NAKAM ODER DER 91. TAG

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NAKAM ODER DER 91. TAG
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Nakam heißt hebräisch Rache

… und 90 Tage war die Lebensdauer eines Häftlings im Durchgangslager eines KZ. Der 91. Tag ist also Symbol des Widerstands und Überlebenskampfes gegen die Nazis.

„Alle historischen Beschreibungen, Daten, Zahlen, Fakten, insbesondere Angaben über Tötungen und Vernichtungen, sind entnommen den französischen X-21-Dokumenten und den Protokollen der L‘IHA Paris-Forschungen zur westeuropäischen Geschichte.“

Spa, März 2020, Claude-Oliver Rudolph

Wir schreiben das Jahr 1941

Zwei jüdischen Buben gelingt die irrwitzige Flucht aus der Hölle des Todeslagers Kaunas in Litauen. Eine waghalsige Odyssee auf der Flucht vor den Häschern der Wehrmacht und der SS führt sie quer durch ganz Europa, über die unendlichen Steppen Russlands, die schneebedeckten Gletscher des Kaukasus, über das sturmgepeitschte Schwarze Meer nach Konstantinopel. Über das Mittelmeer bis nach Südfrankreich, direkt in den Terror der deutschen Panzertruppen und ihrem Zerstörungswerk in Marseille. Weiter durch Frankreich und Spanien, den gesamten Jakobsweg ins rettende Lissabon und tatsächlich auf das letzte Flüchtlingsschiff gen USA. Doch dem Tod sind sie noch lange nicht entronnen… Sie sind im größten Abenteuer der Welt!

Eine Geschichte voller Dramatik, Brutalität und trotz allem ein Buch mit einem guten Ende und vor allem voller Zuversicht, Esprit sowie an manchen Stellen mit einem zwinkernden Auge.

Eine zeitgemäße Antwort gegen eine erstarkende rechte Szene!

Ein spannendes und ergreifendes Buch für jugendliche Leser*innen und Erwachsene – gegen das Vergessen.

„So grausam! Keine Gute-Nacht-Lektüre!”

Petra Zündel, SWR

„So eine Literatur gibt es noch nicht…Tarantino-Literatur“

Norbert Bogdon, BAMS

„…sehr bizarr!“

Kitty Pohl, BILD

„Spektakulär realistisch. Mazel tov.“

Oren Schmuckler, Regisseur, Tel Aviv

„Emotional kaum verkraftbar!“

Wolfgang Petersen, Hollywood

„Bloody truth!“ Henry Scheiner, 105 Jahre alt,

Holocaust-Überlebender, London

„Wow. Das ist großartig. Ich bin tief beeindruckt.“

Sharon Brauner


Claude-Oliver Rudolph/COR „der genialistische Rebell“ (Zeit) hat sich mit Kultfilmen wie Das Boot, Rote Erde, Der Schattenmann, König von St. Pauli, Liebe mich bis in den Tod bis hin zu James Bond in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt.

Bis zur Einschulung lebte er bei seiner Familie mütterlicherseits in Frankreich in einem kämpferischen Résistance-Haushalt. Später bei seinen Eltern wuchs er im jüdisch geprägten Milieu des internationalen Pelzhandels in Frankfurt und London auf.

Parallel zu seiner Schauspielkarriere begann COR – „Der beste Bösewicht der Welt“ Bild, „Europe‘s baddest baddie“ Variety, „Einer der größten Charakterdarsteller des Landes“ Spiegel – seine Autorentätigkeit u.a für die Ruhr Nachrichten und Zeit online.

Viele seiner Drehbücher wurden verfilmt, im Buchhandel erschienen Martial Arts Breviere und Psycho-Physio Ratgeber.

Für internationale Bands schrieb er Biografien und Videoclips, so für Hans Albers, Metallica und Motörhead.

Als internationale Erfolge konnte er mit Motörhead den Grammy und Platz 10 der US-Charts verbuchen als auch den European Script Award aus der Hand von Oscar-Preisträger Sir Richard Attenborough.

Nakam oder der 91. Tag

Geschichte einer irrwitzigen Flucht

Claude-Oliver Rudolph

Dramaturgische Beratung:

Dr. Bettina Wilts

Verlag:

basic erfolgsmanagement, Pfarrkirchen, 2021

www.basic-erfolgsmanagement.de

ISBN 978-3-949217-06-7

eISBN 978-3-949217-07-4

Lektorat:

Josef Nöhmaier

Koordination und Organisation:

Medienbüro Susanne Wagner, Pfarrkirchen

Umschlaggestaltung, Layout/Satz:

Michaela Adler, Pfarrkirchen

Bildrechte:

Cover: © Adobe Stock – ChiccoDodiFC, Sergii Moscaliuk

Portrait: © Uwe Weber, www.zeitraster.de

Made in Germany


Die Romanhelden:

Franz Finkeldei,

später Fred Finkel,

am Anfang etwa 11 Jahre,

geboren 1929.

Mikesch Miljenko,

später Big Miles Miller,

am Anfang etwa 13 Jahre,

geboren etwa 1927.

COR hat einen beeindruckenden Roman über die Flucht zweier Kinder aus dem Todeslager in Litauen geschrieben.

Als Quelle der Erlebnisse im KZ dienen die französischen X-21 Dokumente und die Protokolle der L‘IHA Paris „Forschungen zur westeuropäischen Geschichte“.

Eine weitere authentische Quelle lieferte ein KZ-Überlebender, bei dem COR in London als Austauschschüler lebte.

Die Erlebnisse dieses Zeitzeugen spiegeln sich in den beschriebenen Folterszenen wider.


Achtung: auf den Seiten 1 - 88 finden sich Szenen extremer Grausamkeit. Wenn Sie diese nicht lesen möchten, überspringen Sie diese Seiten.

Dieses Buch ist ein Beitrag zum Jubiläumsjahr

„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“

Mai 2021

Gefördert durch das Programm des Börsenvereins

„NEU START KULTUR“

„Ich kann heute feststellen, daß das Ziel, das Judenproblem für Litauen zu lösen, erreicht worden ist. In Litauen gibt es keine Juden mehr. Die Aktionen selbst können als Paradeschießen betrachtet werden…

Die sogenannten Arbeitsjuden inkl. ihrer Familien wollte ich ebenfalls umlegen, was mir jedoch scharfe Kampfansage des Reichskommissars und der Wehrmacht eintrug und das Verbot auslöste.“

SS-Standartenführer Karl Jäger am 1.12.1941

Inhalt

Nakam heißt hebräisch Rache

Wir schreiben das Jahr 1941

Los Angeles heute

1941

BAHNHOF WEINSTEIN

NACH LITAUEN

AUSSENLAGER KAUNEN

KONZENTRATIONSLAGER KAUNEN

IN DEN WÄLDERN LITAUENS

SS FEIERT

KZ-CHAUSSEE

KZ-ALLTAG

SS-KASERNE

KOMMANDANTUR

KREMATORIUM

KZ-ALLTAG

KREMATORIUM

SS-KASERNE

AUF LEICHENBERGEN

LAGERALLTAG

VORHOF KOMMANDANTUR

BLOCK 11

SONDERKOMMANDO UNTERKUNFT

KZ-ALLTAG

KRANKENSTATION

ARZTZIMMER

SONDERKOMMANDO UNTERKUNFT

KOMMANDANTUR, VILLA

APPELLHOFPLATZ

SONDERKOMMANDO, WERKZEUGHALLE

KOMMANDANTUR, VILLA

SONDERKOMMANDO UNTERKUNFT

 

TAG DES GROSSEN FESTES

DIE FLUCHT BEGINNT

LITAUEN LANDSTRASSE

TUNDRA

EIN BÖSER TRAUM

DURCH DEN WILDEN OSTEN

HAFEN VON MYKOLAIV 1942

KINDERGEFÄNGNIS

ERNEUTE FLUCHT

RUSSISCHE TIEFEBENE

UNTER WOLFSKINDERN

BÄRENJAGD

DIE WEISSE HÖLLE

IN DEN SCHLUCHTEN DES KAUKASUS

MARSEILLE

AM RHONEGLETSCHER

FLUCHT NACH SPANIEN

DURCH DIE PYRENÄEN

PORTUGAL

AN BORD

TOD AUS DER TIEFE

be‘esrAt ha‘schEmm (MIT GOTTES HILFE)

LOS ANGELES HEUTE

Quellen

Los Angeles heute

Presserotationsmaschinen spucken immer neue Titelschlagzeilen aus: „I confess!“ „We are killers!“ „Yes, we did it!“ „Murderers?“.

Auf sämtlichen Titeln: die Bosse der amerikanischen Filmindustrie Frank Finkel und Big Miles Miller. Pressekonferenz im Academy Theatre in L.A. Der Andrang der Journalisten, der Printmedien und der TV-Stationen hat etwas Unwirkliches, Hysterisches, Utriertes und erinnert an inszenierte Presseshows während des Balkan-Krieges oder des Clinton/Lewinsky-Skandals. Teilweise rempeln sich konkurrierende Kameraleute und Tonleute unsanft an. Big Miles und Frank Finkel auf dem Podium, flankiert von Anwälten und PR-Beratern. Als die ersten Blitzlichtgewitter vorübergezogen sind und nur noch vereinzelt ein Flash aufzuckt, klopft Big Miles zum Test auf die Mikros vor ihm auf dem Pult. Finkel trinkt betont cool aus einem Evian-Plastikbecher. Big Miles: „Meine Damen und Herren! Kommen wir gleich zur Sache! Ja, wir haben getötet! Ja, wir haben Menschen ermordet. Ja, wir haben es getan!“

Kameras surren, Mikrofone geben Rückkopplung, die Menge raunt, Blitzlichter zucken. Tumult, plärrende Zwischenfragen, heilloses Durcheinander. Frank Finkel tupft sich die Lippen ab und spricht: „Schauen Sie, wir haben alles aufgeschrieben, Punkt für Punkt, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr um Jahr. Und wir haben alles in einen Film gepackt, drum wollen wir nicht länger reden über das Unfassbare, Jungs, lasst uns den Film gemeinsam anschauen, und natürlich auch Mädchen. Der Worte sind genug gewechselt, lasst Taten folgen. Drum: Licht aus! Film ab!“

Im Projektionsraum geöffnete Filmpropeller. Eine Hand legt letzte Filmschleifen in den Umroller. Die Sicherheitsklappe wird geschlossen, der Starterknopf wird umgelegt. Mit dem typischen sirrenden Rasseln setzt sich die Filmspule in Bewegung und der Lichtstrahl beginnt den Film auf die Leinwand zu werfen. Die Lichter werden gedimmt, als sie ganz verlöschen, öffnet sich der rote Samtvorhang, und der Film beginnt im untergehenden Gemurmel der überraschten Presseleute.

Im Morgennebel die Statue of Liberty an einem eiskalten Vorfrühlingstag im Jahr 1945. Am Oberdeck zur dritten Klasse der „Serpa Pinto“ stehen Arm in Arm, die kalte Meeresluft als weißen Atem aus Mund und Nase blasend, Franz Finkeldei und Mikesch Miljenko als Kinder von etwa 13 und 15 Jahren. Über ihre Mützen haben sie gegen die Kälte noch einen Schal gebunden, damit sieht es so aus, als hätten sie Mumps oder Ziegenpeter.

Franz nickt anerkennend: „Aber du hast ja immer daran geglaubt, dass wir es schaffen.“

Mikesch: „Schmonzes… Ehrlich gesagt habe ich nie daran geglaubt, dass wir es schaffen, aber … das weiß man ja nie…“

Mit Tuten und Gegengetute der nahenden Schlepper macht die „Serpa Pinto“ auf sich aufmerksam und bahnt sich langsam ihren Weg durch die weit ausladenden Hafenanlagen zum weiter entfernten Anlegerkai, dem Tor für viele Flüchtlinge in eine neue Welt, Ellis Island.

1941

Hohenstein, mitten in der Stadt, besser gesagt, dem kleinen Flecken Hohenstein wird Franz Finkeldei auf der Straße von SS-Leuten aufgegriffen und zusammen mit etwa 15 Leidensgenossen in einen feuchten Keller gesperrt. Am Morgen werden alle auf einen vergitterten Leiterwagen, der von zwei Ochsen gezogen wird, geladen. Hintendrein fährt ein weiterer Wagen mit Leichen, hintendrein fährt ein Wagen mit streng riechendem Chlor. In einem Waldstück vor eine Grube wird der Leichenwagen ausgeladen.

Neugierig sehen die Gefangenen von ihrem Leiterwagen zu. So viele Leichen hat Franz noch nicht auf einem Haufen zusammen gesehen. SS-Leute werfen jede einzelne in die vorbereitete Grube. Als das Chlor über die Toten geschüttet ist, beginnt der Transport sich in Richtung Bahnhof in Bewegung zu setzen.

BAHNHOF WEINSTEIN

Am Bahnhof sieht man etwa 1.000 bis 1.200 Menschen, Männer, Frauen, die vor einigen Tagen niedergekommen waren, die mit ihren Babys abgeführt werden, gebrechliche Greise, die man auf Bahren transportiert, Verwundete, kleine Kinder mit Milchflaschen im Arm, etwa 40 Personen werden in einen Güterwagen gepfercht, auf dem rechts auf der Holzwand steht: Ladung acht Pferde. In der Mitte des von außen verriegelten Waggons ein Eimer für die Bedürfnisse der Menschen, der bereits übervoll ist, überläuft und dessen Brühe einen furchtbaren Gestank verbreitet. Jetzt werden die eisernen Jalousien der Oberlichter geschlossen, mit einem ohrenbetäubenden Pfeifen setzt sich der ganze Zug in Bewegung, und die Brühe schwappt wieder über. Später verrichten manche ihr Geschäft direkt in den Waggon, und die Übrigen müssen in diesem Pestgeruch ausharren. Die Reise dauert vier bis fünf Tage. Über unendliche Bahngleise geht es in die ewigen Weiten des Ostens.

NACH LITAUEN

Der Gefangenentransport hält zischend und Dampf ablassend. Einfahrt in den Provinzbahnhof der östlichen Grenzstadt Tauroggen im Grenzgebiet zu Litauen. Durch die Schlitze in den Bretterwänden erkennen die Gefangenen Schwestern vom Roten Kreuz, die Versorgungskarren mit belegten Broten, Wasser und Tee über die Bahnsteige schieben, um Soldaten und Wachpersonal zu versorgen.

Einer fleht: „Schwester! Schwester! Bitte haben Sie ein wenig Wasser für uns?“

Schwester: „Es gibt für Euch kein Wasser!“

Und ab schiebt sie mit ihrem Erfrischungswägelchen. Die Augen Franz‘ treffen den Blick des Bittenden, der ungläubig seinen Kopf schüttelt. Das Pfeifen der Lokomotive durchbricht die Stille. Im Pfiff der Dampflokomotive setzen sich die schwarzen Räder wieder in Bewegung. Aus der Ferne, aus den Trichtern der Lautsprecher ertönt Musik in Marschmanier, etwa der „Badenweiler“. Und weiter geht die Fahrt Richtung Osten, Litauen. Aus Tag wird Nacht und Nebel verschluckt die baumelnde Schlusslaterne des Zuges. Im Waggon die dicht gedrängten Menschen, sie können weder liegen noch sitzen, sondern kauern oder stehen in den unmöglichsten Stellungen. Kein Wasser, eine Gluthitze, keine Luft, manche versuchen, mit Taschenmessern die Luftklappen ein wenig zu verbiegen und zu öffnen. Ein Gefangener stirbt an einem Erstickungsanfall. Andere an Herzanfällen. Das Gewimmer und das Surren von Gebeten werden schlimmer. Als der Zug dampfend und schwitzend in Gubinau einfährt, hört man aus den Waggons nur flehentliche Stimmen, die um Luft bitten.

Ein deutscher Offizier: „Ihr habt das, was ihr verdient!“

Rot-Kreuz-Schwestern werden wie schon vor Stunden angebettelt. Stimmen aus dem Waggon ertönen: „Bitte gebt uns Wasser!“

Wieder stehen Franz und der Gefangene am Sichtschlitz. Der Gefangene bittet mit seinen Fingern durch die Lamellen: „Bitte! Gebt mir nur ein wenig Wasser. Wenigstens für die Kinder. Die sind halb tot vor Durst.“

Schwester: „Ausgeschlossen!“

Der Gefangene sieht einen deutschen Polizisten am Gleis stehen und bittet ihn: „Herr Schutzmann, schauen Sie hier, bitte helfen Sie uns! Nur ein wenig Wasser, die Schwestern wollen uns nichts geben.“

Er hat noch nicht zu Ende gesprochen, als eine Pistolenkugel des angesprochenen Polizisten vor ihm in die Ladewand knallt, um ihm den Mund zu stopfen. Der Zug dampft unter Pfeifen und Zischen aus dem Bahnhof heraus, und immer schneller donnert er über die Gleise, vorbei an ewigen Ebenen, dampfenden Mooren und schneebedeckten Weiten. An Ortsschildern wie: Priez Englau, Eytkau und Ragniff. Endlich kommt der Transport um 17 Uhr am darauffolgenden Tag am Bestimmungsort im winterlichen Kaunen an. Kein richtiger Bahnhof ist Ziel des Zuges, nein, in freiem Gelände markieren einige Bahngleise mit Rampen den Halt des Zuges. An der Rampe in Kaunen Schreie, unheimliches Bellen. Der Waggon wird aufgerissen und SS-Leute drängen mit ihren Schäferhunden die Menschen heraus und über allem schneidende, hysterische Laute durch deutsche Befehle und Hundegebell. Mit Gewehrkolbenschlägen, Bajonettstößen, Stockhieben und Hundebissen will man der Menschenmenge Herr werden. Diejenigen, die fallen und nicht mehr aufstehen können, werden von den Hunden zerrissen. Die Toten, die Sterbenden und alle diejenigen, die nicht mehr gehen können, werden auf einen Haufen geworfen. Gepäck und Pakete übereinandergestapelt. Über die letzten Menschen hinweg werden die Waggons bereits ausgespritzt mit eiskaltem Wasser. Manche der Kinder, die ein wenig Wasser abhaben wollen, werden sofort erschossen. Ein SS-Mann wirft ein Kind an den Füßen in die Luft, während ein anderer auf diese lebende Zielscheibe schießt: Als es wieder klatschend auf dem Steinboden aufkommt, ist es bereits tot. Etwas weiter reißt ein SS-Mann ein Baby aus den Armen seiner Mutter und zerreißt es in Stücke, indem er es an einem Bein zerrt und auf dem anderen mit seinem Fuß steht.

Ein Offizier schreit zur Begrüßung: „Alle müssen sich ausziehen!“

Ein anderer Offizier trennt die Frauen, Kinder, Greise und Männer an der Rampe. Er hat einen Zollstock und misst die kleinen Kinder durch. Die meisten stempelt er auf Brust oder Schenkel. Die Gefangenen ziehen unter Stockschlägen und Hundebissen nackt und einzeln an dem SS-Offizier vorbei. Mit einem Zeichen des Fingers gibt er die von ihnen einzuschlagende Richtung an. Nach links die Männer zwischen 15 und 45 Jahren und natürlich die jungen Frauen, das heißt die arbeitsfähigen und hübschen Menschen, nach rechts der ganze Rest des Transportes. Frauen und Kinder, Greise, Kranke, die Unnützen, die Unverwertbaren. Franz sieht nach kurzer Zeit, wie der Offizier bewertet, und macht sich größer und pumpt seinen Brustkorb auf. Glück gehabt! Links weg.

Vom Bahnhof zum eigentlichen Lager (etwa 5 Kilometer) werden die Selektierten unter Kolbenschlägen und Hundebissen zum Laufschritt getrieben. Der ganze Weg muss barfuß im Schnee und Schmutz zurückgelegt werden. Mit Faustschlägen auf den Kopf, in den Rücken und mit Fußtritten befehlen die SS-Männer zu laufen. Manche Menschen sind schon starr vor Schrecken und ihre Beine versagen ihren Dienst. Die, die umfallen, werden mit Kolbenschlägen niedergemacht oder erschossen. Und über allem das Heulen dieser verrückten Hunde.

Hinter der Kolonne folgen die Sammellastwagen, auf denen die Toten aufgehäuft werden. Niedere Dienstgrade oder Freiwillige werfen sie hoch wie verbogene alte Eisenstangen.

 

AUSSENLAGER KAUNEN

Bei ihrer Ankunft wird die Kolonne ausgerichtet und es wird ihnen verboten, sich zu setzen oder zu sprechen oder Schnee zu essen. Einige, darunter Franz, klauen trotzdem etwas Schnee. Von Zeit zu Zeit fällt einer um. Vor dem Eintritt ins Lager Prüfung der Häftlinge. Jeder Gefangene wird aufgerufen und muss seinen Namen angeben. Wer wegen Kälte und Frost an den Lippen undeutlich oder für die Deutschen in einer unverständlichen Sprache antwortet, beispielsweise Französisch, erhält einen Schlag mit dem Gummiknüppel. Die jungen Mädchen und Frauen müssen sich nach vorn bücken und werden ausgepeitscht. Sie erhalten 30 Peitschenhiebe auf das nackte Gesäß. Mittlerweile sind hinzugekommen der Lagerführer, ein Arzt und die Oberaufseherin. Vor dem Eingangstor zum eigentlichen Lager sind junge SS-Leute aufgestellt, die auf die Ankömmlinge einschlagen, sei es mit der Faust, mit dem Gewehrkolben, oder mit den Füßen nach ihnen treten. Wie immer und über allem das Gebrüll der Befehle auf Deutsch. Da das Lager bereits überfüllt ist, gibt es ein kleines, von Stacheldraht umzäuntes Geviert im Freien, in das die Gefangenen geprügelt werden. Dort verharren sie ohne Nahrung bei 12 °C unter null nackt im Schneefall.

KONZENTRATIONSLAGER KAUNEN

In der Nacht müssen die Menschen in Reihen zu dritt und im Laufschritt marschieren, um die etwa 1.000 Meter zu den Baracken zurückzulegen. Wenn einer nicht im Gleichschritt läuft oder den Kopf wendet, bekommt er einen Schlag mit dem Gewehrkolben oder einen Fußtritt. Gleich bei der Ankunft in der Baracke werden Tätowierungen auf dem linken Unterarm angebracht, aber nicht mit Tinte, sondern den Menschen werden Ziffern mit einem glühenden Eisen eingebrannt. Komischerweise sieht Franz sogar Babys und überlebende Kinder, die tätowiert werden.

In der Desinfektion werden alle Körperteile, Ohren, Gesäß etc. untersucht, ob auch nichts versteckt ist. Beine auseinander, bücken, Finger in den Anus, wenn da, Vorhaut zurück, Finger in die Vagina, alles ohne sich die Hände zu waschen, in Gegenwart der SS-Männer und ihrer Hunde, die auf die nackten Gefangenen springen, wenn sie sich zu nähern wagen. Nun beginnt ein vollständiges Rasieren aller Haare mit elektrischen Rasierapparaten oder der Schermaschine. Kein behaarter Teil des Körpers entgeht dem Rasiermesser. Franz nimmt wahr, dass nicht allen Frauen die Haare geschnitten werden.

Eine dralle, kurzbeinige Oberaufseherin mit ekelhafter, heller, schneidender Stimme. „Immer mit der Ruhe! Nun beruhigt Euch schon. Tierische Webstoffe sind wärmer als pflanzliche. Also beruhigt Euch, nichts geht verloren! Die deutsche Industrie verwertet alles. Mit euren Haaren werden wir Decken, Kleidungsstücke usw. machen. Die, die nichts anzuziehen haben, bekommen gleich ein paar SS-Decken. Wie sie auch unsere Hunde tragen. Diese sind aus euren Haaren gemacht.

Nicht drängeln, Ruhe und Ordnung!“

Franz‘ ungläubiger Blick fällt auf ein paar Schäferhunde, die tatsächlich Decken mit der Aufschrift „SS“ tragen.

Im zweiten Zimmer ist die Desinfektion untergebracht. Die Desinfektion sieht bei den Gefangenen ein Absprühen mit einer ekelerregenden Kotzhusten verursachenden weißen Melange vor, welche die Aufseher allerdings nur mit einem Atemgerät vornehmen.

Drittes Zimmer: Bekleidungszimmer. In der sogenannten Bekleidungskammer werden den Gefangenen Lumpen ausgehändigt von Toten oder Ermordeten mit Flecken, Blut, Fäkalresten und Löchern übersät. Nur Hose, Jacke und Hemd sind erlaubt. Pullover und Mäntel sind verboten. Holzsandalen, die nur aus einer Sohle aus Buchenholz bestehen, mit einem einfachen Band über dem Fußspann.

Wohnbaracke: Durch die Kälte wie gelähmt und selbstverständlich ohne Essen und Trinken müssen die Neuankömmlinge im Laufschritt in ihre Wohnbaracken eilen. Fünfzig Holzbaracken und zwanzig Zementbaracken für 16.000 Menschen eingerichtet, bilden das eigentliche Konzentrationslager. Franz kommt mit seinem Trupp in die Baracke. Der Stubendienstälteste, ein Berufsverbrecher, teilt die Ankömmlinge in die Schlafräume. Franz wird mit elf anderen in ein Gefach von 4 m Breite, 1,85 m Länge und 1,60 m Höhe eingepfercht. Etwa 900 Häftlinge liegen so. Das heißt, sie haben nicht genug Platz, um auf dem Rücken zu schlafen, der Kopf jedes Häftlings ruht auf den Füßen seines Vordermannes. Wenn sie sich umdrehen wollen, müssen sich ihre Nachbarn ebenfalls umdrehen. Nach einer Weile gibt Franz es auf, Schlaf zu suchen, er inspiziert lieber seine Decke. Es wimmelt nur so von Ungeziefer.

Er will raus zum Abort. Frauen schlafen in den Aborten und sogar im Freien. Franz verrichtet sein Geschäft. Beim Herausgehen sieht er auf einem Thermometer: - 32 °C. Er schließt die Tür hinter sich.

Wecken um halb vier morgens mit infernalisch lautem Trillerpfeifenlärm. Wer nicht schnell genug aus dem Bett kommt, wird mit kaltem Wasser begossen. Franz wird schlaftrunken in der Masse der Gefangenen mitgezogen und reiht sich ein. Kapos, Blockführer und der Lagerälteste lassen antreten und durchzählen. Als die Gefangenen fertig sind, müssen sie auf ein Zeichen des Lagerältesten beim letzten Mann wieder anfangen, und die Zählung geht von hinten wieder aufs Neue los. Es ist kalt an diesem tristen Morgen. So geht das weiter bis halb sechs. 16.000 Menschen in Reih und Glied unbeweglich und zu Eis erstarrt. Viele Kameraden fallen beim Morgenappell um. Niemand darf sie aufheben, das ist verboten. Dann kommen allmählich die ersten SS-Männer. Natürlich schwankenden Schrittes. Teilweise mit Hunden an der Kette.

Einer fragt den Blockältesten: „Wie viel Abfall?“

Blockältester: „Zehn Mann.“

„So wenig? Durchzählen!“

Blockältester: „Haben wir schon gemacht.“

SS-Mann: „Durchzählen, Mann. Bist du taub?“

Blockältester: „Jawohl, Untersturmführer. Durchzählen!“

Alle, die bewusstlos umgefallen sind und nicht antworten beim Appell, werden von den Kapos auf die Totenliste gesetzt und mit Stockschlägen umgebracht. Unterdes geht das Zählen weiter.

Plötzlich geht ein Raunen durch die Reihen.

SS-Mann-Unterscharführer: „Schnauze! Ihr Dreck!“

Über die lange, schnurgerade Chaussee vom SS-Block her kommen der Lagerführer, der SS-Chefarzt und der Lagerkommandant.

Einer tuschelt zu Franz: „Ich warn‘ dich, der ist verrückt. Vor dem musst du dich in Acht nehmen.“

Hinter dem Chef, dem Kommandanten, dessen ausgesucht gepflegte Erscheinung in seiner hochdekorierten SS-Uniform an die Unwirklichkeit eines Operetten-Offiziers inmitten des Schmutzes und des Drecks erinnert, gehen zwei SS-Männer mit Wolfshunden, deren Augen durch zu viel Fleischfütterung blutunterlaufen sind. Theatralisch hält er vor einem kleinen Podest, Fackelträger entzünden links und rechts von ihm bengalische Feuer. Er steigt auf das Podest. Auf ein Zeichen von ihm beginnt eine KZ-Trio-Besetzung Beethoven zu spielen und er redet ins Mikrofon:

„Sie haben das Recht auf Leben verwirkt. Aufgrund von Rasse, Nationalität, Religion oder Politik. Wir schulen Sie hier in unserer Gemeinschaft, ein besserer Mensch zu sein. Um einen deutschen Ausdruck zu gebrauchen, wir organisieren Euch neu. Die linke und die rechte Hand des Führers, die des Künstlers und die des Baumeisters, werden in uns ihre Werkzeuge finden. Ich gebe den Gefangenen bekannt: Eine Lagerordnung ist nirgendwo angeschlagen oder wird den Gefangenen auf andere Art und Weise bekannt gegeben, denn eine Lagerordnung existiert nicht. Nichts wird verboten, weil alles verboten ist. Etwas, das an einem Tag erlaubt ist, ist am nächsten Tag verboten und bedeutet Korrektur durch Ordnungskräfte der SS. Unsere Karteikarten geben nicht ihre Namen an, sondern nur die Zahl der Gefangenen. Wenn zum Beispiel der Lagerführer irrtümlich einen Todesfall vermerkt, was in Folge der außerordentlich hohen Todesraten häufig vorkommt (süffisantes Lachen), wird der Fehler einfach durch die Auslöschung des Trägers der betreffenden Nummer korrigiert und somit gutgemacht. Jeder Häftling trägt seine Nummer auf der linken Seite des Innenarms und auf dem rechten Schenkel. Auf der Jacke befindet sich die identische Nummer, direkt darunter ein Dreieck aus farbigem Stoff. Auf dem Dreieck die Nationalität des Häftlings, also F für Franzose, P für Polen, R für Russen usw. Arische Häftlinge tragen keinerlei Angaben der Nationalität. Die farbigen Dreiecke bedeuten rot – politische Gefangene, grün – kriminelle, schwarz – asoziale, rosa – meine ganz besonderen Freunde, (zum Arzt gewandt, der ihm mokant und hündisch zulächelt), violett – Bibelforscher, rot mit gelben Zacken – Juden, mit ihrem schmucken Davidstern besonders gut zu erkennen. N.N. – Nacht und Nebel, zum Tode Verurteilte.“

Auf sein Zeichen erstirbt die Musik.

„Jetzt wissen Sie, woran Sie sind, ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Kaunas. Suum cuique. Für die, die nicht Latein können: Jedem das Seine. Heil Hitler!“

Aus 16.000 Kehlen hallt ihm ein „Heil Hitler“ entgegen.

SS-Kommandant zu Lagerführer: „Hat mich etwas ermüdet, muss mich erst einmal ausruhen, ein wenig. Gibt es neue Judenweiber?“

Lagerarzt wühlt aus der Masse einige der schönsten und gesündesten nackten Mädchen aus und die SS-Leute bedeuten ihnen mitzugehen. Nun kommen SS-Unteroffiziere vor die Reihen der Blöcke von etwa 90 Mann und schreien ihre Befehle. Wie ein unendlicher Kanon setzt sich die Schreiorgie im Hall des Echos bis zum letzten Mann fort.

SS-Männer: „Frühstück fassen! In einer Reihe aufstellen zum Frühsport.“

Gruppenweise richten sich die Gefangenen eines Blocks in einer Reihe aus.

SS-Männer: „Auf alle viere!“

Die Gruppen gehorchen ächzend und stöhnend.

SS-Männer: „Zur Kaffeeverteilungsstelle auf allen vieren! Marsch!“

Und die Karawane der Unglücklichen kriecht die 150 m zur Verteilungsstelle. Dort angekommen befehlen die SS-Männer: „Auf! Auf! Auf! Und zurück im Laufschritt! Marsch! Marsch!“ Und die Unglücklichen müssen im Zuckeltrab an ihren Ausgangspunkt zurück. Dort angekommen befehlen SS-Männer: „Und nun hüpfen wir alle zur Kaffeeverteilstelle. Abmarsch! Los!“

Alle Kommandos sind selbstverständlich geschrien und von Schlägen begleitet. Als die Gefangenen endlich an der Verteilstelle angelangt sind, sieht Franz, was es als „Frühstück“ gibt: Schwarzes Wasser, das mit geschmolzenem Schnee gemacht wird, Brennnesselblätter, Runkelrüben, Suppe mit Kohlstrünken und Gemüseabfällen. Die Suppe ist schon so lange draußen, dass sie zu einem Eisblock gefroren ist. Sie wird mit Hackmessern portionsweise verteilt.

Franz zu einem Mithäftling: „Wie soll ich die denn essen?“

Kamerad: „Es ist verboten, ein Messer zu haben oder einen Löffel. Du musst sie halt so essen.“

Er bricht mit den Händen eine Portion ab: „Und sie im Mund auftauen lassen. Siehst du?“

Und er stopft sich den Brocken in den Mund.

Franz tut es ihm nach, schaut sich um, versucht auf den Latrinensitzen zu essen. Von den Häftlingen haben einige einen Teller, die anderen einen abgeschnittenen Gasmaskenfilter oder wieder andere ganz verrostete Konservendosenbüchsen. Alle essen aus unvorstellbaren Gefäßen in unvorstellbarer Geschwindigkeit. Franz wird gleich sehen warum. Plötzlich bricht in diese scheinbar harmonische Situation eine dumpfe Sirene, die asthmatisch atmet. Die Gefangenen erheben sich und werden in Gruppen zum Abort geprügelt. Die Latrinen bestehen aus zwölf am Eingang der jeweiligen Baracken aufgestellten Holzkisten, deren Fassungsvermögen für die Bedürfnisse von 900 Menschen absolut unzureichend ist. Der herausrinnende und überlaufende Inhalt dieser improvisierten Aborte läuft den Flur entlang bis zu den Brettern, auf denen die Gefangenen schlafen. Trotzdem wird jeder, der sich vor den überlaufenden Latrinen ekelt, in die Gegend urinieren will, mit Knüppelschlägen bestraft. Franz sieht unglaubliche Dinge: Frauen, die mit Fehlgeburten niederkommen, wickeln die Neugeborenen in alte Zeitungsreste und werfen sie neben den ihr Geschäft Verrichtenden in den Graben unter dem Abort. Man muss immer nacheinander in den Abort gehen. Ein Aufseher, ein Kapo, steht vor der Tür und beginnt, sobald ein Gefangener die Tür hinter sich geschlossen hat, zu zählen. Er zählt bis zehn, dann reißt er die Tür auf. Und wer nicht fertig ist, kriegt mit dem Knüppel eins auf den Kopf. Manch einer fällt erschlagen in die Grube, anstatt den Abort zu verlassen. Das Hinausgehen wird von einem Kapo, also einem mit grünem Winkel kenntlich gemachten Berufsverbrecher, beschleunigt, der auf einem Fass steht und mit einem langen Knüppel auf die Hinausgehenden einschlägt. Genauso plötzlich, wie sie begonnen hat, erlischt die Sirene. Der Abort ist sofort zu verlassen.