safe“ ist. Nichts konnte die Sorgen unserer Eltern mindern. Auch wir waren ängstlich, doch der Flug günstig und die Neugier auf ein muslimisches, ein verrufenes Land drängte.

 

Jetzt also hier, am Flughafen in Teheran. Der Kontrolleur lächelt und ich komme durch, Daniel nicht. Es piept, der Polizist schaut erschrocken. Er prüft Daniels Pass, zweimal, dreimal. „Mister, Mister, big problem, big problem. Interpol. Interpol!“ Unsere Reise steht vor dem Aus, bevor sie begonnen hat.

Daniels Pass: gestohlen, warnt der Computer. Warum, wissen wir nicht. Es ist Mitternacht und Interpol schläft. Kein anderer kann seine Unschuld versichern. Alles rauscht vorbei, Männer, Frauen. Polizisten hasten auf uns zu. Hier und jetzt ist Daniel ein Verbrecher. „Sit down. Shut up!“, bellt ein Bewaffneter – nur ein Dummkopf würde rebellieren.

Stunden kauern wir auf unseren Plätzen. Er eingeklemmt zwischen Wachmännern, ich bei unserem Gepäck. Zu müde, zu matt, um zu verzweifeln. Warten. Dösen. Warten. Irgendwann wird es draußen hell. Dann der Anruf: Interpol gibt grünes Licht, und die Polizei Daniel endlich, endlich frei.

Jetzt keine Zeit mehr vertrödeln. Zügig bauen wir die Räder zusammen und machen uns auf den ersten Metern mit der Autobahn vertraut. LKWs dröhnen, Busse knattern an uns vorbei, die Fahrer immer einen Finger an der Hupe. Ein Seitenstreifen schützt nichts weniger als unser Leben. Die Sonne knallt und der Gegenwind schmeckt nach Diesel. Bloß weg von hier, abfahren. Wir verfransen uns im Industrie-Irrgarten der Hauptstadt, nicht ganz das Ziel von Touristen. Keiner kann helfen. Kilometer für Kilometer fahren wir blind, orientierungslos. Es beginnt zu dämmern. Plötzlich hält ein verschrammter Renault und ein Mann mit Vokuhila kurbelt die Scheibe herunter. „My name is Navid. Need help?“ Navid: nie verheiratet, keine Kinder, einst Kioskbesitzer in New York. Er eskortiert uns zu seiner Wohnung mit schiefer Tür und geflickten Fenstern, öffnet den Kühlschrank und reicht Bier – Schmuggelware aus der Türkei, für acht Dollar die Flasche. Ein Segen, wenn auch ein verbotener in Iran. Als seine Eltern Hilfe brauchten, kehrte Navid nach Teheran zurück. Seine Schwester sei noch immer in den Staaten, wage sich aber wegen Trumps travel ban nicht mehr aus dem Land – aus Angst, nie wieder hinein zu dürfen. Wir sollten über Nacht bleiben, beharrt Navid und scheucht die Hühner aus dem Schlafzimmer. Am nächsten Morgen weist er uns den Weg aus dem Industrie-Wirrwarr. „Warum hast du uns geholfen?“, wollen wir wissen. „Allah hat mir einen Wink gegeben und gesagt: Da vorne, die Radfahrer brauchen Hilfe. Frag mal, was los ist.“


MIKE AUS RIDGECREST, KALIFORNIEN


HIER WIRD CLAUDIA UNSICHTBAR MOSCHEE IN GONBAD-E KAVUS, IRAN


GORGAN, IRAN

Ein knappes Jahr später, beim Erzfeind des Iran: in den USA. Kurz vor der Querung des Death Valley hält uns ein Sandsturm gefangen, in Ridgecrest, Kalifornien. Die Stadt scheint zu verrosten, Vernunft und Ekel verbieten das Kampieren zwischen Müllkippen, Fastfood-Buden und ausgezehrten Kötern. Wieder kurbeln wir orientierungslos, wieder dämmert es. Erst einmal einkaufen, es muss sich was ergeben! „Schau mal ein bisschen traurig und dumm“, instruiere ich Daniel, bevor ich mich im Supermarkt verlaufe. Und er macht seinen Job glänzend. Mike lädt uns in das Haus seiner Schwiegermutter ein. Die sei kürzlich verstorben, wir könnten so lange bleiben, wie wir wollten. Das Bett sei frisch bezogen und das Badezimmer vorgeheizt. „Bedient euch in der Vorratskammer, da stehen noch tonnenweise Pasta, Oliven, Dosenobst – und Bier.“ Mike und seine Frau Debby erzählen von ihrem Sohn – kurz nach dem 18. Geburtstag überrollt von einem LKW. Am Gottvertrauen halten sie sich bis heute fest. „Ich bin eigentlich gar nicht der Typ, der Fremde einlädt“, gesteht Mike. „Debby meinte, ich sei nun völlig verrückt.“ Warum er uns dann geholfen habe, wollen wir wissen. „Jesus hat mir einen Wink gegeben und gesagt: Da vorne, die Radfahrer brauchen Hilfe. Frag mal, was los ist.“

Zurück in Iran, zu Beginn der Reise: Ich trample auf Gardinenstoff und schwitze wie in einem Clownskostüm. Hier reicht das Kopftuch nicht, hier gängelt man mit einem Umhang. Schon am Eingangstor war eine Pförtnerin auf mich zugeeilt, den Stoff in der Hand. Sie hatte keine Gnade mit mir, auch nicht bei 36 Grad. Imam Rezas Schrein in Mashhad: Ein heiliger Ort, den ich heute am liebsten verwünschen würde. 20 Millionen pilgern jährlich hierher. Immer wieder auf den Umhang tretend, stolpere ich zur Taschenkontrolle. Ich muss aus meiner Wasserflasche trinken – die einfachste Sprengstoffprobe der Welt. Eine schwarz verschleierte Frau tastet mich ab. Woher ich käme, ob ich Kinder habe, fragt sie und streicht sanft meinen Tschador glatt. Sie meint es gut. Bevor ich hinaus darf, umfasst sie meine Hände: „Bitte, geh nach Hause und erzähle deiner Familie und all deinen Freunden, dass wir keine Terroristen sind.“

12.000 Radkilometer entfernt, wieder beim Rivalen, wieder in den USA: „We would like to further assist you in your journey“, mailt uns Rebecca, die uns ein Stück im Wohnwagen mitgenommen hatte. Zwei Tage spendieren sie und ihr Ehemann einen Campingplatz mit Swimmingpool: „Kids, sleep well. Tomorrow we gonna watch the sunrise.“ Mit ihren Söhnen hätten sie im Urlaub auch immer den Sonnenaufgang angesehen. Wir spielen das Spiel mit, sind gerne wieder Kinder: bemuttert, beschützt, zu Hause für den Moment. Zum Frühstück dürfen wir uns bergeweise Pancakes auf die Teller laden. Später ertappe ich Rebecca, wie sie 60 Dollar Taschengeld in meiner Radtasche versteckt. Beim Abschied tragen wir beide Sonnenbrillen – als Tränensichtschutz. Sie drückt mich und umfasst meine Hände: „Geht nach Hause und erzählt euren Familien und all euren Freunden, dass wir nicht so sind wie unser Präsident.“


REBECCA UND MARK | UTAH, USA

HINTERGRUND ISLAM

aus: „KulturSchock Islam“ von Susanne Thiel

In der heutigen islamisch geprägten Welt kommt „der Schleier“ als Kleidungsstück in vielen Formen und Varianten vor und wird auf unterschiedliche Art und Weise getragen. Der Nikab ist ein bodenlanges Gewand, das gleichzeitig auch Kopf und Gesicht bedeckt, nur ein Schlitz für die Augen bleibt frei. Der Tschador ist ein bodenlanger Umhang, der auch den Kopf bedeckt, aber das Gesicht freilässt. Der Hidschab ist ein Tuch, das die Haare, die Ohren und auch den Hals bedeckt. Die extremste Form, die Burka, ist ein sackartiger Überwurf, der den Körper von Kopf bis Fuß konturlos bedeckt und auch die Augen nicht frei lässt.

DIE SCHNEEKÖNIGIN


„Die bekloppteste Piste der Welt“, das wäre mal ein Weltkulturerbe der UNESCO. Den Preis gewinnt die „Straße“ entlang der Salinas Grandes.

Direkt aus der Fabrik sollen unsere Räder in die Welt hinaus – die erste Tour führt von Sachsen nach Thüringen. In einem Blumenladen bei Halle an der Saale entpuppt sich die Verkäuferin als Märchen-Protagonistin. Die „Schneekönigin“ kappt gerade Rosenstiele. Ich bitte sie um zwei Liter Leitungswasser. „Kaufen Sie’s doch im Supermarkt“, reagiert sie eisig und gießt jetzt die Blumen – mit Leitungswasser, klar. „Ich will aber keinen weiteren Plastikmüll produzieren“, wage ich zu erklären. „Na, das geht aber nicht. Wenn mich jeder danach fragen würde, wäre ich ja arm!“ Ich hoffe noch, die Furie scherzt, will ihr drei Cent über den Ladentisch schieben. Doch ihr Körper spannt sich vor Entrüstung und macht mir klar: Sie meint es ernst. Wortlos verlasse ich das Geschäft und ärgere mich über meine Feigheit. Noch heute. Was ich ihr nicht alles an den Kopf werfen möchte.

Auch in den Schweizer Alpen stänkert ein Giftzwerg. Ende August brennt die Sonne auf die Serpentinen, die Zunge klebt am Gaumen. Mit knallrotem Kopf bitte ich einen Restaurantchef um Leitungswasser. „Nee, so einfach ist das nicht. Da musst du auch was kaufen.“ Ich glaub, ich hör nicht recht? „Kannst ja da unten aus der Scheune was holen, da ist ein Hahn.“ Wieder bin ich feige, verlasse die Theke und trotte zur Scheune. Was der Giftzwerg nicht verriet: Das Wasser stammt aus einem Bach, der eine Weide entwässert. Den nächsten Pass müssen wir mit Durchfall hinauf.

Nicht minder kräftezehrend, wenn auch ohne Magendrücken: die Steppe Usbekistans. 42 Grad lähmen, schon morgens tropft der Schweiß von der Stirn ins Müsli. An einer Lehmhütte wollen wir nach ein paar Litern Wasser betteln, denn der Dorfbrunnen scheint längst versiegt. Wasser wird von Tankwagen geliefert. Kinder flitzen uns entgegen, die Mutter hinterher. Sie füllt die Trinkflaschen zum Überlaufen und drängt uns ins Haus. Schnell ist die Suppe angerichtet, dazu Brot, Obst auf Teller gestapelt. Nein, nur mit Wasser lässt man uns nicht fort: Ohne Mittagessen dürfen wir nicht weiter.

Noch trockener, noch leerer und armseliger ist das Altiplano, die Hochebene Boliviens. Das Land hängt am Tropf der Andengletscher, die unaufhaltsam schmelzen. Selbst große Städte drehen das Wasser ab. Männer und Frauen gehen auf die Barrikaden, blockieren die Straßen mit brennenden Reifen – und entführen gar Politiker im Kampf um das Kostbarste der Welt. In einem Laden für Alternativmedizin verkauft eine Indigene Vitamine, Bio-Kaffee, „glutenfreie“ Marmelade – und Schlagermusik. Wir brauchen agua potable, insgesamt sieben Liter Trinkwasser, und beschwingt zeigt sie auf den großen Wasserspender im Raum. „¿Cuánto cuesta?“, was es denn koste, frage ich, um sie beim Preisaufschlag zu mäßigen. „Es gratis“, lächelt die Verkäuferin. „Aber Sie haben das Wasser doch selbst gekauft?“ „Trotzdem, für Wasser verlange ich kein Geld.“

Unweit des Ladens passieren wir die Landesgrenze: Auch der Norden Argentiniens schreit nach H2O, und wir vor Verzweiflung. „Die bekloppteste Piste der Welt“, das wäre mal ein Weltkulturerbe der UNESCO. Den Preis gewinnt die „Straße“ entlang der Salinas Grandes. Knöcheltiefer Schotter, Sand, fußballgroße Felsen und ein Wellblech, dass die Bandscheiben aus den Fächern springen. Auf gerader Ebene rattern wir mit fünf Kilometern pro Stunde, knapp hundert liegen vor uns. Mit Karacho schlage und trete ich gegen die Radtaschen. Die Wut entlädt sich anstandslos und ohne Scham. Daniel verflucht – zähneknirschend – die sandbeladenen Gegenwinde. Wir geben auf und wollen die Andenrunde abbrechen. Mutlos, kraftlos hocken wir im Dreck und warten auf nichts. Irgendwann braust ein Bus um die Kurve, hält an, spuckt gut gelaunte Touristen aus. Alles Engel, denn jeder von ihnen hält eine andere Gabe in der Hand. Der erste eine Gallone Wasser, die zweite Cola, die dritte Chips und der vierte eisgekühltes Bier – Halleluja! Dazu feuern sie uns an, mit Lob und Bewunderung, wir dürften nicht verzagen. Noch mehr Cola, noch mehr Chips. Als sie weiterfahren, sind Wille und Mut wieder zurück. Die geplante Runde ziehen wir durch.


SHARISABZ, USBEKISTAN

Nur mit Wasser lässt man die Gäste nicht ziehen


SALINAS GRANDES, ARGENTINIEN

Cola, Chips, Bier – Halleluja!

UNTER WARMDUSCHERN


Wie viel kann ein Mensch ertragen? Aus Tom, dem das Leben die große Liebe und die eigene Gesundheit raubte, ist kein verbissener, jähzorniger Typ geworden. Er macht weiter – und schenkt uns Zuflucht.

 

Blaubeeren, Knusperflocken, Pfannkuchen, Orangensaft, Feigenmarmelade, Schoko-Donuts. Für Daniel brutzeln die Eier in der Pfanne, duftet der Schinken im Ofen. Dorothys Gastfreundschaft ist groß und vor allem großmütterlich: warm und üppig. Ich bin zutiefst gerührt, als ich am Morgen in ihre Küche strauchele, noch etwas angeschossen vom Weißwein des vergangenen Abends. Sie durchsucht die Schränke: „Ich versuche, mich in euch hineinzuversetzen. Was könntet ihr noch gebrauchen für unterwegs?“ Dorothy und John sind über 70, fit wie Turnschuhe und Mitglieder der Warmshowers-Gemeinschaft. Die Online-Plattform ähnelt dem Couchsurfing-Format, nur beherbergen die Einheimischen ausschließlich Reiseradler – die vor allem nach einer warm shower, einer heißen Dusche, gieren. Dorothy hatte einen Zeitungsartikel über die Gemeinschaft gelesen und sich sofort angemeldet, denn ihre Kinder und Enkel leben viele Flugstunden entfernt. „Ich backe euch noch schnell Brownies. Und bitte kommt im Sommer wieder, ihr könnt das ganze Haus für euch haben, wenn wir unsere Kinder besuchen!“ Während John zu seinem Stand im Einkaufszentrum eilt, um Mittel- und Ratlosen kostenfrei bei ihrer Steuererklärung zu helfen, machen Dorothy und ich es uns auf dem Sofa gemütlich. Auch sie engagiert sich, versorgt Obdachlose. Sie erzählt von Jeff, der immer wieder das Bewusstsein verlor, „without any warning“, und den sie eines Tages auf einer Bank sitzend fand. Kopf und Schulter verbunden, die Bandagen blutdurchtränkt. Jeff wusste gar nichts mehr. Weder woher er kam, noch wo er hingehörte – und auch nicht, was passiert war. Dorothy fand heraus: Ein Krankenhaus hatte ihn nur notdürftig behandelt und zurück auf die Straße gesetzt, denn Jeff war kein zahlender Kunde. Dorothy fängt an zu weinen. „An diesem Sonntagmorgen saß er blutverschmiert vor einer Bäckerei mitten im Stadtzentrum. Alle Welt lief an ihm vorbei. Was sind das für Menschen?“

Über 130.000 Mitglieder in 161 Ländern bereichern die Warmshowers-Gemeinschaft inzwischen. Einer davon ist Tom und lebt in einer Wüstenstadt Nevadas, in der sich 36.000 Einwohner die Fläche Berlins teilen. Wir stellen unser Zelt auf seinem Rasen auf, die Wasserknappheit macht Halt an der Stadtgrenze. Tom ist um die 60 und wirkt wie jemand, der mal ein schönes Leben hatte, bevor es weiterzog und ihn zurückließ. Er schließt die Haustür auf und es scheint, als seien nicht nur Daniel und ich die Gäste, sondern auch Tom nur zu Besuch. Mit Turnschuhen und Arbeitsstiefeln laufen wir über den Wohnzimmerteppich in die Küche. Es ist nicht schmutzig bei Tom, vieles wirkt eher unbenutzt, die Weingläser in der Vitrine, die Kerzen, der Ofen. Nur Dinge, die er täglich nutzt, liegen verstreut und griffbereit: Rechnungen, Toast, Fernbedienung. Der Kühlschrank, groß wie ein Wandschrank, ist dreiviertel leer, darin nur wenige Nahrungsmittel, die zusammen keine Mahlzeit ergeben: eine Gallone Milch, Hamburger-Patties, Pudding und Eiscreme. Wer Tom lächeln sieht, bemitleidet ihn. Zwei Zahnstummel lugen dann hervor. Wenn er spricht, klingt es, als baumele das Gebiss eines alten Mannes schief im Mund. Tom hustet oft und spuckt dabei dunkle Bröckchen aus. Er arbeitet 14 Stunden täglich, macht Spießergärten noch spießiger. Was er erzählt, klingt smart, stark und lustig – über das Radreisen, die Waffenläden der Stadt, über den Zuhälter, der jetzt Bürgermeister werden will. Doch es fällt mir schwer zu glauben, dass Tom, krank und vorgealtert, noch vor wenigen Jahren die Vereinigten Staaten auf dem Rad durchquerte. Das einzige Bild in seiner Wohnung zeigt seine Frau Lauren, die nach 45 Lebensjahren an Krebs verstarb. Für die Behandlung verkaufte Tom seine Waffensammlung mit antiken Stücken. „Ich habe Krebs, nicht der Krebs hat mich!“, behielt Lauren ihre Stärke bis zum Schluss. Doch Toms Leidensweg ging weiter. Vor einigen Jahren arbeitete er noch bei der Freiwilligen Feuerwehr. Damals hoben sie eine Drogenfabrik aus, in der vermutlich Crystal Meth gepanscht wurde. 20 Kollegen waren sie, nur zwei davon sind noch am Leben. Er und der andere versuchten, zu erfahren, mit welchen Substanzen sie in Kontakt kamen, die ihnen die Zähne ausfallen ließen und Lungen verätzten – vergeblich. Wie viel kann ein Mensch ertragen? Aus Tom, dem das Leben die große Liebe und die eigene Gesundheit raubte, ist kein verbissener, jähzorniger Typ geworden. Er macht weiter, und schenkt uns Zuflucht.


DOROTHY UND JOHN AUS PRESCOTT, ARIZONA

Buffet als Vorspeise – der Hauptgang kommt erst noch

Ein anderer, der sein Schicksal überlebte, lädt uns in seine Wohnung im Zentrum San Franciscos ein. James ist Radmechaniker, könnte 50 aber auch 65 sein, und weil der Tretlagerwechsel im Laden das Reisebudget eines Monats aufbrauchen würde, funktioniert er seine Wohnung zur Werkstatt für uns um. Die Raucherpausen finden im Wohnzimmer statt. Wir fragen ihn, wie er sich diese Wohnlage leisten kann und sind auf seine Antwort nicht gefasst: James hat AIDS und die Stadt sorgt für ihn. Er ist einer der Schwulen, die sich während der Epidemie mit dem HI-Virus infizierten. 1981 starben in San Francisco neun Menschen im ganzen Jahr an AIDS, 1992 waren es 30 pro Woche. Hundert Fragen drehen sich in meinem Kopf und ich weiß dennoch keine zu stellen. Wie viele seiner Freunde und Liebhaber er leiden und sterben sah? Wie er selbst vegetierte und doch überlebte? Ob er Angst vor dem Tod hat? Wir wechseln das Tretlager aus.

Wir übernachten an diesem Abend bei Ruth und Edward, einem Warmshowers-Paar, das inspiriert. Reiseführer, Geschichtsbücher, Sprachführer, Politikanalysen, die spannendsten Romane – ihr Haus ist eine Bibliothek, die jeden beschenkt, der nichts weniger als die Welt verstehen möchte. Ruth kündigte im Silicon Valley, um als Lehrerin zu arbeiten. Edward schreibt Reiseführer und musste in den 80ern einsitzen – er rebellierte und verweigerte die Registrierung für einen Militäreinsatz. Beide können nicht hinnehmen, nicht wegsehen. Sie protestieren gegen Polizeigewalt, für Obamacare, gegen Aufrüstung. Kinder haben sie keine: „Wir wurden von unseren Eltern misshandelt. Wie sollen wir wissen, wie Familie funktioniert?“


RUTH UND EDWARD | SAN FRANCISCO, KALIFORNIEN


KAREN | LOS ANGELES, KALIFORNIEN


VERA | KUNMING, CHINA


PEGGY, WARREN UND GRANDMA LOIS HAMILTON, MONTANA


IGORS GARTENPARADIES DUSCHANBE, TADSCHIKISTAN


BARTON | SANTA CRUZ, KALIFORNIEN

Kinder wollte auch Supaporn nicht, das größte Energiebündel Thailands. Sie sei ja schon Schulleiterin, das reiche. Wer bei Supaporn unterkommen will, muss ihre Schüler unterhalten. Denn die sollen „authentisches“ Englisch lernen. Ich turne mit Dreijährigen, Daniel zeigt den Älteren, wie man Schürfwunden verbindet. Eine angenehme Abwechslung zum Pedalieren.

In Los Angeles, der Stadt der Engel, lebt eine besonders herzensgute Gastgeberin. Karen hat ihren Kühlschrank für uns gefüllt, Kartons für den Flugtransport der Räder organisiert und ein Paket mit Ersatzteilen aufbewahrt. Sie besteht darauf, jeden Abend zu kochen und tanzt und springt zwischen Herd und Esstisch. Für sie selbst das größte Glück: Noch vor zwei Jahren konnte sie kaum gehen, die Hüftgelenke waren durch Arthrose verschlissen. Karen, nach einer lang ersparten OP wieder fit, chauffiert uns später sogar zum Flughafen.

Im kanadischen Calgary überlassen uns Heather und Egbert ihr Haus, während sie durch die Rockies wandern. Vera in Kunming lässt uns tagelang in ihrer Wohnung der Fortschrittshektik Chinas entfliehen; Peggy und Warren aus Montana vermachen uns das Obama-Shirt von Grandma Lois, die kurz nach unserem Besuch verstarb; Igor im tadschikischen Duschanbe besteht allabendlich auf einem small shot, einem gemeinsamen Glas Whiskey; Paul und Natt haben in ihrem Gartenparadies am Golf von Thailand schon mehrere hundert Radreisende entspannen lassen.

Kürzlich las ich eine Unterhaltung auf der Facebook-seite der Gemeinschaft. Ein Radfahrer schrieb, im Gästebett habe es Bettwanzen gegeben, eine Woche nach dem Aufenthalt krabbelte es noch immer in seiner Ausrüstung. Doch es folgte keine Beschwerde, keine Hasstirade, kein Shitstorm – sondern die Frage: „Soll ich dem Gastgeber wirklich eine negative Bewertung auf seinem Profil geben? Er war doch so nett und hilfsbereit!“